30. Kapitel
Die Erkenntnis, sich in einem Menschen getäuscht zu haben, kann eine ganz Welt erschüttern.
JOSEPHINE VON PLESOW
Seit Lotte so unverhofft in Josephines Leben getreten oder besser gesagt, gestolpert war, war für sie nichts mehr wie zuvor. Um auszuschließen, dass nicht doch irgendein Zimmermädchen oder womöglich einer von Constantins Leuten irgendwann noch einmal in ihr Zimmer kam, war sie mit Lotte durch den Gang geschlichen und hatte sie drei Räume weiter in ihrem Atelier untergebracht. Zu diesem Raum hatte niemand außer ihr Zutritt, dies hatte sich Josephine ausdrücklich verbeten, da sie nicht wollte, dass jemand auch nur in die Nähe ihrer Arbeit kam. Constantin hatte es hingenommen, und Josephine hatte die Anweisung direkt an Marie weitergegeben, die ihrerseits die Zimmermädchen entsprechend instruiert hatte.
Außerdem hatte Josephine darum gebeten, ein einfaches Bettgestell mit Matratze und Bettzeug in ihrem Atelier aufstellen zu lassen, damit sie sich ausruhen konnte, wenn sie vom vielen Malen zu erschöpft war und eine kurze Pause brauchte. Marie hatte sich unverzüglich Josephines Wünschen angenommen und zwei Männer mit den Möbelstücken nach oben geschickt, gefolgt von einem Dienstmädchen, das das Bettzeug gebracht hatte.
Lotte hatte sich derweil im Bad verborgen gehalten
.
Sie hatte mit der jungen Frau besprochen, dass sie die meiste Zeit bei ihr im Atelier verbringen würde und nur zum Schlafen in ihr eigenes Zimmer ginge, um sofort reagieren zu können, sollte doch einmal jemand unverhofft an die Ateliertür klopfen. In diesem Fall sollte Lotte sich unverzüglich im Bad verstecken und erst wieder herauskommen, wenn Josephine ihr Bescheid gab.
Auf gewisse Weise war es wie ein Spiel für Josephine, Lotte zu helfen und damit ihren großen Bruder auszutricksen, dennoch war sie sich des Ernsts der Lage durchaus bewusst. Denn eines hatte sie inzwischen begriffen: Den Constantin, den sie gekannt hatte, ihren Bruder, den sie mit liebevoller Bewunderung angehimmelt hatte, gab es nicht mehr. Er war irgendwo auf dem Weg von Binz nach Berlin verloren gegangen und sah nur noch so aus wie ihr Tino; sein Wesen jedoch war das eines Fremden. Josephine hatte ein bisschen herumgeschnüffelt und sich auch mit den anderen vermeintlichen Tänzerinnen unterhalten. Zwar hatten sich diese ausgesprochen zurückhaltend gezeigt, denn es lag ihnen fern, sich ausgerechnet der Schwester ihres Chefs anzuvertrauen, doch Josephine hatte heraushören können, wie viel Angst die Frauen vor Constantin und seinen Männern hatten. Der Name »Lotte« war mehrfach gefallen, offenbar wurde die junge Frau mit Hochdruck von Constantins Leuten gesucht. Des Weiteren hatte sie ein Gespräch zwischen Constantin und Gerd Nolte belauscht, in dem Letzterer immer wieder gesagt hatte, er könne sich einfach nicht erklären, wie Lotte unbemerkt aus dem Hotel herausgekommen sein sollte. Für Josephine war es eine Genugtuung, ihren Bruder ebenso an der Nase herumzuführen, wie er es mit ihr machte, indem er ihr vorspielte, er sei immer noch der nette große Bruder, der sich um sie kümmerte und ansonsten keiner Fliege etwas zuleide tat. So gern sie auch an ihrer Erinnerung festhalten wollte, sosehr sie sich ihren Tino zurückwünschte, der immer
zu ihr gehalten und sie beschützt hatte, wenn die anderen Kinder bei ihren Spielen in Binz am Strand zu grob wurden oder sie gar ausgrenzen wollten, weil sie das »Fräulein von« war, so führte ihr Lotte doch mit aller Deutlichkeit das wahre Naturell ihres Bruders vor Augen.
Gemeinsam mit der jungen Frau hatte sie einen Plan gefasst, wie es gelingen sollte, diese aus dem Hotel herauszuschaffen und zum Bahnhof zu bringen, damit sie auf schnellstem Wege aus Berlin fliehen und in ihren Heimatort bei Münster zurückkehren konnte. Josephine hatte Constantin in letzter Zeit immer mal wieder um Geld gebeten, angeblich um neue Kleidung, Schmuck oder auch ein teures Parfum zu kaufen, und Constantin hatte sich überaus großzügig gezeigt. Dieses Geld sollte nun Lotte zugutekommen.
Morgen sollte es so weit sein. Josephine würde Lotte in eigens dafür angeschafften Kleidungsstücken unbemerkt aus dem Hotel schmuggeln. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Plan gelang und die Helfer, die sie dafür brauchte, wirklich zuverlässig waren.
Sie hatte Kontakt zu Matthis aufgenommen und ihm vorgegaukelt, eine kleine Vernissage in ihrem Atelier veranstalten zu wollen. Er solle unbedingt Luise und ein paar von den anderen mitbringen, es gäbe auch Essen aus dem Hotel und reichlich Alkohol.
Zu diesem Anlass hatte sie in den letzten Tagen mehrere Bilder gemalt, nur damit sie etwas vorzuweisen hatte. Josephine war egal, was die anderen davon hielten. Auch, ob Ferdinand mitkam oder nicht. Inzwischen hatte sie begriffen, dass auch er in einer Rolle gefangen war, ganz ähnlich wie sie, nur dass er offenbar die soziale Barriere nach oben zu durchdringen versuchte, während sie versuchte, sich vom üblen Geruch des Mammons zu befreien. Sie hatte sich ihm freiwillig hingegeben, und er hatte sie anschließend
sitzen gelassen – na und? Was war das schon im Vergleich zu dem, was Lotte hatte erleiden müssen? Sie hatte man gezwungen, sich den Männern hinzugeben, hatte sie gehalten wie eine Leibeigene, und im Augenblick ging es nur darum, diesen Zustand für immer zu beenden. Wenn ihr Plan aufging, würden sie nachher alle zusammen das Hotel verlassen, in der großen Runde, so hoffte Josephine, würde Lotte keinem auffallen.
Josephine wusste noch nicht, was sie tun sollte, sobald die junge Frau in Sicherheit war, doch sie spürte, dass sich ihre Zeit in Berlin dem Ende zuneigte. Ob sie schon bereit war, nach Binz zurückzukehren, wusste sie nicht, aber sollte es ihr tatsächlich gelingen, Lotte zu retten, war sie fest entschlossen, einen Weg für sich und ihre Malerei zu finden, denn Berlin hatte sie gelehrt, »die Welt zu sehen, wie sie war, und nicht, wie sie sie haben wollte«. Sie war über die Maßen enttäuscht von Constantin und dem Leben hier, hatte die schmutzige Seite dieser berauschenden Stadt sehen und erleben müssen, die Not, die Armut, die Gewalt und die Angst. Und das schlug sich in ihren Bildern nieder. Sie hatte es geahnt, als sie von Ferdinand in die Kreise der Künstler aufgenommen worden war, und sie hatte es in dem Moment gewusst, als die gepeinigte Lotte ihr von ihrem Leben als Hure erzählt hatte – auch wenn sie es am liebsten nicht wahrgehabt hätte.
Hier in Berlin gab es nichts mehr, was sie hielt. Auch Marie war für sie zu einer großen Enttäuschung geworden, denn für Marie zählte doch nur noch ihr Beruf als Hausdame. Constantin hatte Josephine erzählt, wie glücklich Frau Stieglitz gewesen sei, ihre Aufgaben an eine jüngere Frau übertragen zu können und nur noch an Maries freien Tagen für einen reibungslosen Ablauf des Hotelbetriebs sorgen zu müssen. Marie sei ein wahrer Glücksgriff gewesen, so gelehrig und fleißig stelle sie sich an. Die Hotelgäste mochten sie, und sie leite das Personal mit
freundlicher, aber konsequenter Hand und sei eine große Entlastung für ihn und das Astor. Ja, die Arbeit im Grand und vor allem die Lektionen ihrer großen »Lehrmeisterin« Bernadette von Plesow machten sich bezahlt.
Josephine hatte nur mit den Schultern gezuckt und sich abgewandt. Constantin hatte sie geneckt und gefragt, ob sie womöglich eifersüchtig auf die Freundin und ihren rasanten Aufstieg sei, doch Josephine war keineswegs eifersüchtig gewesen. Sie hatte vielmehr daran gedacht, wie sie zufällig Zeugin einer Szene auf der Personaletage geworden war. Sie war auf dem Weg zu Marie gewesen, um sie zu fragen, ob sie Lust habe, mit ihr an ihrem freien Tag ein Museum zu besuchen. Als sie um die Ecke gebogen war, hatte sie gehört, wie ihre einst so schüchterne, stets freundliche und geduldige Freundin zwei Zimmermädchen ausschalt, weil sie die Zimmer der Gäste nicht in der dafür vorgesehenen Zeit gereinigt und sich stattdessen vor der Küche herumgetrieben hatten, wo ihnen der Koch verschiedene Leckereien von den zurückgegangenen Tellern der Gäste zugesteckt hatte.
»Bitte verzeihen Sie, Frau Reidel, die Gerda hatte seit gestern Mittag nichts mehr gegessen, und ich hab sie begleitet, weil ihr so schwindelig war«, verteidigte sich eine der beiden nervös und warf ihrer Kollegin, an deren Hals große hektische Flecken blühten, einen verzweifelten Blick zu.
»Das ist keine Entschuldigung dafür, die Arbeit nicht zeitig zu erledigen«, entgegnete Marie mit kühler Stimme. »Die Gäste haben sich beschwert, und so etwas kommt hier, im Astor, nicht vor. Ich habe euch schon einmal ermahnt, ein drittes Mal wird es nicht geben. Lasst euch bei Herrn Nolte euren Lohn auszahlen.«
»Aber …«, stammelte die mit den roten Flecken.
»Kein Aber«, beschied Marie ungeduldig und ließ die beiden stehen, um etwas aus ihrer Kammer zu holen
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Josephine hatte sich abgewandt und war mit einem beklommenen Gefühl im Magen in ihr Atelier zurückgekehrt. Das, was ihren Bruder an Marie begeisterte, ließ sie zurückschrecken. Lag es an Berlin, dass die Menschen sich auf diese Art und Weise veränderten? Wo war die liebe, gute Marie geblieben, die keinem etwas Schlechtes wollte, keine Kollegin je verpetzt oder, so wie jetzt, sogar um ihre Arbeitsstelle gebracht hätte? Nein, Josephine erkannte weder Constantin noch Marie wieder, doch sie hatte das Gefühl, dass die beiden gut zusammenpassten. Für sie selbst jedoch, dessen war Josephine sich sicher, war kein Platz mehr in Berlin und in diesem kranken Geflecht aus Macht, Rücksichtslosigkeit und Gier.
Der Tag von Lottes Flucht war gekommen, und Josephine hatte Lotte mit den Kleidern, die sie von Constantins Geld für Lotte gekauft und mit Stücken aus ihrem eigenen Kleiderschrank ergänzt hatte, zu einer wahren Bohemienne ausstaffiert. Ein starkes, verruchtes Make-up und die bis knapp unter die Ohrläppchen gestutzten Haare taten ihr Übriges – Lotte war nicht wiederzuerkennen.
Luise und Matthis trafen als Erste ein. Nach und nach trudelten weitere Mitglieder aus der Gruppe um Hartmut ein, Hartmut selbst kam allerdings nicht. Zu ihrer Überraschung kam jedoch Ferdinand, den sie zwar begrüßte, aber nicht weiter beachtete. Auch wenn sich ihr Herz bei seinem Anblick kurz schmerzhaft zusammenzog, so war das Wiedersehen doch längst nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Er hatte sich für seinen Weg entschieden, hatte sie vermutlich nur als exotische Trophäe aus der achso verhassten Welt des Reichtums und des Überflusses betrachtet, aber das zählte jetzt nicht mehr.
Zwei Dienstmädchen brachten Häppchen auf Silberplatten, die
sie auf eigens dafür herbeigeschafften Tischen abstellten, dann machten sie sich daran, jede Menge Alkoholika ins Atelier zu schaffen, bis Josephine ihnen mitteilte, dass sie von nun an selbst übernehmen würde, um ungestört mit ihren Gästen zu sein. Als die Dienstmädchen hinausgegangen waren, holte sie Lotte aus dem Bad und stellte sie ihren Gästen als Inge vor – wie das Kindermädchen der Zwillinge ihres Bruders Alexander. Lotte betrachtete zusammen mit den anderen Josephines Bilder, aß und trank etwas und fügte sich hervorragend in den Kreis der Künstler ein.
Plötzlich klopfte es. Lotte warf Josephine einen ängstlichen Blick zu. Josephine schluckte. Was, wenn Constantin zu der Vernissage stoßen wollte, um Interesse an seiner kleinen Schwester und deren Arbeit zu heucheln? Zaghaft öffnete sie die Tür und atmete erleichtert aus, als Marie davorstand.
»Ich wollte nur fragen, ob das Hotel noch etwas für dich tun kann, Josephine?«
»Danke, aber nein, das ist wirklich nicht nötig. Es ist alles ganz wunderbar. Möchtest du für eine Weile zu uns stoßen?« Josephine überlegte kurz, ob die spontane Einladung klug war, doch alles andere wäre zu auffällig gewesen, und außerdem kannte Marie Lotte gar nicht. Und Constantin oder einer seiner Leute würden ihr die Geschichte von der entlaufenen Hure bestimmt nicht auf die Nase binden.
»Nein, aber danke«, lehnte Marie ab. »Constantin musste zu einem dringenden Termin, sonst hätte er selbst noch vorbeigeschaut.«
»Das macht nichts, meine kleine Vernissage ist ohnehin gut besucht«, erwiderte Josephine leichthin, um sich nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert sie über diese Nachricht war. Sie hätte nicht gewusst, wo sie Lotte so rasch verstecken sollte, wenn ihr Bruder tatsächlich vor der Tür gestanden hätte
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»Gut. Dann gehe ich wieder. Gib mir einfach Bescheid, wenn du noch etwas brauchst.«
»Das mache ich gern. Danke, Marie.« Josephine schloss die Tür und kehrte zu ihren Bekannten zurück.
Auf einmal trat Ferdinand an ihre Seite. »Können wir später vielleicht in Ruhe sprechen?«, bat er.
»Ich wüsste nicht, worüber.«
Ferdinand deutete auf die Bilder. »Ich habe dir unrecht getan, das weiß ich jetzt. Du warst mitten in einer Schaffensperiode, und ich habe das nicht erkannt. Deine Arbeit ist außergewöhnlich.«
Josephine sah ihn an, wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment trat Matthis zu ihnen. »Josephine.« Er deutete eine Verbeugung an und tat, als zöge er einen imaginären Hut. »Ich ziehe den Hut vor dir. Deine Arbeiten sind wirklich fantastisch.«
»Ach ja?« Josephine war aufrichtig überrascht. »Findest du?«
»Aber sicher. Die dort drüben«, er deutete auf die bunten Gemälde, die Josephine vor einiger Zeit angefertigt hatte und die Constantin gefallen hatten, Ferdinand jedoch nicht, »sind älter, nicht wahr? Deine Entwicklung ist deutlich zu erkennen. Wirklich sehr interessant. Hast du vor, sie in einer Galerie auszustellen?«
Josephine war nicht sicher, ob Ferdinand und Matthis sich womöglich abgesprochen hatten oder vielleicht einfach nur freundlich sein wollten. Sie sah zwischen den beiden hin und her, versuchte auszumachen, ob diese sich einen Scherz mit ihr erlaubten, doch an ihren Mienen war dies nicht zu erkennen.
»Nein«, sagte sie dann. »Ich werde mich nicht um eine Ausstellung in einer Galerie bemühen.«
»Weshalb nicht? Angst davor, berühmt zu werden?«, zog Matthis sie auf.
»Es geht mir beim Malen nicht darum, berühmt zu werden. Es geht mir darum, einen Weg zu finden, mich selbst auszudrücken.
«
»Du solltest stolz auf dich sein«, befand Ferdinand und warf ihr einen Blick zu, den sie nicht zu deuten wusste.
»Danke, das ist wirklich sehr nett von euch beiden.« Josephine prostete ihnen zu, schlenderte zu den anderen und unterhielt sich, wobei sie immer wieder versuchte, Lotte mit einzubinden, die sich zwar völlig fehl am Platze fühlte, sich aber redlich bemühte, so zu tun, als wäre sie ebenfalls an der Kunst interessiert.
Sie blieben etwa zwei Stunden, dann machte Josephine den Vorschlag, das Hotel zu verlassen und gemeinsam durch die Kneipen zu ziehen. Alle waren sofort einverstanden. In drei Grüppchen quetschten sie sich in den Fahrstuhl, der sie nacheinander in die Halle hinunterbrachte. Josephine und Lotte waren bei der dritten Fuhre dabei und mischten sich, unten angekommen, unter die Menge der wartenden Vernissage-Besucher. Zusammen verließen sie das Hotel, während sich Josephine immer wieder verstohlen umblickte, um sich zu vergewissern, dass keiner von Constantins Leuten ihnen folgte. »Oh, seht mal dort!«, rief Matthis vor dem Hotel und deutete auf ein Plakat, das den Auftritt einer Künstlerin namens Claire Waldoff ankündigte, die zusammen mit ihrer Lebensgefährtin im Varieté Astor auftrat. Ein Skandal, hätte man meinen können, doch Constantin liebte die Provokation und zeigte sich gegenüber allem, was verrucht und außergewöhnlich war, sehr aufgeschlossen. »Gehen wir doch ins Varieté!«
»O nein, darauf habe ich jetzt keine Lust. Nun kommt schon, ich muss mal raus aus meinem Zuhause!«, drängte Josephine und bemühte sich um ein ausgelassenes Lachen.
»Wusstest du, dass die Waldoff und ihre Lesbenfreundin ein Café betreiben, wo sie sich mit anderen Lesben zum Austausch treffen?«, erkundigte sich Ferdinand, aber Josephine beachtete ihn nicht weiter. Ihr Blick war auf Gerd Nolte gefallen, der soeben die Straße überquerte und auf das Hotel zustrebte
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»Meine Freundin Inge hat auch eine Weile mit einer Frau zusammengelebt«, log sie und schob Lotte in Ferdinands und Matthis’ Richtung. »Erzähl den beiden doch mal, wie so etwas ist, Inge«, forderte sie die junge Frau auf, dann löste sie sich von der Gruppe, die sich langsam vom Hotel entfernte, und tänzelte auf Nolte zu.
»Da ist ja mein großer Beschützer!«, rief sie lachend, fasste ihn bei den Armen und drehte sich mehrfach mit ihm im Kreis. »Ich bin ja so glücklich. Meine Bilder wurden in den höchsten Tönen gelobt.« Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Lotte ganz vorn in der Gruppe verschwand, die sich hinter ihr schloss, so dass sie nun nicht mehr zu sehen war. »Ich muss los, Herr Nolte«, trällerte sie dann, »wir wollen noch feiern, feiern, und wo könnte man das besser als in dieser wundervollen Stadt!« Sie löste sich abrupt von Constantins rechter Hand und rannte den anderen nach, wobei sie ihm eine Kusshand zuwarf.
Nolte schüttelte den Kopf. Die kleine Schwester seines Arbeitgebers hatte eben ihre Eigenarten, aber die gingen ihn ja nichts an. Immer noch kopfschüttelnd betrat er die Hotelhalle.
Sie bogen um mehrere Hausecken, dann blieb Josephine stehen. »Entschuldigt, aber ich habe es mir anders überlegt. Ich habe plötzlich schreckliches Kopfweh, wahrscheinlich hab ich ein bisschen zu viel getrunken.« Sie wandte sich Lotte zu. »Inge, begleitest du mich zurück ins Hotel?«
»Ja«, kam die knappe Antwort.
»Was? Du willst weg?« Ferdinand sah sie verwundert an.
»Ja, es tut mir leid. Es geht mir wirklich nicht gut. Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid. Ich hoffe, es hat euch gefallen bei mir. Und feiert noch schön!«
Noch bevor die anderen reagieren konnten, fasste sie Lottes Hand und zog sie mit sich
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»Warte!«, rief Ferdinand, lief ihnen ein paar Schritte hinterher und stellte sich den beiden in den Weg. »Wann sehen wir uns wieder? Wir wollten doch noch miteinander sprechen.«
»Ich weiß nicht«, wehrte Josephine ab. »Eigentlich wolltest du mit mir sprechen, nicht ich mit dir.« Sie blickte ihn an. »Aber keine Sorge, ich melde mich bei dir.«
»Das klingt eher so, als würdest du es nicht tun«, erwiderte Ferdinand.
»Lass dich überraschen!«, rief Josephine leichthin und eilte zusammen mit Lotte an dem verdutzt dreinblickenden Ferdinand vorbei.
So schnell sie konnten, liefen die beiden Frauen in Richtung Lehrter Bahnhof, ohne Gepäck und ohne Papiere, denn diese befanden sich noch immer bei Constantin, der den Mädchen stets gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit den Pass abnahm.
Lotte würde einige Schwierigkeiten haben, sich den Ausweis neu ausstellen zu lassen, doch sie würde einfach behaupten, sie sei auf der Reise überfallen und bestohlen worden. Wer sollte ihr schon das Gegenteil beweisen?
Als sie den Bahnhofsvorplatz erreichten, fragten sie einen dort stehenden Schaffner, wann der nächste Zug in Richtung Münster fuhr. Der Mann gab ihnen Auskunft. Wenn sie sich beeilten, könnten sie in knapp fünf Minuten eine Bahn nach Braunschweig nehmen. Dort müssten sie umsteigen in Richtung Bielefeld mit Anschluss nach Münster. Lotte war erleichtert. Die Furcht, doch noch von Constantins Leuten entdeckt zu werden, war groß. Er hatte überall seine Spitzel, und sie konnte nur hoffen, dass – sollte sie in diesem Aufzug tatsächlich erkannt werden – seine Leute zu spät kamen und sie bereits im Zug Richtung Heimat saß.
Josephine und Lotte rannten zum Bahnsteig, auf dem gerade der Zug einfuhr. Josephine zog das Geld hervor, das sie Constantin
nach und nach abgeluchst hatte, und drückte es Lotte in die Hand. »Das wird für eine Weile reichen«, sagte sie.
»Das werde ich nie wiedergutmachen können.« Die beiden Frauen umarmten sich. »Danke.«
»Mach schon. Steig jetzt ein«, drängte Josephine mit Tränen in den Augen, sobald der Zug zum Halten gekommen war und der Schaffner die Türen öffnete. Ihr war, als verabschiedete sie sich von der einzigen Freundin, die sie in all der Zeit in Berlin gefunden hatte. Der Frau, die von Constantin von Plesow zur Prostitution gezwungen und von einem Freier fast zu Tode vergewaltigt worden war.
Noch einmal umarmten die Frauen sich fest, dann stieg Lotte in den Zug. Kurz darauf wurde in einem der Abteile ein Fenster heruntergelassen, und Lotte streckte den Kopf heraus. Josephine lief zu ihr, sie fassten sich noch einmal an den Händen.
»Leb wohl, Lotte!«, sagte Josephine mit zitternder Stimme. »Und such dir eine gute Arbeit.«
»Das werde ich! Ich werde dich niemals vergessen, Josie, niemals!«
Ein Pfiff ertönte, und der Zug rollte an. Sie ließen einander los, und Josephine winkte, bis die Bahn in der Ferne verschwunden war. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie fühlte sich einsamer als je zuvor. Mit hängenden Schultern machte sie kehrt und ging in Richtung Treppe, um ins Hotel zurückzukehren. Ein nahezu überwältigendes Gefühl der Erschöpfung machte sich in ihr breit. Der davonrollende Zug hatte in ihr den übermächtigen Drang ausgelöst, Berlin genau wie Lotte den Rücken zu kehren. Auch sie sehnte sich nach ihrer Heimat, das wurde ihr nun klar, auch sie vermisste die Ruhe, die Beschaulichkeit, die die Freundin in Billerbeck und sie selbst in Binz zurückgelassen hatte. Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte, und sie würde keine
Sekunde länger damit warten. So schnell sie konnte, kehrte sie ins Hotel Astor zurück und packte ihre Sachen, um noch in derselben Nacht Berlin zu verlassen.
Als Constantin am nächsten Morgen nach ihr sehen wollte, weil sie nicht zum Frühstück erschienen war, waren all ihre Sachen fort, und sie saß längst im Zug nach Binz.