Das Problem des Nihilismus in der deutschen Literatur der Gegenwart
[Vortrag]

 

 

Welches geschichtliche Ereignis, welches geistig-kulturelle Phänomen »nihilistisch« genannt werden muß, dafür gibt es keine festen und überzeitlichen Maßstäbe. So war das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 eines der großen nihilistischen Ereignisse der Geschichte der Neuzeit. Weshalb? Es machte die gewaltigen Anstrengungen des 18. Jahrhunderts, Gottes Schöpfung und Weltregiment nach den Maßstäben der Vernunft zu rechtfertigen und sein Werk als die beste aller möglichen Welten zu erweisen, zunichte. 1710 war die Theodizee von Leibniz erschienen, das Standardwerk dieses Unternehmens. Vier Jahre nach dem Lissabonner Erdbeben, 1759, konnte Voltaire mit seinem Candide den Zusammenbruch des Theodizee-Programms verspotten.[1]

Was ist das eigentlich Nihilistische an diesem Vorgang? Nicht nur eine bestimmte theologische Theorie oder philosophische Idee war erschüttert worden, sondern es hatte sich herausgestellt, daß das jenes ganze Zeitalter beherrschende Kriterium der Wirklichkeit, daß sie nämlich vernunftmäßig erhellt und aufgeklärt müsse werden können, sich auf Gottes Willen nicht anwenden lasse. Der Aufweis, daß Gott vor der Vernunft voll und ganz bestehen könne, den die Theodizee versucht hatte, war mißlungen. Darin lag aber zugleich: die Realität Gottes als solche paßte sich der gesamten Wirklichkeitsstruktur nicht mehr ein, sie verflüchtigte sich in den obskuren Randbereich des nicht mehr zu Rechtfertigenden. Ein Jahrhundert später konnte Nietzsche verkündigen »Gott ist tot«.44

Hierin zeichnet sich der nihilistische Grundvorgang ab: jedes geschichtliche Zeitalter sieht die Wirklichkeit unter einem bestimmten Anspruch. Dieser Anspruch ist das Selbstverständliche und Fraglose, der Boden, auf dem alle Überzeugungen, Theorien, Normen, Werte aufruhen. Als dies Selbstverständliche und Fraglose findet es sich nirgendwo ausdrücklich formuliert. Es ist geschichtliche Urthesis und als solche immer erst vom schon erfolgten Umbruch her herauszupräparieren. Wenn nun im Zentrum des geschichtlichen Bewußtseins Ereignisse, Erfahrungen, Probleme auftreten, die den herrschenden Anspruch an die Wirklichkeit seiner Selbstverständlichkeit und Fraglosigkeit entheben, dann ist eine der großen, tiefliegenden Krisen der menschlichen Geschichte im Anzug. Der bis dahin fraglose Anspruch an alles, was als Wirkliches und Bindendes wollte anerkannt sein, bricht sich an neuen Erfahrungen, die sich nicht mehr ohne weiteres bewältigen lassen.

Der Wirklichkeitsbegriff, unter dessen Herrschaft die großen geistigen und technischen Eroberungen der Neuzeit gemacht wurden, läßt sich als ein solcher Anspruch von ganz einzigartiger Kraft der homogenen Umfassung des Wirklichen verstehen. Man könnte die Einheit dieses Anspruches der Neuzeit an die Wirklichkeit unter dem Titel »Objektivität« befassen. Was je wirklich ist und sein kann, muß zum Objekt der menschlichen vernünftigen Erkenntnis werden können, muß gewissen Prinzipien wissenschaftlicher Methoden unterworfen und zugänglich sein und muß sich darin objektiv, d. ‌h. in einer für alle, öffentlich zugänglichen, ständig wiederholbaren und demonstrierbaren Weise bewähren. Das Kriterium der Wirklichkeit ist das Experiment: was bei bestimmten, bekannten, vom Menschen gesetzten Bedingungen die nach bestimmten Gesetzen vorhersehbaren Phänomene ergibt, ist »wirklich«. Die einzigartige Entfaltung von Wissenschaften und Technik in der Neuzeit ist die Vollstreckung dieses fundamentalen Anspruches auf Objektivierung, auf theoretische und praktische Verfügbarmachung der Wirklichkeit. Die zeitliche Vollstreckung dieses Anspruches muß folgerichtig die geschichtliche Verlaufsform des Fortschrittes haben.

Von Descartes bis Hegel ist diese Grundkonzeption die beherrschende, philosophisch im Idealismus zu letzten Konsequenzen vorgetriebene und im Wissenschaftsbetrieb des 19. Jahrhunderts triumphal praktizier45te.[2] Wie konnte es dennoch in diesem Jahrhundert nicht nur zum Zusammenbruch des Idealismus, sondern auch zu Nietzsches Proklamation des Nihilismus kommen? Nach dem soeben entworfenen Schema des nihilistischen Grundvorganges doch nur so, daß der die ganze Neuzeit beherrschende Anspruch an die Wirklichkeit an unerwarteten, nicht zu bewältigenden Erfahrungen sich brach und zusammenbrach. Das als fragloseste Realität Stehende verflüchtigte, nichtete, derealisierte sich im Umbruch der Horizonte. Die Werte und Normen, immer nur so weit »verbindlich«, als sie mit einer fraglosen Wirklichkeit handelnd und gestaltend »verbunden« werden können, verloren ihren Ernst. In der ontologischen Ordnung ist der Verfall der Werte und Normen erst ein zweiter Schritt, Symptom eines tieferen Zerfalls; aber für das geschichtliche Leben wird zuerst an diesem Symptom, an der Lockerung der ethischen Bindungen, die Krise fühlbar – und hier hat denn auch Nietzsche seine Vision des heraufkommenden Nihilismus vor allem gewonnen.

Für das Verständnis dieser ungeheuren geschichtlichen Krise, in der wir noch mitten darin stehen, muß nun alles darauf ankommen, jene Erfahrungen, an denen sich das überkommene Wirklichkeitsbewußtsein gebrochen hatte, herauszuheben. Die positive Auseinandersetzung mit dem Nihilismus kann nicht darin bestehen, seine Macht und seine Durchdringung unserer gegenwärtigen Welt zu leugnen oder zu ignorieren, sondern ein Verstehen von Wirklichkeit vorzubereiten, das die ruinanten Erfahrungen des letzten halben Jahrhunderts aufzufangen und im Horizont einer Welt zu befassen vermag. Für diese Aufgabe bietet nun die moderne Kunst und Dichtung die adäquatesten Ansätze; sie ist der philosophischen Analyse fast überall weit vorausgeeilt und hat Phänomene und Probleme sichtbar gemacht, an die sich das Denken nur allmählich heranzutasten vermag.

Man kann nicht gerade sagen, daß die deutsche Dichtung der Gegenwart hier eine protagonistische Stellung einnimmt. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, daß die handgreiflichen Konsequenzen der nihilistischen Wirklichkeitsruinanz doch in unserem Land einen ihrer Brennpunkte hatten und haben. Aber gerade dies mag der künstlerischen Vision, die 46doch zugleich elementar und gestaltend sein muß, unbekömmlich sein. Jedenfalls haben wir bei uns nichts vom Range der nihilistischen »Verwünschungen des Universums« in Paul Valérys »Mon Faust«, Eliots »The waste land« oder Faulkners »Wendemarke« hervorgebracht. Unsere Literatur ist in dieser Hinsicht eine »Literatur des Brennpunktes«, d. ‌h., ihre Kennzeichen sind die der Flucht oder des Sinn und Gestalt beraubenden Schmerzes. Im Gegensatz dazu ist den großen Amerikanern trotz ihrer archimedischen Position gegenüber den Stürmen des Zeitgeistes oder vielleicht gerade wegen dieses Standortes die Gestaltung der furchtbaren Phänomene des nihilistischen Kataklysmas in einer unvergleichlichen Weise gelungen. Dazu kommt ein Weiteres, was man als Philosoph nur ungern ausspricht: die deutsche Literatur der Gegenwart ist in ihrer Gestaltung der Zeitphänomene philosophisch außerordentlich vorbelastet. Sie bringt es nicht zu der unreflektierten Unbefangenheit, die sich ganz dem Bezug zur Wirklichkeit öffnet. Die amerikanische Philosophie, die noch fast ausschließlich die Tendenzen des 19. Jahrhunderts verfolgt und einem wissenschaftstheoretischen Optimismus zugewandt ist, bedeutet in dieser Hinsicht keine Vorbelastung, keine Gefährdung der Unmittelbarkeit der künstlerischen Wahrnehmung. Dagegen findet man in fast allen deutschen Äußerungen von einiger Bedeutung zum Problem des Nihilismus die Spuren, Gerüste und Begriffe der zeitgenössischen philosophischen Reflexion. Das mag die Einordnung erleichtern, vermindert aber den Rang unmittelbarer Erfahrung und Aussage.

Unter den deutschen Schriftstellern dieses Jahrhunderts ist es nur einem gelungen, ein Werk zu schaffen, das mit einer Zeitzündung von fast zwei Jahrzehnten über die ganze Welt hin als gültige Gestaltung unserer Situation, der nihilistischen Situation, angesehen worden ist. Dieser Dichter ist kein Mensch im Brennpunkt; seine Werke entspringen einem an Büro und Stube gebundenen Dasein, dem Milieu der Versicherungsbranche, der gesättigten Welt vor dem ersten großen Krieg. Die drei Romane Franz Kafkas »Der Prozeß«, »Das Schloß« und »Amerika« lassen sich verstehen als dichterische Anagramme der unabdingbar gewordenen Erfahrung des Inobjektiven, und zwar desselben in einer Mächtigkeit, die die Bedeutung aller objektiven Maße und Kriterien verdrängt, zunichte macht. Die in Maß und Zahl, in Experiment und 47Forschung verfügbare, übersichtlich gewordene Welt, der feste Boden eines öffentlichen Daseins, die Sphäre der Gesetze und Wahrscheinlichkeiten derealisiert sich.

Das Wirklichste, nämlich das, wovon unser Schicksal im tiefsten bestimmt wird, ist gleichzeitig am wenigsten objektivierbar. Das Sein ist von Transzendenzabgründen zerrissen, nicht nur in den fernsten metaphysischen Bereichen, sondern schon im Nächsten und Alltäglichsten, im Abgeschnittensein des Verstehens von Mensch zu Mensch (»Das Ehepaar«). So ist im Sinne des herkömmlichen Anspruches der Objektivität eine Dimension der Erfahrung erschlossen, die nicht obj. »ist« und nicht sein »kann«, eine nihilistische Dimension, die mit den noch wirksamen Kategorien des neuzeitlichen Seinsverständnisses nicht anerkannt werden kann, in ihrer Unabweisbarkeit aber ihrerseits diese Kategorien aus den Angeln hebt, nihilisiert. Das Sein ist nicht mehr von dieser festen Verlässigkeit, auf die sich der Mensch für die Errichtung einer ganzen künstlichen Welt berufen hatte, der Boden der Objektivität, der Technik und Wirtschaft, Planen und Handeln der Neuzeit trägt. (Eine alltägliche Verwirrung.) Vielmehr wird der Mensch seinerseits berufen, in den Strudel eines für ihn unfaßlichen Prozesses hineingerissen; er geht weiter durch seine alltägliche, öffentliche Welt, und ist doch schon verhaftet, vor Gericht gestellt, verurteilt. Er glaubt, eine Sache noch in der Hand zu haben, die ihm längst entrissen ist – sein eigenes Schicksal. Was zunächst als eine suspekte Hinterwelt erschien, die dämmrige Unwirklichkeit des Gerichtes im »Prozeß«, das erweist sich mehr und mehr als die alles andere verzehrende und vernichtende Übermacht einer Transzendenz, vor der »unsere« Welt zu Nichts zerfällt.

Für Kafka ist der großangelegte Versuch der modernen Wissenschaft, den Menschen und sein Schicksal zu begreifen, gescheitert. Programmatisch schreibt er in sein Tagebuch »Zum letzten Mal Psychologie!« Der Zerfall des objektiven Menschen, des Menschen, der von einer Psychologie erfaßt werden konnte, ist der nihilistische Grundvorgang bei Kafka. Der ganze innere Motiv- und äußere Milieuzusammenhang, der das Menschenverständnis des bürgerlichen Romans trägt und in dessen raffinierter Protokollierung dieser seine Kulmination erfuhr, ist für Kafka bedeutungslos. Der Mensch ist so ausgeliefert, daß er nicht einmal die 48Identität seiner selbst beanspruchen kann; er kann, wie Gregor Samsa, eines Morgens sich als riesigen Käfer erwachend vorfinden (»Die Verwandlung«). Der Mensch ruht nicht in der Substanz seines Wesens (Faktizität als existentialanalytischer Index der annihilatio des objektiven Seins). Der Mensch erscheint durchschnittlich, anonym; aber das ist nur seine Vorderseite. In einem tieferen Aspekt ist er einzig, ganz und gar allein, der Ungleichste unter Ungleichen, die absolute Individualität. Freiheit gegen den Ruf der Transzendenz ist nur eine intellektuelle Imagination; es gibt nur eine Freiheit, die Josef K. im »Prozeß« im allerletzten Augenblick erkennt: mit dem Urteil des Gerichtes eins zu werden, das Messer der Henker selber zu erfassen und in sich hineinzubohren.

Was das Raffinement des bürgerlichen Romans sich schließlich selbst ad absurdum führen ließ, das war die Unendlichkeit der menschlichen Motivation, wie sie sich mit einer die literarische Gattung tödlich sprengenden Ironie im »Ulysses« von James Joyce enthüllt fand. Kafka wendet die Unendlichkeit der Motivation und ihre Aporie vom Quantitativen ins Qualitative: das »Motiv« im eigentlichen Sinne als das »Bewegende« des menschlichen Daseins ist nicht eine unübersehbare Komplexion innerer Vorgänge, sondern die unausweichliche Dringlichkeit eines Rufes von nicht befragbarer Herkunft und von niederschmetternder Widerläufigkeit für den Willen des Menschen. Was wir als den nihilistischen Grundvorgang bei Kafka bezeichneten, den Zerfall des objektiven Menschenbildes, das ergreift die ganze Menschenwelt als eine Versachlichung menschlicher Leistung und methodischen Handelns. Der Mensch lebt vergeblich, wenn er sein Leben am Maßstabe seiner Erwartung, an einem objektiven Maßstabe also, mißt; den Sinn seines Lebens gewinnt er nur im Annehmen seiner einzigen Freiheit: nämlich nichts anderes als er selbst zu sein, nur in der Bahn des einzig an ihn ergangenen Rufes zu bleiben. Das hat Kafka in seinem anderen großen Romanfragment »Das Schloß« dargestellt. Der Landmesser K. zerreibt sich an dem Versuch, seine Stellung und sein Verhältnis zu der transzendenten Welt des »Schlosses« objektiv zu sehen, durch Leistung und Anstrengung, durch Wissen und Mittel zu bestimmen. Erst als er in letzter Erschöpfung zusammenbricht, wird ihm sein vermeintliches »Recht« gewährt. Letztenendes ist, was hier im nihilistischen Kataklysma zerfällt, jene Welt, die ihre höchste Verkörperung in der Gestalt des Faust gefunden hat. Die nihilisti49sche Wende, wie sie sich bei Kafka bezeichnet, ist eine Wende gegen Faust. Wenn der Landmesser in einer Variante des Romananfangs sagt: »Ich habe eine schwere Aufgabe vor mir und habe ihr mein ganzes Leben gewidmet […]. Zum Kampf bin ich ja hier […]«, so ist eben dies das fundamentale Mißverständnis, an dem er erschöpft zerbrechen wird.

»Mögen Sie tun, was Sie wollen. Ihre Taten werden vielleicht draußen im Schnee auf dem Hof tiefe Fußspuren hinterlassen, mehr aber nicht.« (Wirtin zu K.)[3]

Was bei Kafka für das Verständnis des geschichtlichen Phänomens des Nihilismus mit aller Deutlichkeit zutage tritt, ist eben dies, daß der nihilistische Grundvorgang, der Seinszerfall einer ganzen Weltwirklichkeit, ihre Entwirklichung, immer geschieht durch das Ereignis eines sich ankündigenden Absoluten, einer unbedingten Erfahrung, die die gewohnte Welt als Paradox zerbricht. Dieses Paradox als Kennzeichen des Absoluten ist die Grunderfahrung der Kafkaschen Gestalten; aber sie werden immer nur dieses Kennzeichens ansichtig, das bis zum Äußersten forciert wird, bis zu einer oft unerträglichen Ironie des Ärgernisses. Das Absolute zeigt sich immer nur in indirekter Reflektion, im Widerschein des Skandalon. Schon die untersten, unwürdigsten Chargen des Gerichtes und des Schlosses entziehen sich in ihrer banal-erhabenen Zweideutigkeit jedem Zugriff des Verstehens.[4] Für das Absolute ist nur ein Raum ausgespart, eine Dimension furchtbarer Transzendenz vorgesehen – aber dort, wo nun irgendwann die Kraft des unverlöschlichen Seins aufstrahlen sollte, da – auch da – ist »nichts«, eine schreckliche Anonymität, die sich darin ausgibt, eben dies und nichts anderes als Anonymität zu sein. Die letzte Instanz des Gerichtes, die innersten Säle des Schlosses scheinen – leer. Die Situation des modernen Nihilismus liegt in kahler Unmittelbarkeit vor uns: eine Welt zerfällt ins Nichts an neuen, zerstörerischen Erfahrungen, aber diese Erfahrungen enthalten das neue Sein, das sie anzukündigen scheinen, in einer unerträglichen Verborgenheit, von der die ratlose Zeit nicht weiß, ob sie Leere oder Fülle verbirgt.

Leere oder Fülle – das ist das Grundproblem des geschichtlichen Ereig50nisses, das wir den modernen Nihilismus nennen. Die noch verborgene Wahrheit dessen, was in den Weltwehen sich ankündigen mag, sucht die Kunst, die Dichtung zu deuten. Auf beiden Positionen setzt sich die deutsche Gegenwartsliteratur mit dem Problem des Nihilismus auseinander.

Hermann Kasacks »Die Stadt hinter dem Strom«, einer der meistbeachteten deutschen Romane der Nachkriegszeit, läßt in einem Reich der Toten, jenseits des Stromes, ebenso großartige wie bedrückende Bilder der Nichtigkeit und Vergeblichkeit des Seins erstehen. Menschliche Leistung und Arbeit sind symbolisiert in zwei riesigen Fabriken, von denen die eine unter immer weiter vorangetriebener Steigerung der Technik und Qualität Kunststeine erzeugt, die in der anderen Fabrik ebenso gründlich und technisch vollkommen wieder zu Urstaub zermahlen werden, der wiederum als Ausgangsstoff der Kunststeinfabrikation dient. »Was soll«, so sagt der Zuschauer aus der Welt der Lebenden, »die geradezu lächerlich wirkende Wichtigkeit, mit der einerseits die Steine immer härter, besser und schöner hergestellt werden, wenn sie keinem anderen Zweck bestimmt sind, als um immer rascher, immer raffinierter in den Ursprungszustand des Staubes zurückverwandelt zu werden. Es ist absurd!« In der Tat ist Absurdität der Inbegriff des »Seins«, das sich hier jenseits des Todes in seiner Nacktheit enthüllt. Nicht Faust, sondern Sisyphos ist die mythische Figur des Nihilismus: der Verdammte der Vergeblichkeit. Freilich hat Kasack sich einen letzten Ausweg vorbehalten; die Totenstadt ist nicht die ultima ratio, in ihr wird gleichsam nur die noch fehlende Reife für einen äußersten Schritt herbeigeführt: den Schritt ins pure Nichts. Das Sein erweist sich als reif für das Nichts, es ist nur der Strudel, in dem der Mensch endgültig ins Nichts versinkt.

So gibt es auch bei Kasack im Hintergrund des nichtigen, vergeblichen Daseins nichts Beständiges, Ewiges. Das erscheint ihm sogar, in deutlicher Beziehung zu asiatischen Vorstellungen, das eigentlich Tröstliche; der Nihilismus offenbart seine Potenz als »Heilslehre«: er verweist auf die einzig mögliche Erlösung, die Befreiung aus dem Sein.[5]

Von einem einzigen deutschen Schriftsteller besitzen wir über Jahrzehnte hinweg die Zeugnisse einer beharrlichen Auseinandersetzung 51mit dem Problem des Nihilismus, von Ernst Jünger, dem Autor des berühmtesten deutschen Buches über den ersten Weltkrieg: »In Stahlgewittern«. So umstritten die geistige Haltung und der literarische Rang dieses Autors auch sein mögen, sein Werk ist schon dadurch von einzigartiger Prägung, daß es uns die beherrschende Gewalt dieser Frage, die Kontinuität der unausweichlichen Auseinandersetzung und die Wandlungsmöglichkeit der persönlichen Stellungnahme bewußt werden läßt. Jünger ist dem Nichts, der Vernichtung unserer alten Welt, seit seiner Jugend nachgejagt: er hat es als Wüste (»Afrikanische Spiele«), als Kriegertod, als Rausch (»Abenteuerliches Herz«), als Abenteuer gesucht, als Vernichtung der Person in der technisch-biologischen Monade des »Arbeiters«, dessen totalitäres Programm er entworfen hat. Er hat den Schmerz, das Signal der Zusammenbrüche, als metaphysisches Äquivalent der aufgeklärt-hygienischen Wohlstandswelt proklamiert (»Über den Schmerz«). Aber dann kam, inmitten der Greuel einer Verwirklichung seines totalen Arbeiterstaates, die unerwartete Wendung, die zu den wichtigsten Ereignissen der deutschen Geistesgeschichte des vergangenen Jahrzehnts gehört: sein bedeutendstes Werk, fast eine vollendete Dichtung, »Auf den Marmorklippen«. Hier dringt die nihilistische Anarchie, die Schinderwelt, das freche Waldgelichter aus seinem Dickicht über die ehrwürdig-fruchtbare Kulturwelt herein; dem Dichter bleibt nichts, als aus seiner Klause zu fliehen, Asyl in fernen Reservaten seiner Art zu suchen. Imaginär erscheint dem Leser die Hoffnung auf Rückkehr angesichts solcher Verwüstung; aber der Autor glaubt dafür sichere Unterpfänder zu besitzen: den Tod der Edlen im Widerstand gegen das Nichts und die Hinaufhebung alles Wahren und Schönen durch das Feuer der Zerstörung in einen unvergänglichen Bereich.

Dieser Gedanke wird bei Jünger im Erleben des zweiten Weltkrieges immer beherrschender. Die zerfallende Welt gibt den Blick auf einen Kern des Unvergänglichen frei; das konkret Dingliche ist nur die zufällige, vergängliche Vertretung eines ewigen Typus, wie auch uns der Tod erst zu unserer wahrhaftigen Gestalt und Seinsmöglichkeit freimachen wird. Was sich am Schluß der »Marmorklippen« als Ziel der Flucht vage angedeutet hatte, wird im Laufe der Jahre (»Gärten und Straßen«, »Atlantische Fahrt«, »Strahlungen«) zu einem immer bestimmteren, subtilen, zuweilen unangenehm raffinierten Platonismus. Der letzte Versuch, 52diese in ihrem Kern zweifellos echte Wendung dichterisch zu gestalten, eine neue Form des Romans hierfür zu finden, ist mit dem Buch »Heliopolis« in einer geradezu peinlichen Weise mißlungen.

In einer ganz anderen Weise sind die nihilistischen Erfahrungen in dem bedeutenden Roman von Elisabeth Langgässer »Das unauslöschliche Siegel« gestaltet, und in ganz anderer Weise wird hier im aufklaffenden Nichts der Grund des Seins wiedergefunden. In der Gestalt des getauften Juden Belfontaine bildet sich ein Brennpunkt aller zeitgebundenen und zeitlosen Kräfte, die die Substanz des Menschen auszehren. Das Menschliche als solches scheint dem Satan, den Dämonen, dem Nichts hoffnungslos hingeworfen zu sein. Rückhaltlos wird die Nichtigkeit des Menschen in ihre letzte Möglichkeit vorgetrieben: nicht nur daß ihm alles, was er hat: Besitz, Heimat, Ehrbarkeit, Gewissen, Wahrheit, ja seine gestaltliche Identität, all dies verloren geht, er geht sich selbst in einer ungeheuerlichen Art verloren. Nur Georges Bernanos hat sich ähnliche Kühnheiten zugemutet, um das Letzte umso reiner aussagen zu können. Niemand soll für diesen Menschen noch einen Heller geben dürfen – so mag der Wille der Autorin zu bezeichnen sein. Es gibt nichts mehr als das Nichts – es sei denn, es gäbe das Wunder, es gäbe Gott, die Paradoxie einer unvernünftigen Barmherzigkeit, einer sich verschleudernden Gnade, die keinen Preis annimmt. Und diesen Glauben, den sie zuvor als Absurdität aus der Welt des objektiv Erwägbaren, des erdenkbar Sinnvollen ausgeschlossen hat, besitzt die Autorin. Mag immerhin der Mensch in seiner Menschlichkeit vernichtet sein – unverlierbar, unauslöschlich ist das Siegel des Sakramentes, der Taufe.[6] Hier ist das Nichts von allem Anfang an in seinem letzten Griff gebannt.

Eine solche Dichtung stellt sich eine unmögliche Aufgabe: sie muß als Erlebnis erscheinen lassen, was als Erlebnis doch gerade unmöglich geworden ist. Sie will einerseits sagen: mag der Mensch in seinem Bewußtsein, als psychisches Selbst auch ganz und gar dem Nichts verfallen sein, das sakramentale Siegel ist unauslöschlich an ihm und verbürgt ihm sein ewiges Sein. Was derart geheimnisvoll am Menschen ist, aber für sein 53Bewußtsein, sein nihilistisches Erleben völlig ausgeschlossen ist, das müßte der Roman dennoch zum Erlebnis machen, weil er keine andere Möglichkeit besitzt, es als Realität zu gestalten. Aus diesem Widerspruch kommt die Autorin nicht heraus; Theologie und Roman schließen sich als Gattungen aus. Der Roman kann nicht entscheidend vom »Wunder« leben. Die Dichterin hat sich vor die bestürzende Frage gestellt gesehen, ob in dieser Welt noch sichtbar gemacht werden kann, daß Gott nicht tot ist. Ihre Antwort ist: Gott ist das erscheinende Absurde für diese Welt. Aber dies darzustellen, nicht nur zu sagen, sondern an der Gestalt vernehmbar zu machen, sprengt die Möglichkeiten des Romans. Das Ereignis der Gnade ist im Roman ein Unfall; das ganz und gar Unwirkliche, so daß die Dichterin sich eines schrecklichen Unwetters bedienen muß, damit sich dies Ereignis wenigstens andeute oder mit dem Blitzschlag verwechseln lassen möge. Gott ist hier so unwirklich, daß der Held des Romans notwendig in dem Augenblick unserer Anteilnahme entzogen werden muß, da er es mit diesem Gott zu tun bekommt. Die Frage »Warum sind wir also nicht Nichts?« wird zwar beantwortet, aber das fruchtbare Zeugnis künstlerischer Gestaltung bleibt dieser Antwort versagt.

Versucht man, die in den – notgedrungen – nur kurz charakterisierten Werken dargestellten Grunderfahrungen in ihrem Verhältnis zum Problem des Nihilismus zu erfassen, so kann man sagen: was hier als ein dem neuzeitlichen Anspruch universaler Objektivierung nicht mehr zu Unterwerfendes auftritt, ist ein dreifaches: 1. die Einzigkeit und Ferne des anderen Menschen. Der wirkliche Mensch ist nicht nur mehr, sondern etwas radikal anderes als je ein Exemplar der Gattung vernunftbegabtes Lebewesen.[7] Diese Erfahrung hat sich in der Existenzphilosophie aller Schattierungen ihre Deutung erzwungen. 2. die Geschichte als ein unableitbares, in sich letztes Geschehen. Die Versuche, das geschichtliche Leben nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung, Bedingung und Folge aufzulösen und zu erklären, brechen sich an der unableitbaren Einzigartigkeit geschichtlicher Erfahrung, die sich aus der Vergangenheit eben nicht elementar aufbauen und herleiten läßt. Diese Erfahrung hat Heidegger in seiner philosophischen Entwicklung nach »Sein und Zeit«, 54neuestens deutlich sichtbar in den »Holzwegen«, derart ausgelegt, daß er Geschichte als das Geschehen des Seins selbst zu fassen sucht, als eine letzte, irreduzible Gegebenheit also. 3. die Wirklichkeit der Transzendenz als einer rational nicht auflösbaren, aber doch unausweichlichen, zum Gehorsam zwingenden Instanz. Die Antriebe, die die Theologie der Gegenwart bekommen hat, eine Injektion kräftigendster Belebung, sind ohne diese Grunderfahrung undenkbar.

Indem sich die genannten Erfahrungen nun dem Anspruch, dessen Erfüllung allein alles Wirkliche als Wirkliches legitimieren sollte, dem Anspruch auf feststellbare, wissenschaftlich erfaßbare Objektivität, allgemein zugängliche Gegenständlichkeit, entziehen, und zwar radikal und wesentlich entziehen, verfallen sie von vornherein der Ablehnung ihres realen Gehaltes, ihres seienden Korrelates. Das heißt: in diesem vermeintlichen Bereich, in dieser Richtung, aus der vermeintlich Erfahrung kommt, ist in Wahrheit »nichts«. Stößt aber der Mensch, gegen das Kriterium objektiver Gegenständlichkeit innerlich mißtrauisch geworden, aus unstillbarer Beunruhigung heraus, dennoch in diese Richtung vor, leidenschaftlich um eine Bestätigung seiner Erfahrungen ringend, dann läßt er sich mit jenem »Nichts« ein, dann ist er »Nihilist«, dann bricht er aus der Welt beruhigter Gegenständlichkeit, systematisierter Erkenntnisse, geordneter Reguliertheit aus, ist Anarchist, Immoralist usw. Man könnte das Phänomen des Nihilismus letztenendes als einen Vorgang der »Entselbstverständlichung« charakterisieren. Das ist aber eben der Vorgang, der auch die großen epochalen Umbrüche des geschichtlichen Lebens kennzeichnet. Und schließlich der Grundvorgang des philosophischen Denkens: denn wie ließe sich die immanente Aufgabe philosophischer Arbeit wohl treffender charakterisieren denn als die beharrliche Gegnerschaft der Selbstverständlichkeiten, von denen unser Leben und Denken bis in seinen Grund, viel stärker als wir jemals ahnen können, durchsetzt, ja fundiert ist?

So ist der Philosoph zu allen Zeiten und seinem Wesen nach dem Verdacht ausgesetzt, er selbst sei »Nihilist«. Dazu ist zu sagen: die Philosophie – in ihrer Möglichkeit, nicht in ihrer tatsächlichen Gestalt – ist eine Haltung geringer nihilistischer Bedrohtheit. Wenn der Nihilismus ein »Sturz«, ein »Verfall« des Wirklichkeitsbewußtseins ist, dann wird von ihm immer am stärksten bedroht sein, was sich in Ruhe, in Starre, 55in Sättigung zu halten sucht. Was in dieser Starre als »Unfall«, als Katastrophe widerfährt, als lähmender Schock, das müßte im philosophischen Denken aus der Bewegung des Mitvollzugs heraus »aufgefangen« werden können. Es wird deshalb immer eine echte Aufgabe philosophischer Besinnung sein, die in der Kunst und Dichtung bezeugte Erfahrung sorgfältig abzuhören und sich von dem als echtes Zeugnis Erkannten in der Richtung des Denkens, des Ansatzes der Fragen bestimmen zu lassen.

 

***

Ein alltäglicher Vorfall: sein Ertragen eine alltägliche Verwirrung. A hat mit B aus H ein wichtiges Geschäft abzuschließen. Er geht zur Vorbesprechung nach H, legt den Hin- und Herweg in je zehn Minuten zurück und rühmt sich zu Hause dieser besonderen Schnelligkeit. Am nächsten Tag geht er wieder nach H, diesmal zum endgültigen Geschäftsabschluß. Da dieser voraussichtlich mehrere Stunden erfordern wird, geht A sehr früh morgens fort. Obwohl aber alle Nebenumstände, wenigstens nach A's Meinung, völlig die gleichen sind wie am Vortag, braucht er diesmal zum Weg nach H zehn Stunden. Als er dort ermüdet abends ankommt, sagt man ihm, daß B, ärgerlich wegen A's Ausbleiben, vor einer halben Stunde zu A in sein Dorf gegangen sei und sie sich eigentlich unterwegs hätten treffen müssen. Man rät A zu warten. A aber, in Angst wegen des Geschäftes, macht sich sofort auf und eilt nach Hause.

Diesmal legt er den Weg, ohne besonders darauf zu achten, geradezu in einem Augenblick zurück. Zu Hause erfährt er, B sei doch schon gleich früh gekommen – gleich nach dem Weggang A's; ja, er habe A im Haustor getroffen, ihn an das Geschäft erinnert, aber A habe gesagt, er hätte jetzt keine Zeit, er müsse jetzt eilig fort.

Trotz diesem unverständlichen Verhalten A's sei aber B doch hier geblie56ben, um auf A zu warten. Er habe zwar schon oft gefragt, ob A nicht schon wieder zurück sei, befinde sich aber noch oben in A's Zimmer. Glücklich darüber, B jetzt noch zu sprechen und ihm alles erklären zu können, läuft A die Treppe hinauf. Schon ist er fast oben, da stolpert er, erleidet eine Sehnenzerrung und fast ohnmächtig vor Schmerz, unfähig sogar zu schreien, nur winselnd im Dunkel hört er, wie B – undeutlich ob in großer Ferne oder knapp neben ihm – wütend die Treppe hinunterstampft und endgiltig verschwindet.57



[1] Das Wesen des Nih.: eine Ent-täuschung umfassendster und radikalster Art. »Verzweiflung« – bei der auch der Zweifel hier seine Hoffnung, die ihm innewohnt, verliert. Ferner Voltaires Gedicht »Le désastre de Lisbonne«. Polemik gegen Popes Satz: »whatever is, is right«. Verlegung des Optimalzustandes der Welt an den Limes des Fortschritts, dieser Zustand entspringt damit nicht in Gottes Schöpfung, sondern in der Perfektion durch menschliche Leistung. (→ K2639) [Vermutlich Verweis auf eine Karteikarte]

[2] Vernunft & Wirkl. nicht nur angepaßt, sondern identisch.

[3] leidensch. Situationen von ungeheuerer Eindringlichheit

[4] Inobjektivität = wesenhafte Vieldeutigkeit

[5] von der geschichtl. Erfahrung zum therapeut. Rezept und zum Aktionsprogramm

[6] Das Sein erscheint inmitten des Nichts notwendig wie ein Wunder – das »Wunder« des Glaubens liebstes Mittel, von daher die eigentümliche Farce der Überwindung des Nihilismus.

[7] war Gegenstand der Psychologie

[8] [Blumenberg ergänzt an dieser Stelle einen Text Franz Kafkas.]