Wer den Sammelband der Bildnisse Goethes, der der Propyläen-Ausgabe seiner Werke beigegeben ist, einmal mit Sorgfalt durchblättert, wird alsbald der Ratlosigkeit inne, die so offenkundig alle diese Porträtisten vor der physiognomischen Erscheinung Goethes befallen hat. Die beinahe unfaßbaren Differenzen dieser Darstellungen legen es nahe, daß wir es in Wahrheit fast überall mehr mit dem Niederschlag einer Faszination als mit einer offenen Aussage über das Menschliche zu tun haben. Und selbst als die Augen des Großen sich endgültig geschlossen hatten, schien eine Durchbrechung dieser Faszination nicht gelungen zu sein: die beiden Zeichnungen Friedrich Prellers, die der Band enthält, die als »Skizze nach der Natur« und die als »ausgeführte Zeichnung« deklarierten, zeigen aus weiter Distanz einen olympischen Schlaf, einen schattenlosen Hinübergang, eine selige Sättigung mit gelebtem Leben und erfülltem Werk. Unser heute so sprungbereites Mißtrauen gegen eine solche Überlegenheit in letzten Situationen des Menschlichen erwacht. Wir legen den Band beiseite, bereiter geworden für die Stimmen, die jetzt immer betonter unseren Abstand von Goethe proklamieren.
Wer hätte es gewagt zu hoffen, daß, mehr als hundert Jahre nach Goethes Tod und angesichts des großen, oft pedantischen Aufwandes, mit dem historische Inspektion alle Spuren des Dichters gesichert hat, dieses Corpus der Bildnisse noch durch etwas Wesentliches, ja entscheidend Wesentliches vervollständigt, und mehr als dies, überboten und entkräftet werden könnte? Und doch hat uns das Jahr 1947 eine Entdeckung gebracht, die in unserem Verhältnis zu Goethe alles andere als die Bezeichnung eines »Zufalls« erhalten muß. Auf verwickelten Wegen ist eine Zeichnung des toten Goethe von eben jenem Friedrich Preller ans Licht gekommen, die die bekannte angebliche Skizze radikal ins Unrecht setzt. Franz Rademacher hat in seinem Buch »Goethes letztes Bildnis« diese Entdeckung vorgelegt und ihre Umstände bekanntgemacht. Was den unmittelbar Hinterbliebenen unerträglich schien und zu umdeutender Erhöhung und Verklärung herausforderte, das spricht uns als ein Durchbruch des Menschlichen durch das olympische Kunst58licht unmittelbar und zwingend an, schafft neue Nähe und Vertrautheit über den bedrohlich wachsenden Abstand hinweg. Der uns befremdliche und unglaubwürdige Triumph über Tod, Leid und Not, den die erhöhten Fassungen zu suggerieren suchten, ist zerfallen: hinter der Täuschung des apollinischen Schlafes ist die Wahrheit des Todes sichtbar geworden, das Vorläufige, die lächelnd unerreichbare Unverweslichkeit, die unendlichen Bestand zu erwarten vorgab, ist der entsagenden, sich ins Endgültige findenden Müdigkeit gewichen, die dem Tod sein Recht auf alles, auch dieses Menschliche einräumt. Auf diesem Totenantlitz hat die Endlichkeit ihre Marken eingegraben; dieser Mund verrät, daß die großen Aussagen nicht aus Unerlittenem spurlos hervorgehen.
Weshalb ich diesen Umweg zu meinem Thema eingeschlagen habe? Nicht nur, weil ich vor der Goethegesellschaft spreche, sondern weil ich eine Unterscheidung vorzubereiten suchte, die für meinen Gegenstand wesentlich ist: die Unterscheidung zwischen dem »Faustischen«, dessen Krise zur Sprache kommen soll, und dem »Faust« des Goetheschen Werkes, zwischen der Reflektion der Faustgestalt im Bewußtsein des ersten nachgoetheschen Jahrhunderts und der genuinen Gestalt der Dichtung selbst. Das »Faustische«, das ich apostrophiere, ist eine Selektion, ein Filtrat des geschichtlichen Selbstverständnisses einer Epoche aus der Gestalt, die Goethe geschaffen hat. Ein Jahrhundert, das an Erkenntnis und Können seinem eigenen Willen nichts als endgültig versagt zugegeben hätte, das ein grenzenloses Vertrauen in die beinahe automatische Zuordnung von wissenschaftlich-technischer Anstrengung und Leistung und Erlösung von der Schwäche und Hinfälligkeit der menschlichen Natur besaß, glaubte eben in der Faustgestalt sein genauestes Symbol, seine erleuchtetste Selbstdarstellung gefunden zu haben. Wenn ich von der Krise des Faustischen spreche, dann meine ich das Hineingezogenwerden der Faustgestalt in den Zweifel an diesen geschichtlichen Grundlagen unseres Selbstbewußtseins. Die Geschichte der verschiedenen Fassungen des Prellerschen Bildnisses des toten Goethe ist aber exemplarisch dafür, daß es einer sorgfältigen Unterscheidung zwischen dem »Faust« Goethes und dem »Faustischen« des vergangenen Jahrhunderts bedarf, zwischen der Wahrheit und ihrer auf Selbstbestätigung und Symbolfindung ausgehenden Aneignung.
Ich will nicht nur sagen, daß zwischen dem »Faust« und dem »Fausti59schen« eine tiefgehende Differenz besteht und daß es eine immer gegenwärtige Aufgabe ist, sozusagen durch das »Faustische« hindurch den »Faust« im Blick zu behalten oder wieder in den Blick zu bekommen. Sondern ich möchte noch weiter gehen und darauf hindeuten, daß die Krise des »Faustischen« schon im »Faust« selbst sichtbar wird, daß sie der eigentliche Sinn dessen ist, was dem alten Faust in der Gestalt der Sorge begegnet, was aber in der Vision des letzten Monologs wieder zurückgenommen wird in den Glauben an die Unendlichkeit des Werkes und des Willens. Ich will jedoch heute nicht den Versuch einer direkten Interpretation dieser Krise unternehmen, sondern am Werk eines ganz anders gearteten Dichters zu zeigen suchen, wie das herausgelöste »Faustische« geschichtlich von der »Sorge« eingeholt wird, einen geistesgeschichtlichen Vorgang, der rückwirkend die inneren Probleme der Faustgestalt ins Licht rückt.
Franz Kafka, von dem ich sprechen will, ist, wie ich angedeutet habe, eine Gestalt radikal anderer Provenienz als der Dichterfürst der deutschen Klassik. Daß er aus der Tradition seiner jüdischen Herkunft geprägt ist, daß er von Pascal und Kierkegaard entscheidend bestimmt worden ist, daß er als prophetischer Ankündiger eben jener Situation in Anspruch genommen wird, die sich eines echten Goetheverständnisses und Goethebesitzes nicht mehr zu rühmen wagt – das alles ist bekannt. Umso erstaunlicher und bedenkenswerter ist, daß Kafka selbst in einer sehr innigen Beziehung zu Goethes Vermächtnis gestanden hat. Ich glaube, daß das letzte Bildnis Goethes, von dem ich eingangs gesprochen habe, uns besser erahnen läßt, in welcher Dimension solche Bezüge überhaupt möglich sind. Zugleich zeigt sich, daß unser Thema eine doppelte Aufgabe in sich schließt: einmal die Differenz herauszuarbeiten zwischen dem Menschenbild, das im »Faustischen« Inbegriff und Symbol seiner Verwirklichung sucht, und dem sich ankündigenden neuen Selbstverständnis des Menschen, an dem die Herrschaft dieses Symbols ihre Krise erfährt; und dann aber zu fragen, was den Menschen der verwandelten Welt, wie ihn Kafka in seinem Werk vorausgestaltet hat, dennoch den »Faust« nicht preisgeben läßt. Die beiden Aufgaben spielen ineinander und lassen sich nicht säuberlich trennen.
Obwohl es kaum einen Autor von einiger Bedeutung geben dürfte, dem man nicht nachgesagt hätte, dieses oder jenes seiner Werke sei sein 60»Faust« – einige haben es uns leichter gemacht und ausdrücklich einen geschrieben –, hat es bei Kafka doch einen Sinn, und sei es auch nur ein ironischer, den einen seiner drei großen Romane seinen »Faust« zu nennen, nämlich das Fragment »Das Schloß«. Weshalb? Weshalb ist diese Tragödie des Unfaustischen so etwas wie Kafkas »Faust«? Weil das Unfaustische hier gerade die Wendung ist, die es mit dem Faustischen selbst nimmt.
So fängt das große Romanfragment an:
Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.
In diesen wenigen Zeilen ist die topographische Exposition des Romans gegeben, nicht nur die reale, sondern zugleich die metaphysische Landschaft. Der Fremde auf der Brücke, im Übergang in die Sphäre seines Schicksals, das Dorf, in das er als Landmesser berufen worden ist. Das Dorf steht unter der Herrschaft des Schlosses, aber nicht nur im Sinne eines sozialen Feudalverhältnisses, sondern im Sinne der totalen Unterwerfung aller, auch der inneren Existenzbedingungen unter diese Souveränität, deren Verfügungen sich jeder Einsicht und Begründbarkeit entziehen. Insofern ist diese erste Szene des Romans signifikativ: der Fremde weiß noch nichts von der Herrschaft des Schlosses, und er sieht es nicht einmal im Nebel; dennoch blickt er lange in die scheinbare Leere empor, offenbar mit dem Bewußtsein, bereits die entscheidende Richtung seiner künftigen Existenz zu spüren. Dieser neue Landmesser kommt in das Dorf mit dem selbstverständlichen Anspruch, hier Arbeit, Recht und Heimat zu finden, aufrechenbare Beziehungen zwischen Leistung und Ertrag, Streben und Erfolg. Aber vom ersten Augenblick an wird ihm dieser rationale Zusammenhang brutal zerstört: nicht einmal der an ihn ergangene Auftrag als Landmesser wird anerkannt, von der scheinbar schrankenlosen Willkürmacht des Schlosses her lösen sich alle Realitäten auf, werden alle Normen sinnlos. Das Leben verliert den Charakter der Selbstbehauptung, der Leistung, des 61Sich-Durchsetzens. Aber gerade dies wird der Fremde bis zum letzten Atemzuge nicht voll begreifen können; und deshalb fühlt sich der Leser eben mit dem Fremden solidarisch, weil auch für ihn die Welt des Dorfes unter der Herrschaft des Schlosses die Fremde ist. Der Landmesser K. verhält sich immer wieder so, als ob es dennoch einen Weg der Leistung, des Strebens gäbe, um die Anerkennung und Bestätigung des Schlosses und damit Recht und Heimat zu erlangen. Aber gerade indem er sich so redlich bemüht, sich gleichsam nichts schenken lassen will, steht er schief zu der inneren, wesentlichen Struktur der Welt des Schlosses, bleibt er der Fremde: er hat sich selbst genau so ausgeschlossen, wie er von den anderen immer wieder ausgestoßen wird. Die Welt, in der man lebt, als Ganzes nicht zu verstehen, nicht anzuerkennen, das ist eben ein so abgründiger Sachverhalt, daß man ihn ethisch gar nicht mehr als »Schuld« bestimmen kann, und dennoch ist ja dabei das Entscheidende verfehlt, die Urvoraussetzung des rechten, und damit auch des ethischen Lebens. So wird man in allem einzelnen immer wieder die Behandlung des Landmessers als schreiende Ungerechtigkeit empfinden – aber nur, weil man sich selbst nicht in diese Welt radikal zu versetzen vermag, weil man selbst, als Leser, als moralisch Urteilender, Fremder ist.
Was bedeutet dieses Fremdsein, in dem der Held des Romans und der Leser immer wieder ihre Gemeinsamkeit erfahren? Es bedeutet, in einer vorgreifenden Formel ausgedrückt, ein fundamentales Selbstmißverständnis des Menschen hinsichtlich seiner Möglichkeiten in der Welt, letztenendes hinsichtlich seiner Freiheit. Und hier nun wird erstmals sichtbar, was Kafkas Landmesser K. mit dem Faustischen und seiner Krise zu tun hat: die reinste Ideation des Selbstmißverständnisses, aus dem heraus K. lebt, ein Fremder ist und bleibt, und woran er schließlich zugrunde geht, ist das Faustische. Ich bitte zu beachten, daß ich nicht sagte, der »Faust«, sondern eben jenes selektive Bewußtseinsderivat aus der Beziehung des nachgoethischen Jahrhunderts zum Faust, das man so bezeichnend mit einem Neutrum, eben dem »Faustischen«, benannt hat.
Worin nun besteht dieses abgründige Mißverständnis? Es besteht in der Erhebung einer partiellen, faktischen Erfahrung zu einer totalen Selbstverständlichkeit. Es ist die entscheidende Tat der Neuzeit, daß sie die 62Welt als gesetzlichen Zusammenhang zu begreifen versuchte und daß sie von dem ständig wachsenden Bereich der gesetzlich formulierten Erkenntnis aus den ganzen Raum der Lebenspraxis neu gestaltet hat, eine Neugestaltung, die wir unter dem Begriff der »Technik« zusammenfassen. Ein ganz neues und einzigartiges Bewußtsein ist so entstanden, das wir als solches gar nicht mehr wahrhaben können, weil es die fraglose Form unserer Weltbeziehung geworden ist: daß wir einen sich ständig vermehrenden Fonds von Erkenntnis der Wirklichkeit besitzen, mit dessen Hilfe wir in zunehmender Sicherheit, die sich auf eine endgültige und absolute Vollendung hin integriert, die Wirklichkeit meistern, beherrschen, in unsere Gewalt bringen können. Solche Herrschaft erst schafft das Bewußtsein vollkommener Vertrautheit, so wie wir in unserem Heim und unserer Heimat jeden Winkel kennen und uns vollkommen zu orientieren vermögen, uns ganz heimisch fühlen, weil die Beziehungen zwischen Weg und Ziel, Anstrengung und Erfolg, Rechtmäßigkeit und Besitz uns ganz und gar durchsichtig und beständig erscheinen. Das »Faustische« hieran ist, daß sich der stürmische Erkenntniswille der Studierstube über Schuld, Magie und Irrungen hinweg in die Gültigkeit der technischen Weltgestaltung steigert und in ihr Genügen und Erfüllung findet. Was der goethische Faust am Ende tut, ist nichts anderes, als ein Stück bemeisterter Welt zu hinterlassen, das als Raum der Freiheit, der gestaltenden Selbstbehauptung Millionen zum Grund echter »Heimat« werden soll, der freie Grund dem freien Volke. Die Verbannung des Fremdseins, die Grundlegung eines Fundamentes, auf dem zwischen Verdienst und Leben, Leistung und Ertrag, Ringen und Errungenem ein rechtes, gerechtes Verhältnis gewährleistet ist. Es ist eine Grundstruktur, die das Zeitalter seit dem Ende des Mittelalters beherrscht, eine Epoche, die die Begriffe »Gnade« und »Geschenk« im alten theologischen Sinne niemals mit ihrer »Ehre«, ja mit ihrem »Gewissen«, ihrem Begriff von Redlichkeit und Weltordnung zu vereinbaren vermochte. Die eigentümlich periphere Rolle, die die Religion während dieser Jahrhunderte gespielt hat, dürfte in dieser Bewußtseinsstruktur ihre Bedingung haben.
Und eben dies Selbstverständnis der ganzen Neuzeit, dies noch uns weitgehend Selbstverständliche und Legitime, ist in der Welt, die Franz Kafka sieht und gestaltet, das Mißverständnis, an dem sich der Mensch 63zerreibt und zerstört, die Verallgemeinerung von Erfahrungen an einem partiellen und nun sogar nebensächlich erscheinenden Gebiet der Wirklichkeit auf ein Ganzes, das sich dem Schema nicht fügt, das sich seinerseits durchsetzt und seine stillgehaltene Macht plötzlich vernichtend ins Spiel wirft. Das »mitgebrachte« Mißverständnis des Landmessers K., das sein Denken und Handeln bestimmt, kommt überall auch in seiner Sprache zutage, die hier die Sprache eines Fremden ist, Worte, die dem Leser dagegen wie Inseln der Vertrautheit in einem unheimlich fremden Meer erscheinen wollen: »Ich habe eine schwere Aufgabe vor mir und habe ihr mein ganzes Leben gewidmet […]. Zum Kampf bin ich hier« (Variante des Beginns). Was wäre uns vertrauter, als unser Leben so zu sehen, als Aufgabe, Leistung, Krafteinsatz, Kampf? Aber dies gilt in der Welt des Schlosses nichts; erst als der Landmesser physisch erschöpft seinen »Kampf« einstellt, als er mit seinem Willen am Ende ist, naht die Bestätigung, das Heimatrecht.
Darf ich Ihren Blick an dieser Stelle ganz kurz auf den »Faust« lenken, den Faust freilich, der nicht schon durch das »Faustische« hindurch gesehen ist? Die Interpreten sind sich nie darüber einig geworden, ob eigentlich Mephisto seine Wette gewonnen oder verloren hat, ob die Enthebung des Unsterblichen Faustens rechtens oder zu Unrecht geschieht. Sollte Goethe diese entscheidende Frage des ganzen Dramas nicht bestimmter beantwortet haben, wenn er selbst ebenso bestimmt die eine oder andere Lösung gesehen hatte? Aber ich glaube, daß diese Zweideutigkeit in den Bereich einer tiefsten menschlichen Redlichkeit des Dichters gehört, an die wir nicht gewaltsam rühren sollten. Hat Mephisto die Wette verloren, gescheitert an Faustens Wollen und Streben, hätte die »Glorie von oben«, wie Goethe sagt, dann noch den Sinn der Erlösung, des Raubes, den sich immer wieder für alles theologische Denken Gott leistet? Im Wesen der Gnade, jenem Zentrum allen religiösen Bewußtseins, liegt immer ein Moment des Unrechtmäßigen, übersprungener Verrechnung, gewaltsamer Abweisung der Legitimität.
Und eben an diesem Punkt hat Kafka konsequent zuende gedacht. Die immanente Kritik des Faust, die in Kafkas Werk enthalten ist, ließe sich so explizieren, daß Goethe den Gewaltstreich der Gnade dem letzten Augenblick vorbehält, daß das große Weltpanorama der Faustdichtung 64nichts verrät von der Möglichkeit eines Gottes, der sich keinem Gesetz und keiner Einsicht beugt. Die Glorie von oben hat im »Faust« den Charakter des uralten dramatischen Kunstgriffes des »Deus ex machina« nicht ganz abgestreift. Hier hat Kafka kühne Folgerungen gezogen: die Welt, in die er seinen faustischen Menschen stellt, ist von vornherein das Spannungsfeld einer übermächtigen Souveränität, die das Normale, Berechenbare, Einsichtige ständig durchbricht und infrage stellt. Auch diese Souveränität selbst zeigt sich niemals eindeutig: sie bleibt in ihrem Wesen entzogen, keine Gottheit wird sichtbar, es dringt kein Lichtschein von oben, wie sich schon dem ankommenden Fremden auf der Brücke zeigt. Nur die Ausstrahlungen einer unbekannten Macht werden sichtbar, Boten, Sekretäre, Instanzen, Formalitäten, Zeremoniell.
Diese Grunderfahrung hat Kafka in seinem Werk immer wieder dargestellt. Die scheinbar so verlässige alltägliche Welt ist doppelbödig, in jedem Augenblick bedroht von einer stärkeren, ihr zugrunde liegenden Wirklichkeit. In dem anderen Hauptwerk Kafkas, dem »Prozeß«, wird ein kleiner Bankbeamter eines Morgens in seiner Wohnung verhaftet, ein ihm unbekanntes Gericht zitiert ihn für eine ihm unbekannte Schuld. Äußerlich bleibt alles beim alten, die gewöhnliche Welt scheint ihre Dichte und Selbstverständlichkeit zu bewahren. Zugleich aber geht es in einer anderen Dimension ums Ganze der Existenz; auch hier bleibt die letzte, Rechtfertigung fordernde Instanz unbekannt und gesichtlos, sie schiebt ständig neue Funktionäre und Chargen vor sich her, durchdringt allmählich die Ordnung des Lebens mit Unsicherheit und vollstreckt am Ende ein unbegreifliches Urteil. Das Sein, das Kant in die für uns faßbare Erscheinung und das unzugängliche Ansichsein gespalten hatte, tritt in eine neue Konstellation ein: für das der Aufklärung zugehörige Denken Kants bleibt zwar das Ansichsein unzugänglich, nur in Erscheinungen, für die die Bedingung der Möglichkeit im menschlichen Verstand liegt, bezeugt, aber hinter dieser Konzeption steht doch das Vertrauen, daß gleichsam das Ansichsein der Erscheinung nicht »widersprechen«, also die Erscheinung ins Unrecht setzen würde. Aber gerade diese Möglichkeit, die die Aufklärung aus ihrem sicheren Weltbewußtsein getrost beiseite lassen konnte, muß nun erneut bedacht und anerkannt werden. Bei Kafka ist die Erscheinungswelt nicht der sichere Existenzgrund, sondern ein löcheriger Boden, durch den das Unzu65gängliche, Ansichseiende versengend aufzuckt. Gerade die Grundlagen und Bedingungen der Erfahrung sind entwurzelt; nicht einmal die Identität des Subjektes ist so selbstverständlich, wie wir sie hinnehmen zu können glauben. In der Erzählung »Die Verwandlung« erwacht der Handlungsreisende Gregor Samsa eines Morgens in seinem Bett und findet sich selbst als großen Käfer vor.
Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. Was ist mit mir geschehen? dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden.
Unverlässig ist auch die Zeit als die Strukturform unseres Lebens, an der sich der Alltag so sicher zu orientieren scheint, die sich handhaben läßt wie ein solides Instrument. Das findet sich als unheimliche Erfahrung in dem Prosastück »Eine alltägliche Verwirrung« ausgedrückt:
Ein alltäglicher Vorfall: sein Ertragen eine alltägliche Verwirrung. A hat mit B aus H ein wichtiges Geschäft abzuschließen. Er geht zur Vorbesprechung nach H, legt den Hin- und Herweg in je zehn Minuten zurück und rühmt sich zu Hause dieser besonderen Schnelligkeit. Am nächsten Tag geht er wieder nach H, diesmal zum endgültigen Geschäftsabschluß. Da dieser voraussichtlich mehrere Stunden erfordern wird, geht A sehr früh morgens fort. Obwohl aber alle Nebenumstände, wenigstens nach A's Meinung, völlig die gleichen sind wie am Vortag, braucht er diesmal zum Weg nach H zehn Stunden. Als er dort ermüdet abends ankommt, sagt man ihm, daß B, ärgerlich wegen A's Ausbleiben, vor einer halben Stunde zu A in sein Dorf gegangen sei und sie sich eigentlich unterwegs hätten treffen müssen. Man rät A zu warten. A aber, in Angst wegen des Geschäftes, macht sich sofort auf und eilt nach Hause. Diesmal legt er den Weg, ohne besonders darauf zu achten, geradezu in einem Augenblick zurück. Zu Hause erfährt er, B sei doch schon gleich früh gekommen – gleich nach dem Weggang A's; ja, er habe A im Haustor getroffen, ihn an das Geschäft erinnert, aber A habe gesagt, er hätte jetzt keine Zeit, er müsse jetzt eilig fort. Trotz die66sem unverständlichen Verhalten A's sei aber B doch hier geblieben, um auf A zu warten. Er habe zwar schon oft gefragt, ob A nicht schon wieder zurück sei, befinde sich aber noch oben in A's Zimmer. Glücklich darüber, B jetzt noch zu sprechen und ihm alles erklären zu können, läuft A die Treppe hinauf. Schon ist er fast oben, da stolpert er, erleidet eine Sehnenzerrung und fast ohnmächtig vor Schmerz, unfähig sogar zu schreien, nur winselnd im Dunkel hört er, wie B – undeutlich ob in großer Ferne oder knapp neben ihm – wütend die Treppe hinunterstampft und endgiltig verschwindet.
Hier ist eine Welt beschrieben, die dem Menschen wesenhaft eine Fremde ist. Hier ist die Frage mit letztem Ernst gestellt, ob denn das Selbstverständliche unseres Lebens schon dadurch, daß es uns selbstverständlich dünkt, es auch wirklich sei. Letztlich ist hier aber eine Frage erneuert, die schon am Beginn der Neuzeit bei Descartes aufgeworfen wurde, aber mit nicht ganz stichhaltigem logischem Aufwand endgültig beiseite geschoben wurde. Eben durch die vermeintliche Überwindung dieser Frage war der Raum der Neuzeit, ihr Vertrauen in die unbegrenzte Erkenntnisfähigkeit des Menschen, die Stabilität seiner Welt und ihrer Bedingungen und das bemeisternde Können des Menschen gegenüber dieser Welt, freigegeben und gesichert worden. Hatte nicht Descartes sich die Frage vorgelegt, ob der letzte, absolute Ursprung der Welt und des Menschen nicht ein so willkürlicher Geist sein könne, daß all unser Erkennen und Wollen ohne Boden, sinnlos, trügerisch werde, ein »genius malignus«, ein »Dieu trompeur«? Diese Frage ist mit neuer Gewalt zurückgekehrt, mit einer Dringlichkeit, die durch logische Kunstgriffe nicht mehr zu bannen ist. Franz Kafka hat die Wiederkehr dieser Frage mit kühnen Bildern angekündigt und als einer der ersten gesehen. Es ist die Frage, die den neuzeitlichen Menschen, die das »Faustische« als die Metapher seines Selbstbewußtseins infrage stellt, und zwar hinsichtlich der Bedingungen seines weltbezwingenden, erkenntnis- und handelnsgewissen Willens. Kafka ist alles andere als ein Vorläufer des Surrealismus, oder aber – und das ist wahrscheinlicher – der Surrealismus ist selbst eine Aussageform der Ungewißheit über den Boden unserer Existenz in der Welt.
Die Fremdheit der Welt, in der der Mensch lebt, charakterisiert nicht etwa nur die Natur und die dingliche Realität; sie verschärft sich aufs 67äußerste in den zwischenmenschlichen Beziehungen, ja sie bricht mit Urgewalt in den Akten tiefster Intimität auf. Der Landmesser K. in den Armen des Schankmädchens Frieda:
Dort vergingen Stunden, Stunden gemeinsamen Atems, gemeinsamen Herzschlags, Stunden, in denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, einer Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weitergehen, weiter sich verirren.
Dies letzte ist entscheidend. Die Verlorenheit in eine fremde, beklemmend sich versagende Welt erlaubt dem Menschen nicht den Ausweg, sich mit ihr nicht weiter einzulassen. Das war ja die Täuschung der Skeptiker aller Zeiten, die meinten, man brauche sich nur mit der unerkennbaren Realität nicht einzulassen, um seine innere Ruhe zu finden, für sich und vor sich hin zu leben, das alte Ideal der skeptischen epoché. Aber Kafka zeigt immer wieder, daß das Gegenteil notwendig ist: gerade die furchtbare Fremdheit der Welt verstrickt den Menschen immer tiefer in ihre Fesseln, zwingt ihn zu einer verzweifelten Auseinandersetzung mit dem Unbegreiflichen, dessen er nicht Herr zu werden vermag. Der Mensch ist der Paria des Seins, noch bevor das soziale Pariatum weitere Aufstufungen von Fremdheitsmomenten schafft. Es ist deshalb unzureichend, Kafkas Werk wesentlich als Niederschlag spezifisch jüdischer Erfahrungen zu interpretieren; es ist sogar sehr unwahrscheinlich, daß er solche überhaupt gemacht hat. Gerade die individuelle oder soziale Herkunft sind im Werk Kafkas zu bedeutungslosen Momenten geworden, ebenso wie das Milieu, die geistige Umwelt, der Kulturboden. Auf das alles ist, wie überhaupt auf den psychischen Motivationszusammenhang, verzichtet, um gründlicher das Wesentliche zu fassen. Deshalb treten auch die vielen psychoanalytischen Erklärungen des Phänomens Kafka zu kurz; es läßt sich viel eher sagen, daß alle psychopathischen Verkrampfungen des modernen Menschen schon ihrerseits Symptome einer unentrinnbaren Umklammerung sind, in der der Mensch im Schicksal des Fremden gehalten ist. Der »Prozeß« entfaltet lediglich ins Anschauliche, was im Dasein des Menschen schon immer 68geschehen ist: die Schuld, die zum Wesen des Pariatums gehört (daß der soziale Paria immer an allem schuld ist, daß ihm alle Schuld zugeschoben wird, ist nur ein spezieller Ausdruck dieses allgemeinen Sachverhaltes und das Urteil, das im Grunde eins ist mit der Schuld, dessen Vollstreckung nur gleichsam aufgeschoben ist. Unser Lebensspielraum ist nichts anderes als dieser Aufschub). In diesem Schuldbegriff liegt eine eigentümliche Umkehrung des alten christlichen Gedankens von der Urschuld vor: jene Ursünde des ersten Menschen hatte zur Vertreibung aus dem Paradies geführt, d. h. sie hatte den Menschen die Einstimmigkeit mit seiner Lebenswelt gekostet, ihm die Fremdheit in einer Natur aufgebürdet, die ihm Mühe und Arbeit als Preis der Lebensfristung auferlegte, wie es schon der biblische Bericht im 1. Buch Mosis erzählt. Über eine solche Urschuld weiß der Dichter nichts; aber was als Wirkung der ersten Sünde eintrat, die Verbannung in eine fremde Welt verzweifelter Selbsterhaltung, die in immer neue Verfehlung verstrickt, das ist ihm nun selbst zum Inbegriff der Schuld geworden. Das göttliche Urteil der Verbannung und Todeswürdigkeit des Menschen ist mit der Schuld zusammengefallen. Die einzelne Verfehlung der moralischen Norm ist schon ein sekundärer, aus der ersten Schuld sich ergebender Sachverhalt: wie könnte der Mensch sich ein rechtes Handeln zutrauen, da er doch überhaupt nicht rechtens in der Welt ist?
Rechtens in der Welt zu sein, das ist aber das letzte Fundament des Faustischen. Deshalb kann Faust zwar schuldig werden, aber er kann auch in die echte und zugleich schöne Seinsordnung zurückkehren, in die »anmutige Gegend«, auf den »blumigen Rasen«, unter Arielsgesang, zu neuem und reinerem Streben. Die Schuld des Faust hat die göttliche Konzession im »Prolog im Himmel« zur Voraussetzung: »Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab, Und führ ihn, kannst du ihn erfassen, Auf deinem Wege mit herab, Und steh beschämt, wenn du bekennen mußt: Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange, Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.« Deshalb gehört zum Faust der Verführer, Mephisto. Kafka kennt den Verführer nicht; die Schuld ruht im Menschen und steigt aus ihm auf – er ist immer schon von seinem Urquell abgezogen oder aber ein Wesen, das einen solchen Urquell der Reinheit nicht hat. Kafkas Gestalten sind so einsam, daß ein anderer in ihre innere Wesent69lichkeit gar nicht vordringen kann. Aber auch hierin ist der goethische Faust nicht eindeutig: die Rolle des Mephisto verliert im zweiten Teil immer mehr an Gewicht, die Einsamkeit Faustens wird immer unzugänglicher, die Magie des Bösen akzidenteller gegenüber der inneren Tragik der Gestalt. Die Entscheidungen bestimmen sich nicht mehr von kosmischen Potenzen her, sie werden in den Menschen zurückgenommen. Schon deshalb ist die Frage um Gewinn oder Verlust der Wette durch Mephisto am Ende entkräftet: was geschieht, ist seinem Zugriff und Zugang wesentlich entzogen.
Die Ursprünge der Faustgestalt liegen in den Anfängen der Neuzeit, und sie bringen die Abschüttelung einer Genügsamkeit zum Ausdruck, die eine neue Zeit der spätmittelalterlichen Scholastik vorwirft, der Genügsamkeit in verfestigten spekulativen Systemen der Erkenntnis, in einer unumstößlichen Weltordnung. Die Faustgestalt mit ihrem niemals zu sättigenden Erkenntniswillen steht für das Influßkommen der mittelalterlichen Welt, für den Neuansatz eines auf das Unendliche zugeschnittenen Unternehmens der Menschheit. Das Unendliche ist die Dimension der Faustgestalt: die magische Verjüngung ist dessen genauestes Symbol. Auch Descartes hatte sich ja, vielleicht erstmals in der Geistesgeschichte, und dazu tragischerweise in seinen letzten Lebensmonaten mit der Frage der Verlängerung des Lebens beschäftigt. Auch der Goethesche Faust verzichtet ja im Grunde nur deshalb auf die magische Möglichkeit und willigt in den Tod, weil er in seinem letzten Werk eine Vertretung seiner Unendlichkeit sieht. So genügt ihm schließlich nur das Unendliche; die subjektive Endlichkeit umgeht und entkräftet er durch die beanspruchte objektive Unendlichkeit. Darin liegt der letzte Aufstand Faustens gegen die Sorge: der Fortschritt der Menschheit ist der legitime Trost für die tragische Endlichkeit des Einzelnen. Noch vermag ihn das überdauernde Ganze der Gattung zu vertreten. Kafkas Landmesser K. wird – das ist von allem Anfang an gewiß, obwohl uns ja der Schluß des Fragments fehlt und nur aus Andeutungen im Umriß bekannt ist – von nichts überlebt, es sei denn das, was im letzten Satz des Prozeß aufklingt: »… es war, als sollte die Scham ihn überleben«. Der Kafkasche Landmesser ist bis zur letzten Erschöpfung davon in Anspruch genommen, das elementar Menschliche zu erringen und zu behaupten. Die Endlichkeit seiner Kraft ist seine ständige und 70quälendste Erfahrung; und die Welt als solche bietet gar keinen Raum, der eine unendliche Sehnsucht und Anspannung als sinnvoll erscheinen ließe: »hier ist ja alles voll Gelegenheiten. Nur gibt es freilich Gelegenheiten, die gewissermaßen zu groß sind, um benützt zu werden, es gibt Dinge, die an nichts anderem als an sich selbst scheitern.« Hier deutet sich an, daß gleichsam die Maße von Welt und Mensch verschieden sind, eine unüberwindliche Inkongruenz der Möglichkeiten entsteht. Der Mensch ist das Wesen, das sich an der Welt erschöpft, das Wesen der Vergeblichkeit. Es ist, als sei der Tod die Konsequenz dieser Lage des Menschen zur Welt nur der prägnanteste Ausdruck, das symbolische Fazit der längst und von allem Anfang an gegebenen Situation. Lange vor Heidegger hat Kafka gestaltet, was die Formel vom Sein-zum-Tode besagen kann.
Die Inkongruenz der Maße, die zwischen Mensch und Welt herrscht, hat bei Kafka ihren Ausdruck nicht nur in der Gestaltung der Handlung und der Personen gefunden, sondern auch in der Eigenart seines Stils. Die oft nahezu pedantische Akribie seiner Darstellung, die auf Treffsicherheit der Deskription ausgehende Härte seiner Sprache ist, wie man oft bemerkt hat, immer wieder durchbrochen durch Momente der Ironie. Ironie entsteht, wo ein Anspruch und eine Gegebenheit derart aufeinander treffen, daß der Anspruch die Bedingungen seiner Realisierung hoffnungslos verfehlt. Der Anspruch, den der Landmesser K. und fast alle Gestalten Kafkas erheben, ist, kurz gesagt, kein anderer als der »faustische«: daß nämlich Wille und Welt letztlich auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können, mit dessen Hilfe sich die Welt dem Willen beugen läßt, ihm das Beanspruchte gewährt, Erkenntnis, Meisterung des Wirklichen, Beständigkeit, Ewigkeit. Immer hat der Mensch, heimlich oder bewußt, der Welt schon seine Vorschriften auferlegt: eine Rechnung angesetzt, die aufgehen muß. Aber Kafka stellt immer wieder, und in einer Fülle eindringlichster Bilder dar, daß der Mensch so nicht mit dem Wirklichen umgehen kann. Die Ironie zeigt sich darin, daß das Wirkliche die erweckten Erwartungen nicht erfüllt: was als schwer erscheint, erweist sich als leicht zu Erringendes; was als selbstverständlich beansprucht wird, entzieht sich dem leicht angesetzten Griff; das Erhabene gebärdet sich banal, ja es gefällt sich in der niedersten Erscheinung. So ent-täuscht das Reale immer wieder, 71und nicht nur zufällig, den Menschen, der ihm gleichsam seinen Charakter vorwegnehmen zu können glaubt. Die Abgesandten und Beamten des Schlosses durchbrechen immer wieder den Raum des Respektes, der um sie gelegt wird, sie zeigen sich bestürzend menschlich, klein, kindisch, pedantisch, jedes Pathos zerstörend. Kafka treibt das Stilelement der Ironie oft bis zum Unerträglichen, Gewöhnlichen, Widerlichen. Das Paradox, ja das Skandalon wird zum Ausweis des Absoluten. Dem Menschen wird sein Ernst, mit dem er den Entscheidungen begegnen zu müssen glaubt, nicht gelassen, weil er auch hierin sein Bewußtsein zum Maß des Seins zu machen sucht.
Was bedeutet nun diese Krisis des faustischen Selbstbewußtseins für den Menschen und seine Lage? Kein Zweifel, daß hier ein ganz neues Prinzip gesucht wird, aus dem heraus die menschliche Existenz gestaltet werden soll. Der Faust ist im weitesten Sinne eine Gestalt des Selbstverständnisses der »Aufklärung« – der Weg zur Meisterung des Lebens geht über die Erkenntnis, die Wissenschaft, die Klärung aller Welträtsel und auf dem so gesicherten Boden erst zum Werk, das auf Bestand Anspruch erheben kann. Die Welt Kafkas dagegen weist die Vorstöße der Aufklärung zurück; sie ergibt sich dem Menschen erst als Heimat, als rechtmäßig zueigen, wenn er sich seinerseits unterworfen hat. Der Mensch Kafkas ist der Mensch, der sich nur selbst gewinnt in der Unterwerfung, im Verzicht auf den faustischen Anspruch. Aber, ist das nicht gerade die Haltung, deren Gefährdung durch Tyrannei und Diktatur, durch absolute Unfreiheit uns mehr als fragwürdig erscheint? Es ist die Formel geprägt worden, der Mensch der Gegenwart befinde sich auf der »Flucht vor der Freiheit«, und alle seine Niederlagen seien dieser Flucht zuzuschreiben. Hier wird man sehr genau und sorgfältig abwägen müssen: zweifellos ist der Mensch, der den Zusammenbruch der neuzeitlichen Aufklärung erleben mußte, ein Mensch der »Unterwerfung«. Das zeigt sich auf allen Gebieten, insbesondere auf dem der Kunst, wo erstmals der Versuch gemacht worden ist, sich in echter Preisgabe der Gewalt der Dinge zu unterwerfen, sie nicht unter die Bedingungen unseres Sehens und unserer Zwecke zu beugen, sondern sie von sich aus das sein zu lassen, was sie sind; ich erinnere an Rilke, der m. W. zuerst die Begriffe der »Aufklärung« und der »Unterwerfung« zur Beschreibung seiner dichterischen Situation gegenübergestellt hat, 72oder an Franz Marc, der die Natur, insbesondere das Tier, in seinem, nicht in unserem Bewußtsein darzustellen versuchte. Aber auch die Wissenschaft, insbesondere die Physik, hat Grenzen der Objektivierbarkeit, und d. h. der menschlichen Verfügbarkeit, abgesteckt und als endgültige anerkannt. So bereitet sich überall ein neues Selbstbewußtsein, eine neue Weltbeziehung vor, die im Gegensatz zum Pathos der Aufklärung steht und die sich als echte Unterwerfung charakterisieren läßt.
Aber eben auf dieses Moment der Echtheit kommt es an. Die Unterwerfung kann nicht wiederum ihrerseits zum Mittel gemacht werden, um die Welt und das eigene Dasein besser zu beherrschen. Sie läßt sich nicht willkürlich vorwegnehmen, gleichsam um sich selbst ihre Härte zu ersparen. Kafkas Landmesser K. hätte sich nicht einfach sein furchtbares Mißverständnis, sein hoffnungsloses Ringen bis zur Erschöpfung durch einen vorzeitigen Akt der Unterwerfung ersparen können. Den Tod beliebig vorausnehmen zu dürfen, um ihn nicht als Willkür zu erleiden, dieser große und immer noch bestechende Irrtum der stoischen Ethik, bedeutet vollends die technische Usurpierung unseres Seins, die es zugleich zerstört. Alle Mißverständnisse der Unterwerfung, an denen wir leiden und leiden werden, beruhen auf dem einen, daß wir diesen Akt selbst als technisches Instrument uns verfügbar machen, uns sichern wollen. Die Voreiligkeit, sich Diktatoren gleichsam schon im voraus zu unterwerfen, um sie für sich unschädlich zu machen, ist nur ein Symptom dieses Mißverständnisses. Überhaupt gehört die Macht nicht in den Bereich dessen, dem Unterwerfung gebührt, denn sie ist selbst ein technisches Phänomen. Kafka sieht, nicht anders als Rilke oder Marc, als das der Unterwerfung Würdige nur ein Absolutes, das Sein selbst, dem wir uns beugen. Das Faustische bleibt unser Lebensstil, es ist nicht einfach durchgestrichen; aber es treibt immer auf eine echte und notwendige Krisis zu, den Eintritt der Sorge. Die Sorge läßt sich durch keine »Vor-Sorge« vorwegnehmen u. entkräften.
Zeitalter d. verworrenen Unterwerfung. Wirtin zu K: »Dort im Hof haben Sie vergeblich auf Klamm gewartet und hier im Protokoll haben Sie Klamm vergeblich warten lassen. Wie verwirrt, wie verwirrt sind Sie!«
Letztlich ist die Unterwerfung als echte nichts anderes als der radikale, 73nun erst sichtbar gewordene Ernst dessen, was Goethe die Ehrfurcht genannt hat, freilich nicht mehr die Realität e. Gefühls, sondern d. Antwort auf eine Not d. Existenz in d. Welt, zu der wir nicht mehr uns als legitime Erben d. Herrschaft betrachten können.74