Graham Greene oder die Zweideutigkeit der Gnade

 

 

Die Neigung des Lesers kriminalistischer und abenteuerlicher »Reißer« geht nicht gerade dahin, dem Autor allzu genau auf die Finger zu sehen; und zumeist lohnt es ja auch nicht den Verlust des gespannten Eingefangenseins, noch zu wissen, wie der Verfasser es »macht« – denn daß er es »macht«, steht fest: nur die schlechten Zeitungen wollen uns glauben machen, die Welt sei wirklich so spannend wie ein Kriminal- oder Abenteuerroman. Obwohl doch zweifellos in unserer gegenwärtigen Welt reichlich genug »passiert«, scheint der Vorrat an Langeweile eher zu- als abzunehmen, wenn man das Angebot der Mittel, sie zu zerstreuen, zum Maßstab nimmt. Wer wollte dem Kinobesucher, der sich zwei nicht leicht verdiente Stunden hindurch vom »Dritten Mann« in Atem halten läßt, erzählen, im Grunde sei seine eigene Existenz nicht weniger spannend als das Geschehen auf der Leinwand? Etwa der Drehbuchautor dieses Films selbst? Diese Frage wird uns beschäftigen.

Natürlich würde auch Graham Greene zugeben müssen, daß seine Romane und Drehbücher »gemacht« sind, sogar sehr raffiniert gemacht; daß die Handlungen kunstvoll aufgebaute, ja sogar selten glaubwürdige Konstruktionen sind. Aber Graham Greene würde nicht zugeben, daß er mit der Spannung, die er gibt, etwas Neues und Künstliches in eine im Grunde langweilige und spannungslose Welt hineinpflanzt. Mögen Handlungen und Gestalten immerhin kühn erfunden sein – das Prinzip des Eigentlichen dieser Romane, ihrer »Spannung«, ist nicht nur ein technisches Rezept, ein geschickter Kunstgriff, sondern es hat mit unserer Wirklichkeit sehr viel zu tun, es ist sozusagen dem Prinzip ihrer Struktur nachgebildet. Also gerade die Behauptung, der Autor »mache« die Spannung, sie sei ein rein technisches Problem, das durch Anwendung einiger erprobter Stilmittel gelöst werden könne, sie entstehe durch kunstvolle Irreführungen, Umwege, Aufschübe als ganz automatische psychische Reaktion des Lesers – diese Behauptung würde Graham Greene für seine Tätigkeit als Schriftsteller sicher zurückweisen.75

Man kann auf diese Feststellung sehr leicht die Probe machen, wenn man einmal Greenes Reisebuch aus Mexiko »Lawless Roads« (»Gesetzlose Straßen«) zur Hand nimmt. Obwohl dem Autor auf dieser mexikanischen Reise eigentlich herzlich wenig »passiert« ist, gehört doch das Buch gewiß zu den spannendsten seiner Gattung. Und zwar deshalb, weil es Greene gelungen ist, mit Auge und Ohr durch die Oberfläche des Sichtbaren und Hörbaren hindurchzustoßen bis dorthin, wo das Gefüge dieser Welt seine echte »Spannung« hat. Mit sicherem Blick hat sich Greene eine Landschaft erwählt, deren geographische Lage und Bedeutung leicht durch eine andere ersetzt werden könnte, deren geistige Topographie aber einzigartig ist: dieses Mexiko liegt genau an der Frontstelle der großen Kraftfelder unserer Gegenwart, es liegt zwischen Rom, New York und Moskau, zwischen Glauben, Fortschritt und Atheismus. Greene kam kurz vor dem zweiten Weltkrieg gerade noch rechtzeitig, um das Ergebnis der großen Kraftprobe, die Amalgame, Ausfällungen und Sprengstücke des gewaltsamen Experiments noch gleichsam »physiognomisch« wahrnehmen zu können. Er ist weder Philosoph noch Theologe, sondern ganz berufsmäßig ein Schriftsteller, der den Möglichkeiten und Quellen dessen nachgeht, was man »Spannung« nennt, und zwar offenkundig aus dem Bewußtsein heraus, daß man solche Spannung nicht zu erfinden und technisch auszulösen braucht, sondern daß sie »da« ist, daß unsere Welt abenteuerlicher ist, als sie erfunden werden könnte.

Indem Greene also professionell den echten Möglichkeiten der »Spannung« nachspürt, bleibt es nicht aus, daß die Sache selbst ihn unversehens in ihre Dimensionen hineinzieht, daß der Autor einiger Kriminalreißer auf die tieferen, ja metaphysischen Fundamente seines eigenen Metiers stößt. Er steht damit gerade in der Literatur seines eigenen Landes nicht allein. Schon Stevenson – übrigens ein entfernter Verwandter Greenes – suchte in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Abenteuer- und Kriminalerzählung aus dem technischen Dreh herauszulösen und für die eine Möglichkeit echterer Spannung zu gewinnen, wie es seine berühmte Novelle »The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde« zeigt. Dann aber war es vor allem Gilbert Keith Chesterton, der in seinen Father-Brown-Geschichten gleichsam die »metaphysische Struktur« des Kriminalfalls herauszudestillieren suchte, der das Prinzip 76aller »Spannung« in den großen Differenzen von Vernunft und Unvernunft, von Glauben und Unglauben sah, der die »echte« Retardation in der Behinderung der gesunden Vernunft und des kindlich reinen Glaubens durch Vorurteile, Gewohnheiten, Konvention und Aberglauben entdeckte. In dieser Richtung hat Graham Greene eingesetzt; auch für ihn ist – um es einmal sehr zugespitzt zu formulieren – »Spannung« nicht ein technisch-psychologisches, sondern ein metaphysisch-theologisches Phänomen.

Je tiefer man den Dingen nachspürt, um so mehr vereinfachen sich die Möglichkeiten, zu denken, zu handeln, seinen Beruf auszuüben, die Vielfalt der Tätigkeiten und Sichtweisen koinzidiert zu wenigen Grundtypen, vielleicht zuletzt, ganz auf dem Grunde der Dinge, zu einem einzigen Typus, von dem wir nicht bestimmt wissen, ob wir ihn als Priester oder als Philosophen oder als Künstler ansprechen müssen. Der Kriminalschriftsteller Graham Greene unterliegt diesem Gesetz nicht weniger, weil er einen etwas von oben herab angesehenen Beruf ausübt, den gewöhnlich geistig ernsthafte Leute nicht für voll zu nehmen pflegen. Aber im Grunde ist dieser Beruf genau so »philosophisch« wie jeder andere, weil eben das menschliche Dasein selbst philosophisch ist. Greene notiert sich über den mexikanischen Revolutionär:

 

»Die Anhänger der proletarischen Revolution haben ihr Leben für eine philosophische Idee eingesetzt. Es ist der einzige Grund, den sie haben, um das grimme Geschäft des Lebens weiter zu führen. Sie werden es nicht einmal vor sich selber zugeben, daß Rußland – oder Mexiko – sie widerlegt hat, solange ihnen nicht als Gegenwert die dramatische Bekehrung zu irgendeinem andern Glauben geboten wird. Niemand vermag das Dasein ohne Philosophie zu ertragen.« (LR 306)

 

Was Greene in Mexiko wahrnimmt, ist die Tatsache, daß der Mensch sein Dasein immer und notwendig aus einer ideellen Position, einem Glauben i. Animationen heraus führt, daß die Schwächung oder Ausrottung des einen von selbst den anderen aufsteigen läßt und schließlich, daß keine äußere Gewalt auf die Dauer dem stärkeren Glauben gewachsen ist, daß die Schwäche des Glaubens aber gerade daran ihr Kriterium hat, daß er nur die nackte Gewalt übrigläßt. In Mexiko ist Greene einer 77der großen Spannungsformen unserer gegenwärtigen Welt, dem Verhältnis von Idee und Macht, Glauben und Gewalt, geradezu im Handgreiflichen begegnet. Ihm wird zum Beispiel von Räuberbanden berichtet, die Menschen ins Gebirge entführen und dafür Lösegeld erpressen, mit dessen Hilfe sie politischen Idealen nachgehen; Greene erkundigt sich:

 

»Was für Rebellen waren das?« – »Die Cristeros«, sagte er. Das waren die katholischen Aufständischen gegen Calles. Es ist typisch für Mexiko, vielleicht für die Menschheit überhaupt – zuerst Gewalt im Dienste einer Idee, und dann verschwindet die Idee und nur die Gewalt dauert fort. (LR 54)

 

Ein solches Land wie Mexiko ist nicht nur ein Bereich bestimmter geistiger Eigenarten, kultureller Formen, folkloristischer Stileinheit, sondern eine Zone der Entscheidung, die nur hier fallen und nirgendwo sonst vorweggenommen oder nachgeholt werden kann: ein Land – eine geistige Existenz.

Eine Grenze zu überschreiten, das ist also für Greene das Betreten und Sich-Öffnen eines Raumes von bestürzender Einzigkeit:

 

Grenze bedeutet mehr als ein Zollhaus, Paßkontrolle und eine Wache unter Gewehr. Drüben wird alles anders sein; das Leben wird nicht mehr dasselbe sein, wenn man einmal seinen Paß gestempelt hat und sich ohne Sprache unter den Geldwechslern befindet. Der Landschaftsenthusiast träumt von unbekannten Wäldern und unbetretenen Gebirgen; der Romantiker glaubt, daß die Frauen über der Grenze schöner und williger sind als die daheim; der Unglückliche erwartet zumindest eine andere Hölle und der Selbstmörder den Tod, den er nirgends findet. Die Stimmung an der Grenze ist Anfangsstimmung; sie hat etwas von einer guten Beichte: der Schwebezustand einiger glücklicher Augenblicke zwischen Sünde und Sünde. (LR 15)

 

Schon die erste Mahlzeit in dem eben betretenen Raum gibt dem, der sehen und schmecken kann, etwas von dem zu spüren, was in diesem Raum geschieht, die echten Möglichkeiten als Horizont aller Fakten. Könnte man ein Frühstück überhaupt mit einigem metaphorischen Sinn »nihilistisch« nennen, dieses hier wäre es:

 

78Das Gabelfrühstück war schauerlich: wie das Essen in einem Traum, es schmeckte nach gar nichts, und zwar auf eine aufdringliche Art, so daß gerade der fehlende Geschmack das Widerliche war. (LR 36)

 

Die Phänomene dieses Raumes sind in einer oft grotesken Weise zweideutig; ein und dieselbe Erscheinung kann dieses oder jenes ideelle Element zur Mitteilbarkeit bringen – eben diese Auswechselbarkeit der Idee unter der konstanten Oberfläche der Formen und Haltungen ist das Kennzeichen der nihilistischen Zone.

 

Eine öffentliche Tanzunterhaltung war im Gang voll verblichener Provinzeleganz – man konnte die sich drehenden Paare schräg in den großen, mit der Marke »Cerveza Moctezuma« versehenen Brauereiwandspiegeln erblicken. Punkt neun Uhr dreißig wurde die Straßenbeleuchtung – die Gruppen zu je vier Kugellampen, die wie Ballons an jeder Ecke der Plaza von häßlichen Oberleitungsdrähten herabhingen – ausgeschaltet. Und vermutlich fand auch die Tanzunterhaltung ein Ende. Denn dies war ebenso der Puritaner- wie der Gottlosenstaat. (LR 163)

 

Für die Entscheidung, die sich in einer solchen minimal. Zone vorbereitet, stellt nur der eine Potenz dar, der gegen diese Art von Zweideutigkeit gefeit ist, wer einen unverwechselbaren und unvertauschbaren Kern in sich beständig hält. Wer also wird zum Zuge kommen?

 

Ich glaube, es gab in Mexiko nur zwei Menschenklassen, die mir wirklich gefielen – die Priester und die Flieger. Sie waren neu für Mexiko, mit ihrem Stolz auf Geschichtstradition, ihrem Schneid, ihrer asketischen Einfachheit […]. (LR 167)

 

Die Flieger vertreten das amerikanische Kraftfeld, den Fortschritt, die sachliche Einheit von Idee und Haltung in der technischen Funktion. Aber die Priester – stehen sie nicht in einer furchtbareren Zweideutigkeit als alle anderen? Greene unterhält sich mit einem schottischen Arzt über die Kirchenverfolgung durch Garrido im Staate Tabasco:

 

[…] die Priester in Tabasco waren vortrefflich. Es gab keine Begründung für die Verfolgung in diesem Staate – außer obskures, persönliches Ressentiment, Garrido selbst war katholisch erzogen worden: seine Eltern waren fromme Leute. 79Ich fragte nach dem aus Chiapas geflohenen Priester. »Oh«, sagte er, »der war bloß, was wir einen Whiskypriester nennen.« Er hatte ihm einen seiner Söhne zur Taufe gebracht, aber der Priester war betrunken und bestand darauf, dem Täufling den Namen Brigitta zu geben. An dem armen Kerl hatten sie nicht viel verloren […]; doch wer weiß, welche Heimsuchung, Drangsal und Vereinsamung ihn entschuldigt haben mögen in Gottes Augen? (LR 177f.)

 

Aus dem Keim dieser Notiz ist einer der beiden bedeutendsten Romane Greenes gewachsen, die Schilderung eines mexikanischen Priesterschicksals während der Kirchenverfolgung in »The Power and the Glory« (»Die Kraft und die Herrlichkeit«). In diesem Land voll nihilistischer Zweideutigkeiten ist Greene die eine, aus ihrem Grunde echte und wahrhaftige Zweideutigkeit begegnet, die von menschlicher Schuld und göttlicher Gnade. Mit sicherem Blick hat er die Möglichkeit der einzigartigen Spannung in diesem Motiv gesehen: der Spannung zwischen der sichtbaren Wirklichkeit, die ein Mensch in dem Bewußtsein der anderen und sogar in seinem eigenen hat, einerseits, und der Wirklichkeit, die er vor Gott besitzt, andererseits zwischen der Gestalt des verächtlichen Whiskypriesters und der des zum Zeugnis Berufenen in einer Person, zwischen dem hier Unmöglichen und dem dort Möglichen.[1] Greene erkennt, daß die tiefste Dimension von »Spannung«, von wildester, unvermuteter Abenteuerlichkeit, die religiöse Dimension ist. Kein tropischer Urwald, keine arktische »terra nova« bietet solche Möglichkeiten des bestürzend Fremden und Ungeheuerlichen wie die uralte theologische Aussage, Gott sei der schlechthin Andere, dessen Wille und Tat das uns Geläufige und Vertraute mit der Gewalt des Paradoxen zerbrechen.[2]

Das Wesen des Abenteuerlichen gewinnt eine seltsame Legitimität. Der moderne Mensch, der aus der Tradition der neuzeitlichen Aufklärung und des Rationalismus, des wissenschaftlichen Fortschritts hervorwächst, der sich durch den ehernen und gesetzlich verbürgten Gang der Dinge getragen und gesichert glaubte, war alles andere als abenteuerlich. Er 80entrückte die Möglichkeit des Abenteuers in unwirkliche, exotische Ferne; er mußte technisches Raffinement bemühen, um sich die Illusion der Gefährdung, des Wagnisses zu verschaffen, die Spannung zwischen der eigenen, rational regulierten, wohltemperierten und technisch verfügbaren Welt und der Begegnung des unverstehbar und unverlässig Fremden, das keinem Gesetz, keiner Formel sich unterwirft. So entstand die Stiltradition des Abenteuerromans. Der klassische Abenteurer hatte einen heroischen Zug, er zog aus in weite Fernen, um Abenteuer zu suchen, sich auf sie einzulassen. Graham Greene erkennt, daß der gegenwärtige Mensch nicht auszuziehen braucht, um dem Abenteuer zu begegnen, daß er nur tief genug in sich selbst hineinsteigen muß, um die wirklichen Fährnisse der Existenz zu erfahren. Dieses Abenteuer hat gründlich den Zug des Heroisch-Übermenschlichen verloren, es unterliegt nicht mehr unserer Wahl und unserem Entschluß, ihm zu begegnen, es zeigt sich gerade in der Durchschnittlichkeit des alltäglichen Menschen. Das Abenteuerliche schießt mitten unter uns empor – und der Abenteuerroman wird zur legitimen Aussageform einer alle angehenden, aber den meisten verborgenen Wirklichkeit.

So alltäglich, schwach und gewöhnlich wie alle sind die Gestalten Greenes. Dieser Whiskypriester zum Beispiel, der von seiner Angst vor den Schergen des totalitären Regimes gejagt wird, der gefangen ist in seiner menschlichen Dürftigkeit und verfallen dem Laster des Alkohols, beladen mit der schwersten Sünde seines Standes, die in einem Kinde fortlebt – und trotz allem ausgesetzt an das ganz Andere, das ihn wider sich selbst ergreift, ihn aus dem schon erreichten Asyl zurückruft durch den Mund eines verächtlichen, längst durchschauten Verräters und ihm die Kraft der Selbstverständlichkeit für das Martyrium verleiht. Die abenteuerliche Fremde ist nicht mehr die herkömmliche Szenerie – Urwald, Packeis, Bestien, Wilde –, es ist die Tiefe der menschlichen Existenz für den Menschen selbst in der Geläufigkeit seines Bewußtseins. Dieses Bewußtsein wiederholt sich immer wieder: »Ich bin mir über mich selbst klar. Ich habe immer gewußt, was ich tue« – und lebt doch schon aus einer ganz anderen, unergriffenen und ungreifbaren Dimension heraus.

Aber ist diese »Aufhebung« des Menschlichen, dieses Ins-Unrechtsetzen der geläufigen Erfahrung überhaupt noch – um mit Kant zu reden – 81ein »Gegenstand möglicher Erfahrung« und damit ein möglicher Gegenstand der Gestaltung im Kunstwerk, im Roman? Ist solche Gestaltung nicht auf das Faßbare im weitesten Sinne notwendig angewiesen? Auch bei einem aufgeschlossenen Leser trifft man immer wieder auf die ganz im faßbar Realen bleibende Auffassung, die zum Beispiel in dem Mexiko-Roman Greenes eine rein politische, sehr aktuelle Thematik wahrnimmt: daß der Mensch, der auf seiner individuellen Überzeugung besteht, im totalitären Staat zum Verfolgten und Gejagten wird. Solche individuelle Überzeugung hat hier die erfahrungsgemäß besonders exponierte Form des religiösen Bekenntnisses, dessen Träger zudem ein Funktionär dieses Bekenntnisses ist. Der sogenannte, heute vielberufene und geforderte »theologische Roman« wäre unter diesem Aspekt nichts anderes als eine spezifische Form innerhalb der Gattung des psychologischen Romans, der sich seit Balzac und Dostojewski das literarische Feld erobert hat und dessen aufs höchste verfeinerte Mittel ihn auch dieser neuen Aufgabe gewachsen erscheinen lassen.

Es wäre leichtfertig, diese Auffassung ohne weiteres von der Hand zu weisen. Gehört solche doppelte Deutbarkeit vielleicht zum Wesen des Gegenstandes, dessen sich der Roman angenommen hat? Der Autor reflektiert ja nicht über die Gestalten und das Geschehen, er enthält sich jeder ausdrücklichen Weisung für das Verständnis, er zwingt den Leser nicht wahrzunehmen, daß die Phänomene eine Rückseite haben. Aber nimmt der Roman hinsichtlich der Möglichkeit seiner theologischen Deutung nicht teil an der wesenhaften Doppeldeutigkeit der wirklichen Welt selbst? Ob man sie ohne Gott verstehen kann oder mit Gott verstehen muß, das entscheidet sich im Verstehenden als seine eigenste Möglichkeit. Was bei Greene der psychologischen Technik entzogen ist, was im Motivzusammenhang der Gestalten nicht aufgeht, was in der Dichte des Menschlichen als befremdlich Fremdes aufsteigt, das kann sich nicht eindeutig der Auffassung entziehen, es sei eben als dieses Befremdliche das Abnorme, Pathologische, Zwanghafte. Niemand kann dem Leser einreden und Greene versucht das auch nicht, das Transzendente anzuerkennen, wo er nur die Immanenz durchbrochen sieht.

Und Greene ist sparsam mit solchen Bruchstellen. Der Whiskypriester ist eine eindeutige und schlüssig entwickelte Figur – Angst, Schuld, Feigheit, Schnaps – bis zu dem Punkt, an dem das ihm Unmögliche zu 82geschehen scheint: die Rückkehr in den Raum der Gefahr, die er deutlich erkennt, gerufen durch den verräterischen Mestizen, den er durchschaut, um einer zweifelhaften Reue willen, die Blindheit und Selbstverständlichkeit seines Gehorsams. Aber eben dies alles ist doch wiederum möglich als Zwangsvorstellung einer imaginären Pflicht, als hypnotische Übertölpelung seiner Müdigkeit oder als äußerste Verzweiflung dessen, der mit seinem Schuldbewußtsein nicht fertig wird – oder als Aufflammen des legitim Religiösen, als Durchbruch der Gnade, als Unbedingtheit der Unterwerfung unter den Ruf des Absoluten, als Glut des Glaubens, die sich im Martyrium erfüllen will. Nichts vermag den Leser vor dieser Alternative zwingend festzulegen. Im Sichtbaren wie im Roman ist Gott ebenso leicht imaginär wie wirklich. Die Korrelate d. Glaubens sind im Roman noch nicht »da«; sie haben ihre Gegenwärtigkeit allein dadurch, daß er sich selbst im Verständnis der Wirklichkeit voraussetzt. Der sogenannte »theologische Roman« ist – wenn überhaupt dies eine sinnhaltige Formel sein soll – nichts anderes als die Umkehrung, die der Leser mit dem »psychologischen Roman« vollzieht. Freilich liegt der Ansatz solcher »Umkehrung« in den Bruchstellen, an denen der Autor – ob mit religiös-theologischem Bewußtsein und Absehen oder nicht, ist für die Glaubwürdigkeit gleichgültig – den immanenten Motivationszusammenhang nicht zu schließen vermochte.[3]

Etwas vom Wesen aller Kunst tritt hier in schärfster Zuspitzung zutage: daß das Werk kein Objekt ist, das seine Aussage beliebig hergibt, das in öffentlicher Eindeutigkeit dasteht wie der Gegenstand der Wissenschaft, sondern sich erst im Dialog mit dem, der es empfängt, versteht und auslegt, zu seinem integralen Sinn erhebt. Wie das mittelalterliche Sakralkunstwerk erst im Frommen seine Wirklichkeit erreicht und das ist, was es sein will, so ist auch der Roman, der religiöse Gehalte aufnimmt und gestaltet, aus sich selbst ohnmächtig, diese eindeutig zu realisieren. Er kann nur Möglichkeiten dieser Valenzen frei lassen, an denen sich der Leser so oder so entscheidet.

Vielleicht noch schärfer als in dem Mexiko-Roman zeigt sich diese wesenhafte Doppeldeutigkeit in einem anderen Werk Greenes, das ausge83sprochen im Gewand des Kriminalromans auftritt. In »Brighton Rock« rollt das kriminalistische Geschehen ab wie überall sonst: Pinkie, ein 17jähriger Verbrecher und Mörder, der an seinem Milieu gescheitert ist, wird schließlich von der Gerechtigkeit ereilt, die durch eine handfeste, nüchterne Frau verkörpert ist; Ida, personifizierter »common sense«, robuster, geradliniger Menschenverstand, jagt ihn bis in die ausweglose Situation, die nur den äußersten Entschluß übrig läßt. So weit ist alles geläufig. Aber da ist noch das Mädchen Rose, die Pinkie an sich binden muß, weil sie ihm gefährlich werden kann. Sie glaubt, über allen Verdacht hinweg, an seine Liebe; sie liebt bedingungslos, blind, demütig, zu jedem Gehorsam bereit. Aber eben darin ist sie zweideutig: erliegt sie triebhafter Schwäche, der Lähmung durch den dämonischen Willen des anderen bis zu sexueller Hörigkeit oder manifestiert sich in ihr die übervernünftige Liebe, die bis an den Rand der Hoffnung den Glauben an den Menschen nicht preisgibt, weil sie ihn im Lichte transzendenter, Gott vorbehaltener Möglichkeiten sieht? Wieder gibt es keine zwingend schlüssige Antwort; die Gestalt des Mädchens entzieht sich der handfesten Greifbarkeit, die die anderen Figuren des Romans besitzen. Und wieder ist der Leser herausgefordert, das ihm Überlassene zu entscheiden.

Religion und Kunst treffen sich hier in der Tiefe ihres Wesens. Die Überlassenheit der Glaubenswahrheit an den Glaubenden macht die »Knechtsgestalt« des Religiösen aus, von der das Neue Testament im Hinblick auf die Verborgenheit Gottes in der Niedrigkeit der Menschengestalt spricht, die Selbstentäußerung der absoluten göttlichen Macht in die Preisgabe an den menschlichen Glauben hinein. Immer und aus seinem Wesen hat das Religiöse zwei Seiten seiner Erscheinung: es ist genau so kulturelles, geschichtliches, psychologisches Phänomen, es lebt aus hohen und niedrigen Motiven, vermischt sich bis zur Unkenntlichkeit mit dem Wahn und dem Abnormen, wie es bestürzende Offenbarung des Absoluten, alles durchflutende Gewißheit, bergeversetzende Kraft ist.

Graham Greene, den wir auf der Jagd nach dem tiefsten Prinzip der »Spannung« sahen, hat dieses Prinzip zu seiner reinsten, absoluten metaphysischen Sublimierung vorangetrieben, bis in jenen Dualismus von Sein und Nichts, Gut und Böse, dessen sich schon das junge Christen84tum gegenüber der gnostischen Häresie zu erwehren hatte. Denn der christlichen Theologie ist ein absoluter Gegensatz zwischen dem Prinzip des Guten und dem Prinzip des Bösen fremd: nur die Quelle des Seins und des Guten, Gott, ist absolut, der Teufel aber »nur« der gefallene Engel, der seinen diabolischen Willen zum Nichts niemals vollends durchsetzen kann und deshalb selbst ein Verdammter ist. An diesem Punkt ist Greene von der Idee der metaphysischen »Spannung« über seine christlichen Voraussetzungen hinausgetrieben worden: das Mädchen Rose, die Begnadete, die Dienerin des Seins, ist in Pinkie dem puren Haß, dem personifizierten Bösen konfrontiert. Daß Greene es so gemeint hat, wird sehr deutlich an dem Untergang Pinkies, der sich im Nichts verliert:

 

Was dann geschah, wurde Rose nicht klar. Glas brach in Stücke – irgendwo, Pinkie schrie auf, sie sah sein Gesicht – dampfen. Er schrie und schrie, die Hände vor den Augen. Wandte sich um und rannte. Sie sah den Polizeiknüppel an seinen Füßen und Glasscherben. In unsinniger Qual zusammengebogen, sah er nur halb so groß aus wie gewöhnlich: es war, als hätten ihn buchstäblich die Flammen erfaßt, als schrumpfe er zusammen – zu einem Schulknaben, der in panischem Schrecken davonstob, über eine Hecke klomm, weiterraste. »Haltet ihn!« rief Dallow. Es nutzte nichts: er war schon am Rand, hatte über die Klippe gesetzt – nicht einmal ein Aufschlagen konnten sie hören. Es war, als habe eine Hand ihn plötzlich jedweder Existenz, vergangener oder gegenwärtiger, entrückt – als sei er in die Leere, ins Nichts verschlungen worden.

 

Das Gute existiert in diesem Roman, so könnte man sagen, nur kraft seines absoluten Gegensatzes zum Bösen. Diese Konzeption scheint tief in Greene verwurzelt zu sein; in der Einleitung zu den »Lawless Roads« berichtet er von seinem Kinderglauben:

 

Man begann an den Himmel zu glauben, weil man an die Hölle glaubte […].

 

Gut und Böse sind letzte Möglichkeiten der Existenz, die sich unvergleichbar und absolut gegenüberstehen. Man kann sich – und Pinkie tut es – dem Nichts genau so verschreiben und es anbeten, wie man sich Gott überliefern kann. Greene steht hier in einer verborgenen Auseinandersetzung mit einem der frühen Geister des französischen »renou85veau catholique«, Charles Péguy, auf den ohne Namensnennung offensichtlich in der Beichtszene in »Brighton Rock« angespielt ist.

 

Rose konnte den alten Kopf, der sich gegen das Gitter neigte, gerade nur sehen. Der Priester hatte einen pfeifenden Atem. Er hörte zu – geduldig – pfeifend, während sie mühsam die ganze Qual vor ihm ausbreitete. Sie konnte hören, wie die Frauen, die draußen auf die Beichte warteten, gereizt mit den Stühlen knarrten. »Das ist es, was ich bereue«, sagte sie. »Daß ich nicht mit ihm gegangen bin.« Trotzig, herausfordernd und tränenlos sprach sie in den muffigen Kasten; der alte Priester hatte den Schnupfen und roch nach Eukalyptus. Mit freundlicher, nasaler Stimme sagte er: »Fahr fort, meine Tochter.«

Sie begann wieder: »Ich wollte, ich hätte mich umgebracht. Ich hätt' mich umbringen sollen.«

Der Greis wollte etwas einwenden, aber sie unterbrach ihn. »Ich bitte nicht um Absolution. Ich will keine Absolution. Ich will sein wie er – verdammt.« Der Greis pfiff beim Atemholen. Sie war davon überzeugt, daß er nichts begriff. Eintönig erwiderte sie: »Ich wollt', ich hätte mich umgebracht.« In der Leidenschaft ihres Elends preßte sie die Hände an ihre Brüste: sie war nicht gekommen, um zu beichten, sie war gekommen, um zu denken – zu Hause konnte sie nicht denken, wo der Ofen nicht an war und der Vater brummte und die Mutter – sie merkte es ihren hinterhältigen Fragen an – darüber spekulierte, wieviel Geld Pinkie ‌… Jetzt hätte sie den Mut gefunden, sich zu töten, wenn ihr nur nicht so angst gewesen wäre, sie könnten einander in jenem dunklen Land des Todes verfehlen, dem einen könnte irgendwie Gnade zuteil werden und dem anderen nicht […].

Plötzlich begann der alte Mann zu reden. Er pfiff dabei und blies seinen Eukalyptusatem durch das Gitter. »Da war einmal ein Mann, ein Franzose«, sagte er, »du, meine Tochter, kennst seinen Namen nicht, der hatte dieselbe Idee wie du. Er war ein guter Mann, ein heiliger Mann, und er lebte sein ganzes Leben lang in Sünde, weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, daß irgendeine Seele der Verdammung anheimfallen sollte.« Erstaunt hörte sie ihm zu. Er fuhr fort: »Dieser Mann beschloß, daß er mitverdammt werden wollte, falls irgendeine andere Seele verdammt werden würde. Er nahm nie die Sakramente, er ließ sich nie in der Kirche mit seiner Frau trauen. Ich weiß es nicht, mein Kind, aber es gibt Leute, die meinen, er wäre – nun, ein Heiliger gewesen. Ich glaube, er starb in dem Zustand, der uns als Todsünde geschildert wird. Sicher bin ich nicht – es war im Krieg: vielleicht ‌…« Er seufzte – und stieß ein Pfeifen aus, beugte sein altes Haupt. »Du, meine Tochter«, sagte er, »kannst die ‌… furchtbare ‌… Seltsamkeit der Gnade Gottes nicht ermessen – so wenig wie ich oder sonst jemand.«

Draußen knarrten die Stühle einmal ums andere – die Leute wurden ungeduldig, 86wollten gern ihre eigene Reue, Sündenvergebung und Buße für die Woche hinter sich bringen. Er sprach: »Es war so ein Fall – –: größere Liebe kennet niemand, denn daß er seine Seele hingebe für seinen Freund.«

Er erschauerte und nieste. »Wir müssen hoffen und beten«, sagte er, »hoffen und beten. Die Kirche verlangt nicht, daß wir glauben sollen, irgendeiner Seele sei die Gnade auf immerdar versagt.« […]

»Ich möchte hoffen«, sagte sie, »aber ich weiß nicht, wie.« »Wenn er dich geliebt hat«, sagte der Greis, »so beweist das, daß doch etwas Gutes ‌…«

 

Aber Greene zerschlägt erbarmungslos den winzigen Rest der Hoffnung: nirgendwo wird Roses Liebe Pinkie wiederfinden, weil er ins Nichts zerstäubt ist, weil er der pure Haß, das reine Böse war. Am Schluß des Romans wartet auf das Mädchen noch die Schallplatte, die Pinkie ihr hinterlassen hat und die ihr seine Bosheit nackt enthüllen wird:

 

In der spärlichen Junisonne schritt sie rasch dahin – dem furchtbarsten Grauen von allen entgegen.

 

Wie viele der Zeitgenossen ist Greene fasziniert von der Wiederentdeckung der Hölle, des Nichts, die jahrhundertelang unter dem selbstsicheren Seinsoptimismus und Weltvertrauen der Neuzeit verborgen waren und nur Bestandstücke des Kanzelrepertoires und Kinderschrecks zu bilden schienen.[4] Die Welt, die man eben noch als potentielles Paradies einzurichten gewiß war, zeigte sich in enger Nachbarschaft der dämonischen Bereiche, des Nichts. Aber Greene ist in dieser Faszination nicht stecken geblieben; er hat das Problem weiter gedacht und aus dem Dualismus herausgeführt. Die Gestalt, an der er dies zu realisieren suchte, ist die Gestalt des Sünders. Den Teufel Pinkie bekam das Nichts, aber nicht den Sünder Scobie. Hier, in »The Heart of the Matter« (»Das Herz aller Dinge«), ist das Drama von Schuld und Gnade nicht in zwei Gestalten aufgeteilt, sondern im Herzen des Sünders durchgespielt.

Die Handlung läuft während des zweiten Weltkrieges in einer Kolonie Westafrikas ab. Der Polizeichef Scobie ist ein nüchterner Durch87schnittsmensch, gebunden an die harten Lebensbedingungen der tropischen Zone, an die äußeren und inneren Gefährdungen seines Dienstes und an eine klein angelegte, ehrgeizige Frau, für die er sich mehr aus Mitleid als aus Liebe verantwortlich fühlt. Als ihn diese Frau, um dem mörderischen Klima zu entfliehen, für längere Zeit allein zurückläßt, verstrickt sich Scobie in eine Bindung an eine junge Witwe, die er bei seinen selbstlosen Bemühungen um die Überlebenden einer Schiffsversenkung kennenlernt. Durch die unerwartete Rückkehr seiner Frau wird er unter unerträglichen Gewissensdruck gesetzt und entzieht sich der ausweglosen Situation, indem er unter Vortäuschung einer schweren Krankheit freiwillig aus dem Leben scheidet.

 

Sobald er hörte, wie sich die Schlafzimmertür (hinter seiner Frau [HB]) schloß, holte er die Zigarettenschachtel hervor, in der er die zehn Tabletten Evipan aufbewahrt hatte. Um ganz sicher zu gehen, fügte er noch zwei hinzu – eine Überschreitung der vorgeschriebenen Dosierung um ganze zwei Tabletten in zehn Tagen würde wohl kaum Verdacht erregen. Hierauf trank er ein großes Glas Whisky aus und saß ganz still und wartete, bis ihm der Mut zum letzten Schritt kommen würde; die Tabletten lagen wie Samenkörner in seiner hohlen Hand. »Jetzt bin ich ganz allein«, dachte er, »das ist der Gefrierpunkt.«

Aber das war eine Täuschung. Auch die Einsamkeit hat eine Stimme. Sie sprach zu ihm. »Wirf diese Tabletten weg! Nie wieder wird es dir gelingen, genug davon zusammenzubekommen. Du bist gerettet! Gib das Theaterspielen auf! Geh hinauf ins Schlafzimmer und schlafe dich gründlich aus! Am Morgen wird dich dein Boy wecken, du wirst zur Polizeidirektion fahren und dort deiner gewohnten Arbeit nachgehen.« …

»Nein, nein!« rief Scobie mit lauter Stimme. Er schob die Tabletten in den Mund, je sechs auf einmal, und spülte sie mit zwei Zügen aus dem Wasserglas hinunter ‌… Danach saß er geraume Zeit kerzengerade am Tisch und wartete, wie es ihm schien, sehr lange auf irgendein Anzeichen des nahenden Todes; er hatte keine klare Vorstellung, in welcher Gestalt er kommen werde. Er versuchte zu beten, aber das »Gegrüßt seist Du, Maria« war seinem Gedächtnis entschwunden; nur das dumpfe Pochen seines Herzens verspürte er gleich einer Turmuhr, die schwer die Stunde schlägt. Dann versuchte er es mit dem Reuegebet, aber als er zu den Worten kam, mit denen er Gott um Verzeihung bitten sollte, da bildete sich plötzlich über der Tür eine Wolke, die herabgeschwebt kam und das ganze Zimmer einhüllte, und er konnte sich nicht mehr entsinnen, wofür er um Verzeihung zu bitten hätte. Mit beiden Händen mußte er sich 88stützen, um sich aufrecht zu halten. Irgendwo in weiter Ferne vermeinte er plötzlich Schmerzensschreie zu hören. »Ein Gewitter!« rief er, während die Wolke wuchs; er wollte sich erheben und das Fenster schließen ‌… Er hatte das Empfinden, daß draußen jemand nach ihm suche, ihn rufe, und machte eine letzte Anstrengung, dem andern zu sagen, wo er sei. Er raffte sich wieder auf und lauschte, vernahm aber nur das Hämmern seines Herzens. Er hatte eine Botschaft zu übergeben, doch die Finsternis und das Gewitter jagten sie in seine Brust zurück; und draußen vor dem Haus, außerhalb der Welt, die wie Hammerschläge in seinen Ohren dröhnte, irrte jemand umher, der den Weg zu ihm herein finden wollte, jemand der seine Hilfe erheischte, der seiner dringend bedurfte. Bei diesem Notschrei, diesem Hilferuf eines Wesens in Gefahr, ermannte sich Scobie wie von selbst zur Tat. Aus unendlicher Tiefe holte er mühsam sein Bewußtsein hervor, um irgendeine Antwort zu geben. Mit lauter Stimme rief er: »Lieber Gott, ich liebe ‌…«, aber die Anstrengung war zu gewaltig; er fühlte nicht mehr, wie sein Körper auf dem Boden aufschlug, und hörte nicht mehr, wie mit leisem Klingeln das Medaillon gleich einer Münze unter den Eisschrank wirbelte – die Heilige, an deren Namen sich niemand mehr erinnern konnte.

 

Schon Dostojewski hatte erkannt, daß man im Roman nicht unmittelbar von Gott sprechen kann, aber daß man nur dem »großen Sünder« Gestalt zu geben braucht, um das Thema »Gott« unablässig in der Unterstimme mitzuführen.[5] Dies ist der Schritt, den Greene zu vollziehen sucht: nicht mehr Gott als das absolute Prinzip des Seins vom absoluten Nichts her vernehmbar zu machen, sondern ihn im Sünder als dem Abgrund seiner Liebe widerzuspiegeln.

Die Sünde ist nicht das schiere Nichts; sie ist vielmehr die Herausforderung der göttlichen Liebe, der Grund, auf dem Gott und Mensch einander notwendig werden. Deshalb wird die Sünde gezeigt als die Möglichkeit gerade des »guten Menschen«, der Scobie ist. Er liebt die anderen, und gerade dann, wenn es nicht leicht ist, wenn man von ihnen so viel weiß, daß man sie »beinahe so lieben kann, wie Gott die Menschen liebt«, nämlich im schmerzhaften Wissen um ihre Schwäche und Niedrigkeit. Ein guter Mensch zu sein, das gewährleistet noch nichts; im Gegenteil, es ist vielleicht die einzige Chance, die die Versuchung hat. Pas89cal sagt einmal in seinen »Pensées«: »Wenn man die Tugend nur bis zu ihren Extremen verfolgt, kommt die Sünde zum Vorschein, in die sie unmerklich übergeht ‌…« Dies ist das Thema Greenes, das Gegenteil einer dualistischen Simplifizierung. Die Tugend hat nicht mehr jene Eindeutigkeit, die sie in der antiken Ethik besaß; sie ist in sich selbst versucherisch. Erst der Mensch, der sich dem unbedingten Anspruch der Liebe, des Mitleids, der Güte zu unterwerfen sucht, kann im Widerstreit der Realität zwischen den Forderungen zerrieben werden, kann an seinem Gutsein verzweifeln. Wem nichts verbindlich ist, der wirft mühelos beiseite, was ihn daran hindert, der nächsten Lockung zu folgen. »Verzweiflung ist der Preis, den man bezahlen muß, wenn man sich ein unerreichbares Ziel gesteckt hat ‌… Verzweiflung ist, so heißt es, die Sünde, für die es keine Verzeihung gibt, aber sie ist eine Sünde, die der verderbte, der schlechte Mensch nie begeht.« Sie ist deshalb die Situation, in der die »ultima ratio«, das letzte Aufgebot des Menschen der »prima ratio«, dem Heilswillen Gottes in seiner ganzen Größe begegnet.

Aber was liegt dem Verzweifelten, der unter dem Anspruch der Liebe und des Mitleids nicht mehr aus noch ein weiß, näher, als die absolute Einsamkeit zu wählen, das pure, unbezogene, unverantwortliche Alleinsein, der Entschluß, endgültig darauf zu verzichten, ein »guter Mensch« zu sein? Die Flucht vor den Menschen und die Flucht vor Gott ist die nihilistische Versuchung, die den an der Möglichkeit der Tugend gescheiterten Scobie packt, die trügerische Vorspiegelung einer letzten Chance des Glückes:

 

Später hatte Scobie das Gefühl, daß dies die äußerste Grenze des Glückes gewesen war, die er je erreicht hatte: in der Finsternis zu sein, allein, im fallenden Regen, ohne Liebe oder Mitleid.

 

Der Selbstmord ist die letzte Konsequenz dieser gesuchten Vereinsamung, der unaufhaltsamen Gravitation in den Solipsismus, ins Nichts. Hier eröffnet sich eine furchtbare Perversion des Gedankens der Erlösung, die der mit dem Sein Zerfallene nur noch darin für möglich hält, verlassen und vergessen zu werden, von allem und allen, selbst von Gott.

 

90O Gott, wenn Du mich liebst, wie ich weiß, daß Du mich liebst, dann hilf mir doch dabei, Dich zu verlassen. Lieber Gott, vergiß mich.

 

Das ist die letzte Falltiefe der Sünde, auch für Gott nicht mehr zu sein. Und es ist zugleich die Möglichkeit der Verdammnis und der Begnadigung, daß eben dies nicht möglich ist, daß es das Gegenteil des Seins, das absolute Widerspiel Gottes, das Nichts, das auch für Gott nicht wäre, nicht gibt. Die Möglichkeit der Verdammnis – weil die Sehnsucht des Sünders im Trotz, Gott endgültig zu entfliehen, ihm unerreichbar zu werden, in Ewigkeit nicht in Erfüllung gehen kann (und was könnte die Hölle anderes sein als dies ewige Gestelltsein gegen die Empörung des Willens, dies Geschlagensein der Freiheit mit sich selbst?). Und die Möglichkeit der Begnadigung – weil eben dies, für Gott schlechthin nicht nicht-sein zu können, auch eine Not und Notwendigkeit Gottes in sich schließt, das einmal ins Dasein gerufene Wesen mit dem höchsten Aufgebot der Liebe zu jagen und zu verfolgen bis in die äußersten Winkel seiner Verzweiflung und seines Trotzes hinein. Wer anders sucht verzweifelt den Weg zu dem Verzweifelten, wer anders stößt den »Notschrei, den Hilferuf eines Wesens in Gefahr« aus, von dem Scobie vor dem Nichts zurückgerissen wird, als Gott selbst? Er ist dieses Wesen in Gefahr, weil es um seine Schöpfung, um das Sein, um die verpfändete Liebe geht und dies alles ganz auf das letzte Wort des Menschen, auf seine Hilfe angewiesen ist. Greene hat dieser theologischen Konzeption zuliebe in der Todesszene Scobies einmal seine handfeste, prall realistische Optik, vielleicht die legitimen Möglichkeiten des Romans überhaupt, verlassen; er hat die Doppeldeutigkeit gewagt, das Unbezeugbare auszusagen um den Preis, daß hier eine toxisch bedingte Halluzination, ein Phänomen der Agonie übrig bleiben kann. Aber der Vorwurf, Greene habe den »Deus ex machina« des barocken Theaters wieder eingeführt, verfehlt die Tiefe der Konzeption: Gott ist hier nicht ein technischer Faktor, der die hoffnungslos verfahrene Handlung doch noch zum guten Ende zu bringen hat, er ist ganz und gar nicht der Überraschende und Zufällige, sondern der Notwendige, der das Sein, im Augenblick seiner höchsten Gefährdung durch das Nichts, liebend und väterlich an sich nimmt. Die theologische Wendung ist weder autonome Gewalttat Gottes noch die eigenmächtige Leistung des Menschen, son91dern das Zueinanderstoßen beider im Zentrum ihrer Notwendigkeit. Zerschlug sich für den Teufel Pinkie am Ende auch der letzte winzige Rest an Hoffnung, so steht am Ende von »The Heart of the matter« groß und unwidersprochen die Hoffnung, die der Pater Rank ausspricht:

 

»Es mag vielleicht sonderbar klingen – wenn ein Mensch so sehr im Unrecht war wie er –, aber ich glaube ernstlich, nach allem, was ich über ihn weiß, daß er Gott wahrhaft liebte.«

 

War es das Kennzeichen der Sünde, das sie in die Einsamkeit trieb, so ist es das Charakteristikum der Gnade im Sichtbaren, daß sie Einsamkeit aufhebt.[6] Nur den Teufel Pinkie holt das Mädchen Rose nicht aus seiner eisigen Verlorenheit zurück. In dem Roman »The Confidential Agent« übergibt der gejagte, in der Fremde trostlos Einsame und nur auf seine Waffe setzende Agent den Revolver dem Mädchen, das er liebt:

 

Er überließ ihn ihr ohne ein Wort. Es war seine erste Handlung, die von Vertrauen erfüllt war.

 

In »A Gun for Sale« (»Das Attentat«) wird Raven, der durch sein sichtbares Mal Ausgeschlossene, Vereinsamte, ins Verbrechen Gejagte in einer grausigen Nacht in einem Güterschuppen, schon umstellt von der Polizei, durch das Mädchen Anne vor dem Absturz in die Verzweiflung bewahrt. Und ähnlich ist die Situation wieder in »Stambul Train« (»Orientexpreß«), als die Tänzerin Coral Musker bei dem schwer verwundeten Revolutionär Dr. Czinner zurückbleibt, wie selbstverständlich den Geliebten für immer verfehlt, um den Sterbenden vor der letzten Einsamkeit zu bewahren. Diese Szenen sind Schlüsselszenen bei Greene; von ihnen her legen sich die inneren Fäden der verwirrend bunten Romanhandlungen offen. Daß diese Tänzerin und dieser Revolutionär die Gegenspieler eines sehr tiefen Konfliktes sind, das scheint die prall realistische Abenteuerwelt des internationalen Expreßzuges so dicht zuzudecken, daß die Interpretation in den Verdacht kommen 92kann, eine Art Hinterwelt hineinzuzaubern. Die Tänzerin und der Revolutionär sind die Spannungspole des Geschehens. Dr. Czinner ist Rationalist, Sozialist, Atheist. Er verkörpert den Menschen, der sich berufen weiß, die Dinge von Grund auf neu zu regeln. Und weil er glaubt, daß ein Gott den Menschen in seiner letzten Entschlossenheit, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, stört, ihn zum Hinnehmen und Sich-abfinden verleitet, deshalb ist Czinner Atheist. Der Gläubige kann nie ein Mensch der absoluten Aktion, der totalen Mobilisierung der Kräfte sein. Es gehört deshalb zum Pathos dieses Sozialisten alten Stils, jede Erwartung außerhalb der eigenen Kraft auszuschalten.

 

Dr. Czinner hatte dieses Licht mit seinem eigenen Atem ausgeblasen, weil er sich sagte, daß Gott nur eine Erfindung der Reichen sei, um die Armen niederzuhalten; er hatte dieses Licht mit einer gewissen Geste ausgeblasen, einem merkwürdigen, altmodischen Gefühl von Tollkühnheit, und empfand mitunter einen unvernünftigen Groll gegen jene, die bereits ohne religiöses Gefühl geboren waren und deshalb über den heiligen Ernst des Bilderstürmers aus dem 19. Jahrhundert lachen konnten.

 

Die Tänzerin Coral Musker ist wesentlich anders. Es ist zwar nirgendwo im Roman gesagt, daß sie irgendein religiöses Bewußtsein hätte, ja es ist nicht einmal wahrscheinlich, daß sie an Gott glaubt. Aber sie existiert, als ob sie es täte, sie ist im Grunde ihres Wesens religiös. Freilich, da hier kein Wort fällt, das nicht profan wäre und profan verstanden werden kann, kann dieses Wesentliche ebenso gesehen wie übersehen werden, es kann sich so gut als psychischer Typus, als konstitutive Schwäche, als neurotisches Symptom wie als ein solches, das seine Bedingung in der Gewißheit eines transzendenten Bezuges der Dinge hat, präsentieren. In der scharfen Sichtbarkeit der Todesstunde des Revolutionärs hat Greene das verborgene, metaphysische Gegenspiel der beiden Gestalten, die sich bis dahin nur flüchtig berührt haben, geradezu physiognomisch deutlich werden lassen:

 

Selbst im Tode, unter dem flackernden bläulichen Licht eines Stücks Zeitungspapier, war der völlige Mangel an Humor in diesem Gesicht auffallend. Vielleicht hatte er, ungleich den meisten Männern, nie eine Frau besessen. »Hätte er mit einem Menschen zusammengelebt, der ihn gelegentlich ausgelacht hätte«, 93dachte sie, »würde er jetzt nicht tot hier liegen; er hätte alles nicht so ernst genommen, hätte gelernt, nicht so viel Aufhebens von den Dingen zu machen, sondern ihnen ihren Lauf zu lassen. Es ist das einzig Mögliche.«

 

Von dieser Konfrontation her wird ein viel früheres Ereignis der Romanhandlung transparent, eine der kühnsten Szenen, die Greene geschrieben hat: die Hingabe der Tänzerin an den zwielichtigen Juden Myatt. Dieser sucht das Erlebnis mit dem geringsten Einsatz, im kurzen beiläufigen Auftauchen aus seinen geschäftlichen Überlegungen »mitzunehmen«. Aber wie unversehens diese Beiläufigkeit mißlingt, sich bricht an einer so zwingenden Erfahrung, daß alle Gewohnheit und Gewöhnlichkeit für einen kurzen Augenblick aufreißt, das sprengt den Zusammenhang möglicher Motivation, die Dichte der realistischen Deskription:

 

»Ich liebe dich«, sagte sie, »wirklich«. Das Gefühl des Ungewöhnlichen verstärkte sich in ihm. Es war ihm, als wäre er von daheim auf einem vertrauten Weg aufgebrochen, am Gaswerk vorüber, über die rote Ziegelbrücke, die über den Wimble führt, und quer durch die Felder, und befände sich nun nicht in dem Heckenweg, der hügelan zur neuangelegten Straße und den Bungalows verläuft, sondern am Eingang zu einem fremden Wald und einem schattigen Pfad, den er nie gegangen war und der Gott weiß wohin führte.

 

Hier ist keine mächtige orchestrierte Überwältigung, kein Blitzschlag göttlicher Gegenwart, nur das Stutzen vor dem Unerwarteten, die Fremdheit, die den Umschlag der Dimension verrät. Noch viel später, in Stambul, als schon die Wogen – die nicht ganz wasserklaren – seines Alltags wieder über ihm zusammengeschlagen sind und er sich ganz ins Berechenbar-Käufliche zurückgefunden hat, mit der Planung einer »glatten und wohlgeordneten Zukunft« beschäftigt, zuckt die Erinnerung noch einmal in ihm auf:

 

Er dachte an Coral und an die plötzliche Fremdheit in ihrer Begegnung, als er eben geglaubt hatte, daß alles an ihr so alltäglich wäre wie Zigarettenrauch.

 

Er hatte das Mädchen unterwegs, irgendwo auf dem Balkan, durch eine unglückliche Verkettung der Umstände verloren. Die Suche nach ihr, 94mit einem unwahrscheinlich tollkühnen Einsatz, der eine Ahnung der betretenen Dimension verrät, unternommen, scheitert symbolhaft nur an der trennenden Bretterwand, hinter der Coral die Einsamkeit des sterbenden Revolutionärs teilt. Der Prospekt der Welt schließt sich wieder zu der undurchdringlichen Dichte und prallen, sich genügenden Wirklichkeit, deren adäquate Darstellung auf den ersten Blick die ganze schriftstellerische Meisterschaft Greenes zu beanspruchen scheint. Erst die Rückhaltlosigkeit, mit der die Realität ernst genommen wird, läßt den Punkt erreichen, an dem die wirklichen Entscheidungen fallen.95



[1] Luther: peccator et justus

[2] Herkunft d. Aussage: Spätantike, fremde Welt, dämonischer Kosmos, abenteuerliche Existenz

[3] Gegensatz Jünger

[4] Das Nichts i. Bereich d. vern.-rationalen Denkens

[5] Kühne Anfechtbarkeit dieser Szene

[6] Verwurzelung des Zusammenhanges u. Greene selbst → Tgb. IV, 19. III. 51