Sartre oder Der Absolutismus der Freiheit

 

 

Sartres Denken und sein Theater – beides ist nicht voneinander zu trennen: so wie seine Dramen philosophisch sind, sind seine philosophischen Schriften – an der Spitze »L'être et le néant« – dramatisch. Das soll sagen: weder dort noch hier ist es mit dem Bescheidwissen und dem Zuschauen getan; es ist eine Aktion ausgelöst – im Denken, auf der Bühne –, der man sich nicht entziehen kann. Die gewichtigen Formeln der Deuter und die grotesken Bräuche und Bärte der Jünger waren die Symptome des ersten Versuchs, mit der lästigen Andringlichkeit der Sache fertig zu werden, den Anspruch ins Harmlose abzuleiten.

Wer Sartres neues Drama »Der Teufel und der liebe Gott« gesehen hat, wird es nicht leicht haben, Stellung zu nehmen. Sartre selbst hat uns die meisten, die gängigsten Wege des Verstehens gründlich abgeschnitten. Weder die historische Lokalisation noch die psychologische Einfühlung geben wesentliche Hilfen. Es genügt nicht, die Motive des Helden zu untersuchen, sein Handeln und seinen Charakter in ein begründetes Verhältnis zu setzen. Denn – und das ist das Verblüffende – diese Gestalten haben überhaupt nicht das, was wir gemeinhin Charakter, Anlage, Motive, Eigenschaften nennen – mit einem Wort: sie haben kein »Wesen«, aus dem heraus sie leben, handeln und verstehbar sind. Aber diese Wesenlosigkeit – die jeden Versuch der Bühnendarstellung zu einer Kühnheit macht – entspringt nicht etwa dem Unvermögen des Autors; sie ist vielmehr, paradoxerweise, das eigentliche Medium seiner Aussage.

Der Mensch ist frei. Das ist einer der Fundamentalsätze der abendländischen Geisteswelt. Sartre nun glaubt, die Behauptung wagen zu können, dieser Satz sei bisher überhaupt noch nicht verstanden worden. Bisher habe der abendländische Mensch seine Würde, den Boden seines Daseins und Handelns stets in einem inneren, unverfügbaren Wesenskern erkannt. Mögen auch die Namen für diese Daseinsmitte gewechselt haben – zunächst: Gottebenbildlichkeit, unsterbliche Seele, später: Ver102nunft, dann: Persönlichkeit, schließlich: Charakter, Bewußtsein –, immer war hier ein Zentrum anerkannt, über das die Freiheit nicht verfügte, weil sie selbst von dort her bestimmt und begründet wurde.

Sartre aber sagt: nicht die Freiheit ist derart begründet, sondern sie erst begründet ihrerseits, was der Mensch wesentlich ist. Er macht sich selbst zu dem, was er sein will. Nichts anderes bedeutet der als dunkel verschrieene Hauptsatz dieser Philosophie: »Die Existenz geht der Essenz voraus.« Und nichts anderes verkörpert die Gestalt des Götz: »Pfarrer, ich habe etwas aus mir gemacht!« Und was macht er aus sich! Er geht seiner »Vorliebe für das Endgültige« bis ins blutige Extrem nach. Im Bösen ist er »als Ungeheuer wirklich vollkommen«, und im Guten ist er das blasphemische Duplikat des Erlösers, des Heiligen. Gut und Böse verlieren ihren alten Sinn als die Urmöglichkeiten menschlicher Entscheidung; sie sind nur noch Metaphern der Freiheit, wesenlos und auswechselbar in freiester Selbstverfügung, bis sie als irreführende Hülsen fortgeworfen werden.

Von hier aus ist es nur noch ein konsequenter Schritt zu sagen: der Mensch ist absolut. Das alte Prädikat Gottes, der als unbedingt und ganz aus sich selbst wirklich und wirkend geglaubt wurde, geht auf den Menschen über. Wenn der Mensch wirklich frei ist, dann ist er absolut. Wenn der Mensch absolut ist, dann kann er Gott nicht mehr sein. Ein Gott aber, der nicht absolut wäre, ist kein Gott. »Heinrich, ich möchte dir noch eine tolle Posse erzählen: Gott existiert nämlich nicht«, sagt Götz zu dem Pfarrer von Worms.

Der Atheismus Sartres ist die präzise Konsequenz seines Absolutismus der Freiheit. Gegen diese Konsequenz gibt es keinen Einspruch. Diskutieren kann man nur über ihre Prämissen. Vielleicht kommen wir Sartres Theater am fruchtbarsten bei, wenn wir es als geistiges Experiment verstehen, dem die Idee der absoluten Freiheit als Hypothese zugrunde gelegt ist. Sartre exponiert sich in seinem Theater mehr, als Philosophen es im allgemeinen zu tun pflegen. Er stellt nicht nur Thesen auf, er argumentiert nicht nur. Er stellt sich auch selbst der Frage, ob und wie man denn im Raum seiner Thesen leben könne. Dieses Problem treibt den Dramatiker hervor. Und dieses Problem springt aus dem Feld der Bühne auf den beteiligten und einbezogenen Zuschauer über. Gestellt ist nicht mehr die Frage: Was ist dieser Held für ein Charakter? Wie ist sein 103Handeln zu erklären?, sondern die viel dringlichere, uns auf den Leib rückende Frage: Ist der Mensch wahrhaftig dessen fähig? Halten wir die Last dieser Freiheit aus? Kann ich so leben?

Sartre stellt sich uns, indem er Theater schreibt. Aber indem er sich uns stellt, stellt er auch uns. Er glaubt nicht mehr daran, daß sich auf seine Fragen allgemein verbindliche Antworten geben ließen. Er will uns zwingen, nicht mehr die Antworten anderer, sondern die unsrige zu geben. Das Theater erscheint ihm als der Raum, in dem das möglich wird. Es ist von vernichtender Ungemäßheit, daß aus dieser Philosophie eine »Mode« werden konnte, daß in ihrem Namen mehr zitiert worden ist als jemals sonst.

In »Der Teufel und der liebe Gott« werden nicht nur die Fragen aufgeworfen, sondern es wird auch reiches Material der Stellungnahme vor uns ausgebreitet. Wie kann der freie, der absolute Mensch leben? Dieser Götz lebt gleichsam »von oben nach unten«, ganz vom Großen, vom Unbedingten her. »Ich will das Gute nun einmal nicht kleinweise tun«, sagt er. Der absolute Mensch ist der Mensch ohne Dank. »Was mir gehören soll, das nehme ich mir schon selbst … Ich lasse mir nichts mehr schenken, nicht einmal die Zärtlichkeit einer Frau …« Sartre ist offen genug, uns die nackte Furchtbarkeit dessen zu enthüllen, was die Aussage vom absoluten Menschen bedeutet. Der Pfarrer Heinrich wirft sie Götz in einem einzigen Satz vor, der allein schon zu dieser Philosophie eine ganze Gegenphilosophie in nuce enthält: »Wenn Gott nicht existiert, so gibt es kein Mittel mehr, den Menschen zu entrinnen.«105