Nur selten erfüllen die intimen Hinterlassenschaften einer bedeutenden Gestalt die Erwartungen, die in sie gesetzt werden. Allzuoft enthüllt sich der Substanzverzehr, mit dem das große Werk, die bleibende Leistung sich aus dem Untergrund der Menschlichkeit genährt haben. Und da gibt es noch ärgere Enttäuschungen: welcher Schlag etwa für die Rilke-Deuter, heute zu erfahren, daß die Gott-Gedichte des »Stundenbuches« ursprünglich Beschwörungen irdischer Liebe waren!
Schon in seiner 1937 zuerst erschienenen Biographie Franz Kafkas hat uns Max Brod mit Hinweisen und einzelnen Zitaten auf ein entscheidendes Dokument im Nachlaß des Dichters vorbereitet, den im November 1919 geschriebenen umfangreichen »Brief an den Vater«, in dem Kafka als Sechsunddreißigjähriger seinen grundlegenden Lebenskonflikt aufrollt. In den seit dieser Ankündigung verflossenen Jahren ist der Verfasser der Romane »Das Schloß« und »Der Prozeß« zum Mittelpunkt des literarischen Weltinteresses geworden. Der Druck der Neugierde nach den Hintergründen dieses Werkes hat die Zurückhaltung des Nachlaßverwahrers Max Brod überwältigt: in den Heften von S. Fischers »Neuer Rundschau« ist der »Brief an den Vater« erstmalig vollständig abgedruckt worden.
Und dies ist ein wirklich bedeutendes Dokument! Die Hinausschiebung der Publikation hat die glückliche Folge, daß es nicht mehr der schon verebbten psychoanalytischen Modewelle zum Opfer fällt und dadurch seiner Gültigkeit beraubt werden kann. Die Versuchung allerdings, nun alle Grundstrukturen des Werkes Kafkas auf dieses überwältigend starke Vatererlebnis zurückzuführen, bleibt bestehen, auch wenn man die psychische Unterwelt Sigmund Freuds aus dem Spiele läßt. Denn dieser Vater hat all die Eigenschaften, die in den Romanen und Erzählungen Kafkas anonymen Mächten eigen sind – dem Instanzenlabyrinth des »Schlosses« und der zwielichtigen Bürokratie des Gerichtes im »Prozeß« –: er ist ein »absoluter« Vater, unter dessen Macht und Regiment alle sonst verläßlichen Wirklichkeiten förmlich verdampfen und nur 106das Gefühl einer bodenlosen Nichtigkeit zurücklassen. Ebenso notwendig wie sinn- und hoffnungslos sind die Anstrengungen des Sohnes, sich gegen diesen Vater zu behaupten, neben ihm auch sein zu können.
Aber nun erhebt sich eine Frage, die dem Brief eine mehr als persönliche, ja mehr als literarhistorische Bedeutung gibt: ist dieser »riesige Mann«, das »Maß aller Dinge«, die »letzte Instanz«, der alles »fast ohne Grund« tut, ist er eine Wirklichkeit oder ist er ein Mythos? Konnte der Vater dieser längst vergangenen Kindheit so sein, wie ihn der 36jährige Kafka vor sich sieht? Ich wage, das in Zweifel zu ziehen und der psychologischen Deutung des Zusammenhanges zwischen Vatererlebnis und Transzendenzbewußtsein bei Kafka entgegenzutreten. Hier liegt vielmehr ein ganz ursprüngliches und tief eingewurzeltes Bewußtsein des Absoluten zugrunde, dem die Erfüllung mit den religiösen Vorstellungen des östlichen Judentums, aus dem Kafka entstammt, nicht gelungen ist und das deshalb antlitzlos, unzentriert, anonym geblieben ist, sich als bleierne Atmosphäre über diese Lebenslandschaft gelegt hat. Aus einer inneren Notwendigkeit heraus hat Kafka die Leere dieser gottlosen Religiosität »besetzt«, zuerst und immer wieder mit dem Vater – der sich dazu freilich recht gut geeignet haben mag – dann aber auch mit den wechselnden Bildern und Symbolen seiner Dichtungen, die sich erst von diesem Zentrum her dem Verständnis erschließen.
Die menschliche Situation, die sich in diesem Vatermythos niederschlägt, ist von exemplarischer Gültigkeit; in ihr kommt das innere Schicksal einer Epoche zu Wort und Gestalt, deren Bewußtsein des Absoluten und der Transzendenz sich nicht mehr an den überlieferten religiösen Gehalten erfüllt und deshalb mit unausweichlicher Notwendigkeit immer neue »Besetzungen« dieser Leere vornimmt – Symbole, Ideologien, politische, ästhetische, erotische Platzhalter des Absoluten. Kafkas Vater, dem gegenüber alle im Unrecht waren, der souverän den Unterschied von Wahr und Falsch festsetzte, vor dem Wirklichkeit und Nichts geschieden wurden, ist die unmittelbarste mythische Umschreibung dieser Grunderfahrung.
Zwei Formen der Selbstbehauptung hat Kafka in seinem Leben zu verwirklichen versucht, zwei Arten, gleichsam Sein ins Nichts hinein zu gründen: das Schreiben und die Ehe. Die erste Form ist von ihm selbst in seinem Testament verworfen worden, indem er die Vernichtung sei107ner Manuskripte anordnete; der andere Versuch ist ihm in grotesker Weise immer wieder mißlungen. Sieht er im Schreiben zunächst eine Möglichkeit zu vergessen, daß »mit uns gespielt wird«, so bezeichnet er seine Heiratsversuche als den »großartigsten und hoffnungsreichsten Rettungsversuch«, »das Äußerste, das einem Menschen überhaupt gelingen kann«. Aber auch diese Anstrengung, »bis zu einem reinen Plätzchen auf der Erde hinzukriechen, wo manchmal die Sonne hinscheint und man sich ein wenig wärmen kann«, zerbricht an dem »riesigen Mann«, der gerade auf diesem seinem »eigensten Gebiet«, Familienhaupt und Vater zu sein, niemand neben sich duldet.
Das ist mehr, als ein realer Vater jemals »bedeuten« kann; es ist die Sphäre der Sisyphos, Prometheus, Tantalus und Atlas. Aus dem Boden einer übermächtigen Not am Absoluten ist dieser Vater ins beklemmende Überdimensionale emporgewachsen, dem Anonymen seinen Namen, dem Antlitzlosen sein Gesicht leihend. Und es ist gewiß nicht zufällig, daß eben der Name des »Vaters«, der am Anfang unseres weltgeschichtlichen Äons mit dem Namen Gottes zu einem Inbegriff der Liebe verschmolzen ist, nun in der Krise dieses Äons der furchtbaren Anonymität des Nichts zufällt.109