Utopien – hinterher gelesen

 

 

Immer wenn der milliardenschwere S. Woolf, gejagt von seinen überdimensionalen Finanzprojekten und selbst auf der Jagd nach der unwiederbringlichen Minute, den »nächsten Zug nimmt« – dann zerstäubt der Bann, in den seit nun vierzig Jahren Bernhard Kellermanns berühmter »Tunnel« Hunderttausende von Lesern gezwungen hat. »Ich muß bekennen, daß mich die Zeit überholt hat«, sagt am Schluß des Romans der Held, der Ingenieur MacAllan, der in fünfundzwanzigjähriger Titanenarbeit die Sohle des Ozeans zwischen Europa und Amerika unterminiert hat, um die Kontinente durch eine Schnellbahn zu verbinden.

Die Zeit hat MacAllan überholt; aber er ist seiner Sache sicher, daß sie ihn nicht außer Kurs setzen kann. Er setzt Konkurrenten in seine Rechnung ein, deren Kraft und Schnelligkeit dem Autor im Jahre 1913 so groß erscheinen mußten, daß man heute noch zu spüren glaubt, wie er sich an seinem Stuhl festhalten mußte, ehe er zu Papier brachte: Motorschnellboote, die in zweieinhalb Tagen den Ozean queren, deutsche Riesenluftschiffe, die ihn in sechsunddreißig Stunden überfliegen. Kann MacAllan in seinem Tunnel schneller sein, dann ist sein Werk für unabsehbare Zukunft unübertrefflich. Und er kann! Er wird die Geschwindigkeit seiner Superluxuszüge – mit Kino und Musik! – auf 300- bis 400-Stundenkilomenter erhöhen und damit alles hinter sich lassen, was an Möglichkeiten des Verkehrs in der Welt für Jahrhunderte abzusehen ist.

Es ist leicht, über eine Utopie zu spotten, wenn man sie »hinterher« liest. Aber nicht um des überlegen wissenden Lächelns willen sollte man sie lesen, sondern ganz einfach um einer Erfahrung willen, die man sonst gar nicht so leicht machen kann. Daß die Zeit vergeht, empfinden wir und beklagen wir alle täglich; aber wie die Zeit vergeht, das entzieht sich uns durch die Mechanik unseres Bewußtseins ins Blasse und Ungenaue. Das heute Erregende an Kellermanns Sensationsroman von 1913 ist nicht das utopische Element, dessen Kühnheit noch in den 20er Jahren Riesenauflagen verbürgte; es ist die Wahrnehmung der Differenz zwischen dem, was der menschliche Geist vom Ablauf der Zeit erwarten und vor116wegnehmen, ahnen und fürchten kann, und dem, was die Zeit ihm tatsächlich zuwirft, aufzwingt oder erläßt. Jawohl, »erläßt«! Der vielgelästerte und verfluchte Fortschritt hat es uns erspart, glühende Bohrer durch das Urgestein unter dem Weltmeer zu treiben, Hunderttausende in MacAllans »Hölle« hinsiechen zu lassen, um die Nabelschnur zwischen Amerika und Europa zu ziehen. Die Eleganz der Lösung, die die technische Entwicklung gefunden hat, durch das leichteste Element den unsichtbaren Bogen zwischen den Kontinenten zu spannen, steht für einen Augenblick auf dem dunklen Hintergrund des Tunnel-Infernos in reinem Glanz vor dem Auge des Lesers – bis ihn andere infernalische Assoziationen zu bedrängen beginnen, die 1913 auch noch ferne lagen.

Haben wir es uns zu leicht gemacht? Der Autor des »Tunnel« erhob keine prophetischen Ansprüche. Anders der Engländer H. ‌G. Wells, einer der Protagonisten des utopischen Genres. Er schrieb 1902 in seinen »Anticipations« (was mit »Vorwegnahmen« nicht zu anspruchsvoll übersetzt wäre): »Es ist unwahrscheinlich, daß sich je wieder ein aufgeregter, würdeloser Mann mit gewaltiger Stimme und mit einem unaufhörlich bewegten, muskulösen Gesicht, ein Mann mit zerknülltem Kragen, wirrem Haar und wild geschwungenen Armen, ein Mann, der redet, redet und redet, der aus Fenstern von Eisenbahnwagen redet, der von Hotelbalkonen herab redet – unermüdlich und uneindämmbar –, daß sich ein solcher Mann noch in irgendeinem demokratischen Staat der Welt zum mächtigsten Wesen aufschwingen wird.« Nun, dies hat uns die Zeit nicht erlassen. Kein triumphierendes Lächeln darüber, daß auch dieser Autor, »hinterher« gelesen, Unrecht behält.

Haben wir uns einer Abschweifung, einer garstig politischen dazu, schuldig gemacht? (Es ist der Puls der Zeit, an den wir für einen Augenblick die Hand legen wollten, der einen Zeit, die den Unterschied zwischen Literatur und Politik nicht kennt, die den unverbindlichen Reißer an irgendeinem unerwarteten Punkt mit dem Schicksal der Völker verzahnt (hier – nicht in dem, was er will – liegt die Wirkung des Schriftstellers). Der Mann, der vor allen anderen die Voraussage des H. ‌G. Wells Lügen gestraft hat, empfing – wenn wir seinem Biographen Rudolf Olden Glauben schenken dürfen – den bestimmenden Eindruck von der magischen Macht der demagogischen Rede, als er die erste Ver117filmung von Kellermanns »Tunnel« sah. Das Bild des Agitators, der sich die Massen zum Organ seines Willens formiert, dieses Leitbild, das er bis zur blutigen Konsequenz vollstrecken sollte, stammt aus dem Bezirk der Utopie! Das phantastische Gewebe des Zukunftsromans, nun zur Kuriosität eingetrocknet, hat an einer abgelegenen, vom Autor nur beiläufig belichteten Stelle Virulenz bekommen, bösartige Wucherungen in den Boden der Wirklichkeit getrieben und eine unheimliche Fruchtbarkeit erweckt.

Es lächelt sich nicht mehr ganz so leicht, wenn der milliardenschwere S. Woolf sich in sein Luxusmobil wirft, um mit nicht weniger als 50  PS durch Wallstreet zu jagen – hinter der Zeit her!118