Es war, ich erinnere mich genau, in der Zeit, als wir die entlegensten Bezirke der deutschen Landwirtschaft nach Eßbarem durchforschten, während uns zugleich die große Welt da draußen in niegekannten Werken moderner Literatur bestürzend aufgetan wurde – als ich eines Tages, von solcher Forschungstour heimkehrend, in einem »offenen« Eisenbahnabteil über einem Buche saß, mir gegenüber eine schon leicht amerikanisierte junge Dame, gleichfalls lesend und mich zuweilen wenigstens an dem Abdampf einer Chesterfield teilnehmen lassend. Sie las »Licht im August« von Faulkner, ich konnte es sehen, denn sie ließ es – mit bekenntnishafter Deutlichkeit – mich nicht übersehen. Was ich las, war in mehr als einer Beziehung nicht vergleichbar, es würde nie in die Nähe des Nobelpreises kommen. Aber, und das war das Peinliche, es hatte mich gepackt, noch schlimmer: es rührte mich. Als da schließlich der ordentliche, biedere, strebsame Johannes Pinneberg auf der Friedrichstraße in Berlin vom Bürgersteig gestoßen wird, weil Anzug und Aufzug die lange Arbeitslosigkeit nicht überdauert haben und er »aus der Form« gekommen ist – da wurde es mir ein wenig feucht in den Augen. Es war mir sehr unbehaglich, nicht nur im Hinblick darauf, daß mein Gegenüber mit unbewegter Härte die furchtbare Schicksalsekliptik nachvollzog, die ihr Autor seinen Gestalten verhängte, sondern auch im Interesse meines Autors, der sich hier durch die Rührung seines Lesers, literarischer Minderwertigkeit verdächtig machte.
Erst später wurde mir klar, daß Hans Falladas Roman »Kleiner Mann – was nun?« ein ganz eigenes, unvergleichbares, freilich – von der »Weltliteratur« her gesehen – provinzielles Recht hat. Fallada hat etwas zustande gebracht, was es eigentlich gar nicht mehr geben kann: er hat ein echtes »Volksbuch« geschrieben, die Ballade vom kleinen Mann, für den der »großen« Literatur die Maße überdehnt sind, der ihr durch die Netze geht. Pinneberg und sein »Lämmchen«, ihr ganz kleines Stückchen Lebensglück, dessen Gefährdung, dessen Verlust ein genau 123so großes Unglück ist wie irgendein welterschütternder Zusammenbruch; ihre herzhafte Tapferkeit, die so wenig ausrichtet und doch das einzig Große enthält, das keine andere Rangordnung unter Menschen mitmacht: sich selbst nicht aufzugeben – das ist ohne Pathos, mit der Schlichtheit, deren eine genaue deutsche Prosa fähig ist, ausgesagt und hingestellt. Dieser unverdünnte Bezug auf das substanziell Menschliche in jeder seiner Erscheinungsformen hindert Fallada daran, so etwas wie den Roman der sozialen Anklage zu schreiben, obwohl es überall das Labyrinth der gesellschaftlichen Mißstrukturen ist, in dem sich seine Gestalten verirren, die Stolperschwellen und Fallstricke der Konvention, des heuchlerischen Scheins, über die sie stürzen. Aber keiner fällt, ohne daß er sich fallen läßt; immer ist da eine letzte Instanz spürbar, die in jedem dieser Menschen dem Gebot der äußeren Umstände den Zuschlag gibt oder verweigert.
Was Fallada einen Platz in der deutschen Literatur zwischen erstem und zweitem Weltkrieg sichert, ist der Sinn für Gerechtigkeit, der seine Stoffe wie auch seine Sprache charakterisiert. Nicht zufällig stammt Fallada aus dem Hause eines angesehenen Juristen, das er in »Damals bei uns daheim« geschildert hat. Und nicht zufällig, jedenfalls nicht ohne tiefen Nachhall, war der Konflikt, in den er selbst mit dem Recht geriet. In vielen seiner Romane steht grau und drohend die Realität des Gefängnisses, dessen »Lebensform« und Existenzgewicht er in »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« so unvergeßlich geschildert hat. Die Landschaft des alltäglichen, des durchschnittlichen Lebens, sie ist in diesem schriftstellerischen Werk gleichsam topographisch aufgenommen, bis in die Geologie ihrer Unterschichten erfaßt, bis an ihre Grenzen und Abgründe ausgeleuchtet, in Klima und Helligkeitsgrad nachempfunden, hinsichtlich ihrer gestaltenden Kräfte und zerstörenden Erosionen analysiert. Da ist das Geld, dessen Roman Fallada in »Wolf unter Wölfen« geschrieben hat, am Exempel der Inflation durchgeführt, ein Stachel und ein Strudel, Medium der Freiheit wie der Knechtung, Quelle der Not im Zuwenig, des Überdrusses im Zuviel. Da ist der Trieb, dessen doppeltes Gesicht als bindende und zersprengende Kraft von Fallada mit taktvollem Freimut und ohne modische Effekte sichtbar gemacht wird. Frauengestalten von überzeugender Intensität, von dichterischem Rang der Gestaltung sind Fallada gelungen, insbesondere dort, wo das 124Ruhende und Haltende, der ruhige Atem der Geduld, die Strahlkraft der Hoffnung mit dem Weiblichen verbunden sind.
Fallada ist 1947 gestorben. Er hinterließ den Roman »Der Trinker«, in dem die Dichtigkeit seiner Sprache vollends ausgereift und die Melancholie seiner epischen Grundfigur zu reinem Profil herausgetrieben ist. Erwin Sommer, angesehener und wohlhabender Bürger seiner Stadt, eineinhalb Jahrzehnte glücklich verheiratet, ohne Beziehungen zu Lastern einschließlich des Alkohols, wendet sich fast plötzlich von dieser Wohlanständigkeit ab, wird von der Dämonie des Alkohols förmlich besessen und versinkt. Die »Schrittfolge« dieses Schicksals ist meisterhaft skandiert, das Stutzen und Stolpern, das Zurück und Noch-einmal, das hastig-durstige Eilen, das trunkene Taumeln, das groteske Torkeln, die großen Sprünge zum Abgrund, der schwebende Fall in die Illusion der Befreiung – müßig, hier aufzuzeigen, wie das in der Sprache, in der Raumaufteilung mit der Selbstverständlichkeit des meisterhaften Könnens Ausdruck wird.
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Nachdem man sich so vergewissert hat, daß die Aussage echt und fern von Klischee und seichter Routine entspringt, darf man sich wieder, ohne literarische Reflexion, dem angerührten, dem erschütterten Mitschwingen des inneren Organs überlassen, dem wir mißtrauen und dem wir Härte – sicher allzu viel Härte – anerzogen haben, wovon eingangs die Rede war.125