Rebell gegen die Endlichkeit
Über Gestalt und Werk Thomas Wolfes

J'ai faim, donc je suis.

Das einzige Bild, das ich von Thomas Wolfe kenne, zeigt ihn beim Besteigen einer Berliner Straßenbahn. Straßenbahnen pflegen unbewegt und unempfindlich ihre menschliche Fracht aufzunehmen; aber diese, die ein urwelthafter Hüne am Griff gefaßt hat, sieht bedroht aus in ihrer Würde, eine Vollstraßenbahn zu sein – der Fuß des kolossalen Mannes, der auf ihr Trittbrett gesetzt ist, verwandelt sie zur Miniatur. Aber auch der Mann, mit dem kindlichen Gesicht der Riesen, sieht gefährdet aus, wenn man an den Zuschnitt der Gehäuse denkt, die die moderne Zivilisation bereithält, an die zu kurzen Betten, die zu niedrigen Türen, die zu engen Wände. Unsere Welt ist für seinesgleichen nicht vorgesehen.

Das Bild, das sich den optischen Effekt solcher Leibesgröße nicht entgehen läßt, ist unbeabsichtigt exemplarisch für diesen Schriftsteller, der mit seinem Maß die wirkliche Welt so überbeansprucht, daß nichts ihm gewachsen zu sein scheint. Dabei spielt die Differenz zwischen einer deutschen Straßenbahn und dem zum Maßlosen disponierten Kontinent Amerika keine Rolle – Wolfe ist geboren, die Unendlichkeit zu fordern, und vor dieser Forderung hält keine Größe stand. Indem er mit solch unersättlichem Anspruch an das Leben herantritt, schrumpft es ihm unter den Händen, und der verzweifelte Riese sucht dem, was er für das Opfer seines Zugriffs hält, wieder Odem und Fülle einzuhauchen, es durch Beschwörung und Magie des Wortes neu aufblühen und schwellen zu lassen. Aber daran verschleißt sich auch die Kraft eines Riesen.

So ist das Schicksal des Dichters Thomas Wolfe, das er uns auf den vielen tausend Seiten seines Werkes in immer neuer Spiegelung, auf allen 126Stufen der Gültigkeit beschrieben hat, ein einziges Epos des großen Hungers nach Wirklichkeit, des Traumes vom unendlichen Leben. »Liebend begehrte er alles Leben so sehr, daß ihn der Hunger und Durst danach wahnsinnig machte. Von der Wut, die ihn so mit der Geißel vorantrieb, kann kaum ein Tausendstel gesagt werden, und was gesagt wird, mag unglaublich erscheinen, ist aber wahr. Sein Hunger war so buchstäblich, so grausam, so körperlich, daß er die Erde und alle Menschen auf der Erde zu verschlingen begehrte, und so oft er die Vergeblichkeit dieses Ansinnens spürte, ging er unter in einem Meer des Entsetzens und der Verlassenheit; die große Erde erdrückte ihn dann mit ihrem Schwall von Menschen und Dingen, sie machte ihn krank, unfruchtbar, hoffnungslos, tot.« So beschreibt Wolfe selbst in seiner »Legende vom Hunger des Menschen in der Jugend«, dem Roman »Von Zeit und Strom«, die Grundfigur seines Daseins, der so genau die Struktur seines Werkes bis in Stil und Rhythmus hinein entspricht.

Wolfe hat die Parallele zum Faust nicht nur gesehen, er hat sie gesucht. Er hat die ungeheuerliche Verschärfung bewußt ausgekostet, die mit der Transposition der deutsch-mittelalterlichen Symbolgestalt ins moderne Amerika möglich und notwendig wird. Kühne Variationen über den nächtlichen Faust-Monolog kehren in seinem Werk auf Schritt und Tritt wieder, Beschwörungen des Erdgeistes in den Urgestalten des gewaltigen Kontinents, Walpurgisnächte von unerschöpflicher Fülle der Erscheinungen. Wolfe glaubt an den magischen Urgrund, dessen Berührung dem Menschen Macht über die Dinge gewährt, das Reich der Mütter, in das heimzukehren er immer wieder aufbricht, bis sich ihm das Fazit unabwehrbar aufzwingt, das er in seinem stärksten Roman »Es führt kein Weg zurück« benannt hat. So schonungslos er sich in seinen faustischen Anspruch hineingeworfen hat, so nackt macht er die Fehlrechnung auf, die darin beschlossen war: das Leben ist keine unendliche, unaufzehrbare Substanz, und wer es an sich und in sich hineinreißen will, der braucht es auf, der räumt dem Gegenpart, dem Tode, seinen Anteil ein. Keine Gier, kein Wille dringt über die Mauer der Endlichkeit. Der Tod des Vaters in »Von Zeit und Strom«, des Gewaltigen, des Unüberwindlichen, den zu fällen der Tod immer wieder vergeblich angesetzt hat, erhellt wie ein Blitz das abgründige Geheimnis, die fatale Verkettung von Gewinn und Verlust: »Warum haben wir uns 127vergeudet und unser Leben weggeschmissen? Was ist's denn eigentlich, dieses Furchtbare, das uns dahin bringt, daß wir uns selber wegwerfen und dem Tode nachjagen, während wir doch das Leben begehren?«

Nun, da die Wahrheit sich enthüllt hat, zeigt sich, daß sie schon zuvor in allem versteckt war, versteckt vor allem und zuunterst im Mysterium der Zeit. Um dieses Mysterium kreist Thomas Wolfe in Bildern und Schreien, in Faszination und Verzweiflung. Es graut ihm vor der äußersten Drohung der Irrealität der Zeit, die uns zwingt, alles daranzusetzen, damit wir, wenn der Traum jäh abbrechen sollte, »etwas in der Hand halten, einen fühlbaren, wirklichen Gegenstand, ein Geschenk aus jenem verlorenen Land, ein Zeichen aus jener unbekannten Welt, einen Beweis dafür, daß sie kein Traum war und daß wir wirklich dort waren«. Ist es deshalb, daß Wolfe sein Leben auf Berge von Papier, Zehntausende von Blättern zu fixieren wie besessen ist? Daß er mit dem Aufgebot einer immensen Erinnerungsfähigkeit die erlebte Wirklichkeit, die von der Zeit gleichsam auseinandergezogen, verdünnt ist, zu realerer Realität zu kondensieren, zusammenzuballen sucht? Denn nie genügt die Welt dem Hunger nach dem Wirklichen; sie bedarf daher nicht so sehr der Erhöhung, der Auswahl, der Sublimierung oder gar Verklärung – sondern der Akkumulation, der Auftürmung, des zyklopischen Versuches, das Wirkliche noch wirklicher zu machen.

Dieser Wille prägt den Stil Wolfes. Er liest sich, als sei einer in der Nacht aufgestanden, um eine große Addition, die ihm keine Ruhe ließ, durchzurechnen, eine riesige Summe zu ziehen, eine Summe von Menschen, Büchern, Dingen, Erfahrungen. Aber er zieht diese Summe nicht mit der Ruhe eines Mannes, der sich seines Besitzes versichern will, sondern mit der Bedrängtheit eines Schuldners, der gegen ein unendliches Soll ein Haben immer wieder durchrechnet, ob es nicht doch zur Tilgung der Schuld reicht. Die Summe des Erlebten ist eingekreist und zur Atemlosigkeit bedrängt von der Unsumme des Unerlebten. Wolfe war »gefoltert von allem und jedem, das er nicht erfahren und erleben könnte, geblendet, verdrossen und verzweifelt von dem, was er erlebte und erfuhr«, und sein Stil bringt dieses doppelte Ungenügen aufs genaueste zutage. Jene unstillbare Besitzlust der Mutter, die wir aus der Kindheitssage »Schau heimwärts, Engel!« kennen, kehrt in der Schriftstellerei des Sohnes sublimiert, aber auch radikalisiert wieder: die Welt zu verein128nahmen, zu Buch zu bringen, diese »Anhortungsbesessenheit« ist der Grundzug dieses Schreibens, das sich nie Zeit läßt, auf den präzisen, den haargenauen Ausdruck zu warten, zu insistieren, sondern immer gleich eine ganze Salve von beschwörenden, ausgreifenden Nennungen abfeuert, nicht achtend, ob in der wilden Streuung die Mitte des Gemeinten auch getroffen wird.

Bis zu jener Entsagung, die der Unendlichkeit des Stoffes die Chance gibt, sich zur Endlichkeit einer Form zu kristallisieren, hat es Wolfe nicht mehr gebracht, zu schnell löste der Tod seinen Schuldschein ein. Was Wolfe erst im Tode gelang – das Diktum der Endlichkeit anzunehmen –, das muß in der Form des großen Kunstwerkes schon vollzogen sein, wenn ihm letzte Gültigkeit zugebilligt werden soll. Wolfe ist noch zu sehr befangen in der Gewalt des eigenen Lebensrausches, als daß ihm die Qualität des großen Epikers, die ihm nachgesagt wird, erreichbar sein konnte. Seine Fähigkeit als Tragiker hat Wolfe selbst, bei Gelegenheit der Schilderung einer Vorlesung seines einzigen Dramas »Mannerhouse«, fast ironisch-distanziert dahingestellt sein lassen. Und doch ist es vielleicht das Fazit, das uns sein Werk zu ziehen übrig läßt, daß die Essenz dieses Lebens und dieser Dichtung tragisch ist, tragisch in einer Dimension des Konflikts, die nur dem Riesen, dem Faust noch zugänglich ist, dort, wo der Mensch mit dem Sein selbst, der Endliche mit dem Unendlichen im Streite liegt. Diesem Streit entspringt die Zeit als das reine Medium des Tragischen; in ihr sind Begegnung und Abschied eins, und dauernd ist nur das Nicht-mehr und das Nie-wieder des Gewesenen. Die Zeit ist nicht der Behälter der Dinge und Erlebnisse, sie ist ein reißendes Tier, ein gieriger Abgrund, sie ist das einzig Wirkliche, das sein Sein an allem Seienden mästet, das bleibt, indem es alles andere verschlingt. Weil Wolfe die Zeit verzweifelt durchleiden mußte, versagte sie sich ihm als Form; in diesem kritischen Mangel liegt die Gültigkeit seines Werkes, in dem unerfüllten Aufschrei: »Ich flehe um einen Augenblick Frieden, ehe wir untergehen.«129