Der Mann, der das Gegenteil war
Zum 80. Geburtstag von G. ‌K. Chesterton am 29. Mai

 

 

Ein Mensch, der davon lebt, das Gegenteil eines anderen zu sein, erweckt den Verdacht, dies beruhe auf einem Mangel an eigener Substanz. Aber es kann auch eine Art von Disziplin dahinterstecken, der Versuch, an Hand eines »Gegenmodells« mit der amorphen Überfülle der eigenen Natur etwas Deutliches zustande zu bringen. Dies war der Fall des Gilbert Keith Chesterton. Er lebte davon, das Gegenteil von George Bernard Shaw zu sein. Und das war freilich ein großes Programm; es erforderte ebenso viel Kraft wie vor allem Saft – und den Verzicht darauf, hundert Jahre alt werden zu wollen. G. ‌K. ‌C. (so lautete die gefürchtete Signatur) hat sich bewußt – so weit das menschenmöglich ist – von seinem Gegenteil überleben lassen; er starb am 14. Juni 1936, in »vollem Safte« stehend.

Chesterton hat sich, obwohl er aus dem Gegensatz lebte, nie zum Haß verführen lassen. Ja, er muß Shaw insgeheim geliebt haben, sonst hätte er nicht das beste Buch über ihn schreiben können, das wir besitzen. »Ich bin der einzige Mensch, der ihn versteht, und nicht seiner Meinung ist«, sagte er über sein Verhältnis zu Shaw. Der knorrige G. ‌B. ‌S. war für ihn der klassische Puritaner, der mit dem Menschlichen geizt und die Gabenfülle der Natur verschmäht, vor allem aber die Mitgift der Geschichte verachtet, um mit Hilfe des eigenen Hirns von vorne anzufangen. Demgegenüber Chesterton: »Der Mensch muß über die meisten Dinge orthodox denken, oder er wird niemals auch nur genug Zeit finden, seine eigene Ketzerei zu predigen.« Das ist die Ökonomie, die dem Menschen den Spielraum läßt, das zu tun, was ihm am natürlichsten nahegelegt ist: ganz einfach und ohne viele Skrupel zu leben. Indem er den Übermenschen mit Spott und Ironie überschüttete, gab er dem Vollmenschen sein Recht. Über seinen Antipoden hat er die ebenso respektvolle wie distanzierende Formel geprägt: »Shaw ist wie die Venus von Milo: alles, was von ihm da ist, ist bewundernswert.«

Am bekanntesten, auch in Deutschland, ist Chesterton durch seine Kri167minalnovellen geworden. Sie wandeln das kriminalistische Schema, daß das Komplizierte am Kriminalfall nur Schein und der wahre Sachverhalt ganz elementar sein müsse, ebenso geistreich wie hintergründig ab. Chesterton ist der Überzeugung, daß das Einfache immer etwas mit Gott zu tun habe. Sein Detektiv, der den Schlüssel zu diesem Einfachen besitzt, ist der berühmte Father Brown, eine Figur, die Chestertons Grundthese von der Identität zwischen gesundem Menschenverstand und Theologie personifiziert. Heute, da wir den »metaphysischen« Kriminalroman in allen literarischen Qualitäten und Varianten haben, mögen die Geschichten Chestertons simpel erscheinen; und doch ist der mögliche Umfang des Themas für die ganze Gattung schon dort modellartig vorgezeichnet.

Das Rezept der Kriminalstory wiederholt sich auch bei dem Zeitkritiker G. ‌K. ‌C. »Mir scheint, die Probleme der modernen Welt sind zu kompliziert, als daß man sie anders als auf einfache Weise behandeln könnte.« Solche Einfachheit ist dem Kinde eigen, das unbefangen genug ist, sich in seiner Märchenwelt nicht durch sogenannte »Realitäten« irremachen zu lassen. Chesterton wirft Shaw vor, er habe das Leben am falschen Ende begonnen, er gehe vom Grabe aus und suche die Wiege, er erwarte alles vom Fortschritt der Zeit, während dieser ihm nur zu entreißen suche, was er am Anfang einmal besessen habe. »Meine erste und letzte Philosophie ist die der Kinderstube. Woran ich damals vornehmlich glaubte, woran ich jetzt vornehmlich glaube, sind die sogenannten Märchen.« In »Don Quichotes Wiederkehr« hat Chesterton den Menschen geschildert, der sich durch die »nüchterne Wirklichkeit« nicht beindrucken läßt. Die wahre Weltfreude kann nur darin bestehen, die Welt nicht gar so ernst zu nehmen – wie G. ‌B. Shaw es tut, ein Mann, der sich keine Feiertage erlaubt (und es gibt nichts, was Chesterton übler vermerken könnte, als dies!). Chestertons Weltfreude ist heidnisch. Wie aber kann man heute noch Heide sein? Die Antwort, die G. ‌K. ‌C. auf diese Frage fand, gleicht der Unzahl der Paradoxe in seinen Büchern: er wurde katholisch. »Die katholische Lehre und Disziplin mögen Mauern sein, aber es sind die Mauern eines Spielplatzes. Das Christentum ist der einzige Raum, in dem die Weltfreuden des Heidentums sich erhalten haben.« Aber es war auch dies im Spiel: noch deutlicher das Gegenteil von G. ‌B. ‌S. zu werden.168

Die Satire »Das fliegende Wirtshaus« zeigt die Utopie des Sieges des Puritanismus und die Odyssee der letzten »Heiden« durch eine »trockene«, abstinent und vegetarisch dahindorrende Welt. Hier schwelgt Chesterton in der »Wollust des Widerspruchs« gegen die Arroganz der Selbst- und Naturverachtung des modernen Menschen. Aber hier zeigt sich nun auch der Abstand, den wir zur Situation Chestertons bereits gewonnen haben – wo ist die Selbstsicherheit der Ideale geblieben, denen zuliebe der Mensch sich selbst und manches andere glaubte verachten zu können? Die Standarte des »fliegenden Wirtshauses« ist kein Kampfpanier mehr, und ein neuer Satiriker vom Formate Chestertons müßte das Gegenteil von ganz anderem sein.169