Es ist verwirrend, gefährlich und peinlich, einer starken Wirkung ausgesetzt zu sein, die man sich nicht erklären kann. Daß der Roman »Molloy« von Samuel Beckett (Deutsch von Erich Franzen, Suhrkamp Verlag 1954, 379 Seiten, 16,80 DM) uns zu faszinieren vermag, muß uns tief beunruhigen. Magie von unserem Pfade zu entfernen – das ist doch eine immer neu, immer anders sich stellende Aufgabe. Was ist es mit diesem Buch? Daß es ein »gutes« Buch ist, glaube ich nicht. Aber es ist ein »starkes« Buch, in jedem Sinne. Ich kann das Wagnis des Verlegers Suhrkamp, die deutsche Übertragung des französisch geschriebenen Romans herauszubringen, mit diesem Prädikat nicht rechtfertigen, auch wenn das Wagnis mit einer Warnung neutralisiert wurde. Daraufhin werden es eher mehr Menschen lesen als weniger. So ist es auch für den Kritiker sinnlos, sich schützend und mahnend zwischen das Buch und den Leser zu stellen. Ein so elementares und zugleich meisterlich geschriebenes Werk wird durch seine bloße Existenz zu einem Faktum, das wie alles Unvermeidliche des Lebens behandelt sein will: man muß hindurch.
Molloy ist der lädierte Mensch, ein Krüppel nicht nur im physischen Sinne, ein Rudiment des Menschlichen. Er will den Bestand aufnehmen, der unaufhaltsam zerfällt. »Ich möchte jetzt gern von dem sprechen, was mir noch übrigbleibt.« Es kommt nicht dazu. Er sucht seine Mutter. Aber auf dieser Suche zerfällt er weiter. Die Sprache entfällt ihm, Geschmack und Stimmungen, Lachen und Tränen werden ihm fremd, die Zehen fallen ihm ab, er muß auf den aufrechten Gang der Menschen verzichten. Er bleibt schließlich einfach liegen. Die Mutter ist nie gefunden.
Hoffnung läge nur noch darin, daß ihn einer sucht. Davon handelt die zweite Hälfte des Romans. Moran wird auf die Fährte Molloys gesetzt. Er findet ihn nicht. Auch wenn er ihn finden würde, wüßte er nichts mit ihm anzufangen. Aber er wird ihm gleich. »Mein Leben lief aus, doch 170wußte ich nicht, wo das Leck war.« Moran kehrt nach Hause zurück. Aber was nützt ihm das? Er ist ein anderer geworden. »Ich werde es nicht mehr ertragen, ein Mensch zu sein, ich werde es nicht mehr versuchen.« Das ist das Fazit.
Welches Bild des Menschen! Ein zufälliger, nein, ein unwahrscheinlicher Aggregatzustand des Unversöhnlichen ist er: er kann zerfallen, er muß zerfallen, seine Restbestände und Fragmente, die Amputierten und Krüppel erfüllen die Welt. Einheit ist der Schein, Zerfall die Wahrheit.
»Sich auflösen, auch das ist Leben.« Aber Zerfall ist auch Qual; und es gibt nur eine Form der Erlösung: da der Prozeß nicht aufzuhalten ist, ihn zu beenden. »Nur darum handelt es sich, zu Ende zu kommen, zu Ende zu kommen.«
Beckett ist Ire. In Paris geriet er in den Bann seines Landsmannes James Joyce, der mit seinem »Ulysses« (1922) fast alle bedeutenden Romanciers seiner und der folgenden Generation beeinflußt hat. Von ihm hat Beckett vieles: den »inneren Monolog« als Romanform, die pausenlose, von Atmung und Phrasierung freie Kompaktheit der Diktion, die positivistische Protokollierung und Abweisung jeden Akzents. Aber diese stilistische Ebene wird doch von Beckett in ganz anderer Richtung durchschritten als von Joyce; Joyce sieht den Menschen als das niemals fertige, durch den Mechanismus der Assoziation stets gerade sich formierende Wesen, während Beckett ihn umgekehrt im Zustand der Dissoziation, der Entstaltung darstellt. Die sonst allem Neuen gegenüber so hilfreiche literarhistorische »Ahnenforschung« läßt uns hier im Stich.
Die Gattungsbezeichnung »Roman« ist hier so nichtssagend wie möglich. Man kann durchprobieren: dieser Stoff ist weder episch noch lyrisch, er ist nicht einmal tragisch. Es ist, als sei dieses Buch für niemand geschrieben; es setzt nicht mehr – wie alle »Kunst« – voraus, daß andere existieren und teilhaben können. Vielleicht kann es deshalb das preisgeben, was »Verstehen« möglich macht, den »Sinn«. Anläßlich seines vielumdeuteten Bühnenstückes »Warten auf Godot« hat sich Beckett gegen die Frage nach dem »Sinn« verwahrt. Molloy geht noch weiter: »Welcher Sinn dahintersteckt, sieht man zunächst nicht. Um so lieber weise ich darauf hin.« Steckt hinter all dem vielleicht die Freude, die grausame 171Belustigung, die aus der Entlastung von der Frage nach dem Sinn gerade erst entspringt? Ist Beckett der Mann, der endlich den Humor unserer Zeit entdeckt hat?
Man kann es mit dieser Hypothese versuchen. Es ist ein Lachen hinter dem Ganzen. Beckett parodiert – nicht Joyce, nicht Kafka, sondern die Wirklichkeit selbst, die Wirklichkeit als Zerfall, das Drama des Menschen, dessen Autor er selbst nicht ist. Beckett belustigt sich daran, wie der Mensch diesen Prozeß für sich umdeutet und stilisiert: er »wartet auf Godot«, während er zerfällt, er sucht die Mutter, wie Molloy, er sucht Molloy, wie Moran – aber auch das sind nur trügerische Metaphern des Zerfalls. Es [ist] ein Lachen dahinter, wie man es nur lacht, wenn man ganz allein ist. Das Dabeisein des Lesers hat etwas von der Schamlosigkeit des unbemerkten Zuschauers am Astloch im Zaun der Einsamkeit. Er ist gefesselt, er ist gelähmt durch das Widerspiel von Faszination und Scham; er gerät in den Strudel der Unfreiheit, in dem Molloy und Moran versinken. Der Autor aber, als sei alles nur ein kleines Experiment gewesen, wischt mit einer Handbewegung den Alptraum des Zerfalls hinweg. Der letzte Satz des Buches ist wie ein kichernder Widerruf: »Dann ging ich in das Haus zurück und schrieb ›Es ist Mitternacht. Der Regen peitscht gegen die Scheiben.‹ Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht.« Schluß. Finis Operis. Der Leser wird aus dem Versuchsfeld zurückgepfiffen: er ist dem Lockruf des Tiefsinns zu nicht vorhandenen Abgründen gefolgt, er hat sich durch seine Deutegier lächerlich gemacht. Seht her, es war nichts dahinter!172