Glanz und Elend des Zuschauers
Das Problem der Freiheit im Theater

 

 

Das »reine« Theater, das Urtheater, das Destillat aller theatralischen Möglichkeiten hat Dostojewski in den »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« beschrieben. Aus dem unendlich grauen Elend des sibirischen Zuchthauses erblüht für einen seltenen Augenblick die Fülle der Wirklichkeit, die das Theater je erreichen kann. Kein besonderer Raum, keine Kulissen, keine Kostüme sind erforderlich, nicht einmal ein richtiges Stück. »Es wurde ein ganzer Akt gegeben, aber das war offenbar nur ein Fragment, dem der Anfang und das Ende fehlten; Sinn und Verstand waren auch nicht die Spur darin.« Nur der Vorhang ist wichtig; er hat die Funktion, den Blick in eine »ganz andere Welt« freizugeben. Dostojewski zögert nicht, dieses Publikum der Mörder und Räuber als eine Schar von »richtigen Kindern« zu bezeichnen, auf deren gebrandmarkten Stirnen der Widerschein reiner Freude erglänzt.

Dostojewskis Schilderung des Gefangenentheaters ist ein großes Stück Weltliteratur; nur der Vergleich seiner Zuschauer mit den »richtigen Kindern« stimmt nicht. Jeder halbwegs tüchtige Theatermann weiß, daß er überall sonst mit Dekoration und Technik sparen darf, nur nicht im Märchenspiel für Kinder. Kinder sind ein dankbares und begeisterungsfähiges Publikum, aber sie sind sehr kritisch und wenig illusionswillig. Gerade weil sie reale Welt und Märchenwelt noch nicht genau scheiden, werden sie böse, wenn sie den Draht sehen, an dem der Weihnachtsengel schweben soll, oder wenn sie bemerken, daß die sieben Zwerge aus leeren Tellern löffeln. Und wir, die Erwachsenen, das »Normalpublikum«?

Es wird hier nicht zum erstenmal gesagt, daß wir im »Zeitalter des Zuschauers« leben. Aber was soll das heißen? Soll es heißen, diese Zeit habe den idealen Zuschauer, das Publikum »comme il faut« hervorgebracht? Dagegen sprechen die Unzufriedenheit und die oft herbe Kritik, die von allen am Theater Beteiligten über den Zuschauer von heute zu hören sind. Sehnsüchtig liebäugelt das Theatervollblut mit dem Par173terre des Shakespeare-Theaters, mit der »furia mosqueteril«, die mit Klappern, Schellen und Pfeifen vor der Bühne Lope de Vegas Beifall und Mißfallen demonstrierte, mit den Stehrängen der französischen Komödie, deren hungrige Physiognomien Daumier eingefangen hat. Das alles ist vorbei. Der heutige Zuschauer ist der Nur-Zuschauer – im Theater, wie er es im Leben ersehnt: überall dabei zu sein ist der große und ständige Wunsch, aber ohne sich an der Wirklichkeit schmutzig oder gar blutig zu machen. Ist das nicht verständlich für eine Zeit, die an Unmittelbarkeit zu Schmutz und Blut übergenug hat?

Aber das Theater als Kunstform kann nicht davon leben, einem nur »bildungshalber« beteiligten und bis zum konventionellen Schlußapplaus unbewegten Publikum Wirklichkeit und Unmittelbarkeit nur »vorzuspielen«. Es wird alles versuchen und hat alles versucht, die Zuschauerpose des »être spectateur plutôt qu'acteur« – wie Descartes sie schon vor drei Jahrhunderten dem modernen Menschen vorgeschrieben hat – zu durchbrechen. Der Zuschauer wird im geradezu physischen Sinne »ergriffen«. Seit Max Reinhardt taucht das Doppelrezept »Ausgreifende Bühne – eingreifendes Publikum« immer wieder auf. Architektonisch soll die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum niedergelegt werden; das Zimmertheater läßt Schauspieler und Publikum einander buchstäblich auf den Leib rücken. Aber das alles vermag den knisternden Wechselstrom lebendiger Imagination nicht zu erzwingen. Im Gegenteil, man kann leicht sehen, daß solche Quasi-Unmittelbarkeit die Schutzschicht der Distanz nur verhärtet, mit der wir alle uns umgeben haben, notgedrungen und zwangsläufig umgeben mußten.

Die Möglichkeiten einer technisch beliebig verstärkbaren »Unmittelbarkeit« experimentiert der dreidimensionale Film gerade vor. Er hebt das Gegenüber von Spiel und Zuschauer zugunsten des Ineinander auf. Der Zuschauer »sitzt« nicht mehr, er wird »entsetzt«; er schaut nicht nicht mehr zu, er wird attackiert, mit Schein beworfen, mit Erregung bombardiert. Nichts mehr kommt aus ihm selbst, alles stürzt auf ihn ein. Unter dem Terror des technischen Zauberwerks erstarrt sein Ich, seine Selbstbehauptung. Kaum einer nimmt die Brille ab, um die Gespenster zu bannen. Der Eingespannte, Ergriffene, total Beanspruchte erfährt den Rausch des Freiheitsverlustes.

Für das Theater ist das ein Exempel. Der Weg, den Zuschauer aus dem 174Nur-Zuschauen herauszuheben und in echter Weise zu beteiligen, darf nicht zur Liquidation des Zuschauers führen. Nichts ist damit gewonnen, das Publikum von der Bühne her mit Energien zu überschwemmen, das dramatische Werk zu »totalisieren«. Vielleicht war gerade die Idee des »Gesamtkunstwerks« verhängnisvoll. Das Werk darf nicht alles leisten, wenn im Publikum noch etwas »geschehen« soll – so wie Kenner behaupten, bei gewissen Formen des japanischen Theaters sei die Dramatik im Zuschauerraum stärker als auf der Bühne, auf der fast nichts zu geschehen scheine. Auch Zuschauen ist eine Kunst; sie bedarf des Atems, des Spielraumes. Nach manchem perfekten Theaterstück ist der Schlußbeifall nur ein befreites Atemholen.

Auch die Gestalt des Zuschauers ist nur eine Abwandlung des Problems der Freiheit.175