Wir haben – das ist oft beklagt worden – nicht mehr das, was man eine »literarische Öffentlichkeit« nennt. Nicht etwa, daß heute weniger Bücher oder weniger gute Bücher gelesen würden; aber es fehlt jenes Moment der Erregung, die von einem bedeutenden literarischen Ereignis ausgelöst wird und über das Kämmerlein des einsamen Lesers hinausdringt. Der heutige Mensch hat zu viel »Öffentlichkeit«, er wird von ihr bedrängt, leidet an ihr; so wird ihm das Buch zu einer Hilfe, mit sich allein zu sein, und er hütet fast eifersüchtig Entzücken und Erregung, die es ihm beschert. Wir sollten die gegenwärtige Rolle des Buches nicht geringer einschätzen, weil es an öffentlich spürbarer Resonanz eingebüßt hat. Gerade der Erfolg eines so gewagten verlegerischen Unternehmens, wie es die deutsche Ausgabe des großen Romanwerks von Marcel Proust »Auf der Suche der verlorenen Zeit« ist, macht gegen eilfertige Urteile mißtrauisch. Die erste Auflage des ersten Bandes war rasch ausverkauft, eine zweite ist inzwischen erschienen. Und schon legt der so unerwartet in seinem Mut bestätigte Verleger Suhrkamp den nächsten Band »Im Schatten junger Mädchenblüte« vor.
Wenn man nach fast achthundert Seiten diesen Band aus der Hand legt, hat man Mühe, sich Rechenschaft über die Verzauberung abzulegen, in die man geraten ist. Uns erfüllt nichts mehr von der Neugierde, die das Werk, als es 1913 in Frankreich zu erscheinen begann, mit emporgetragen hat; seine Verschlüsselungen sind uns gleichgültig, die Gesellschaft, deren Geäder es nachzeichnet, ist für immer dahin. Die Probe auf Stichhaltigkeit ist durch all das, was zwischen jener »großen« Gesellschaft vor dem ersten Weltkrieg und uns liegt, hochnotpeinlich verschärft. Aber Proust besteht sie. Die konventionelle Erstarrung, die zum Fall überreife Scheinwelt dieser französischen Gesellschaft, die dem Menschlich-Wahren keinen Raum zu lassen scheint, stimuliert die Empfindungsfähigkeit des Dichters aufs höchste, das dennoch Gültige 176seiner Gestalten zu erspüren, ohne das Filigran der kunstvollen Verkleidung zu zerstören.
Wer im ersten Band die Romanze zwischen dem Ästheten Swann und der leichten Dame Odette miterlebt hat, wird nun Zeuge ihrer Metamorphose zur Herrin des reichen Hauses Swann, zur Mutter der heranreifenden Gilberte, die der junge Proust liebt, zum Mittelpunkt eines Salons, um dessen glänzende »Besetzung« sie als Außenseiterin verzweifelt kämpfen muß. Die Gestalt dieser Odette ist nicht nur ein »Gegenstand« der Kunst, sie ist selbst ein Kunstwerk, das man im unermüdlichen Werden sieht; sie stilisiert sich, sie entdeckt ihr »Genre« von Schönheit, sie macht sich zu dem, was sie in der irrealen Vorstellung Swanns schon immer war, der seine Neigung zu ihr aus einem Fresco Botticellis gerechtfertigt hatte.
Der zähe, widerspenstige »Rohstoff« der Kunst Prousts ist die Zeit; diesem Material ringt er eine bewunderungswürdige Geschmeidigkeit ab. Unter dem glänzenden Raffinement der künstlerischen Mittel Prousts verbirgt sich etwas ganz Elementares, das Aufbegehren gegen die Vergänglichkeit. »Suche nach der verlorenen Zeit« bedeutet mehr als Erinnerung, Wiederhervorholen des Gewesenen, wie man aus einem Archiv Dokumente hervorholt; es bedeutet, die Zeit noch einmal vor sich zu haben, um das Größere, das ganz Erfüllende ihr abzugewinnen. Diese Macht, noch einmal auf die Schwelle des unberührten Lebens zu versetzen, schreibt Proust der Kunst zu. Die leuchtende Schar der Mädchen am Strand des Seebades Balbec, die dem Band den Titel gibt, ist nicht ein wehmütiger Reflex der Erinnerung, sondern ein Bündel der Möglichkeiten, die das Leben anbietet, die die Unentschlossenheit des jungen Mannes zu wählen erneuern – denn das alles ist wie eben anfangend.
Da liegt das Geheimnis Prousts, durch das wir so tief berührt werden: er leidet am Raub der Zeit wie wir alle, an dem reißenden Strom, der das eben noch Mögliche schon ins Endgültige und Unabänderliche entführt hat, wenn wir noch zu wägen glauben – aber er hat die Macht, den Raub zurückzuholen, noch einmal ganz in der Erwartung, der Vorstellung, der Sehnsucht stillzustehn, in der seligen Schwebe, wo noch nichts entschieden ist. Die Wurzeln dieser Kunst liegen vielleicht in dem Augenblick, von dem Proust erzählt, da sein Vater ihm den Arg177wohn einpflanzte, »daß meine Existenz bereits ihren Anfang genommen hätte, ja schlimmer noch, daß das, was käme, nicht allzu verschieden von dem sein werde, was vorausgegangen war«. Wer litte nicht unter diesem Argwohn? Und wer könnte nicht erschüttert werden von der notbedrängten Menschlichkeit des Versuchs, ihm zu widerstehen, ihn zu überwinden?178