Was ist uns nah und was fern? Was vertraut und was fremd? Die »fremden Völker«, zu denen einst abenteuerliche Expeditionen vordrangen, sind heute leichter erreichbar als ein notleidender Nachbar, der sich seiner Armut schämt. Künstliche Entfremdungen und unechte Annäherungen verfälschen die Maße: Rassengegensätze werden gewaltsam aufgepeitscht, anderswo bestehende ebenso gewaltsam verdrängt. Wo liegen in unserer Welt die wirklichen, die schicksalhaften Grenzen, an denen noch dann gerungen werden wird, wenn die Erde für nationale Gegensätze zu klein geworden ist?
Auf der Frontlinie zwischen Schwarz und Weiß spielen vier neuerschienene Romane, die das an dieser Rassengrenze seit langem entbrannte Ringen unter ebenso vielen Aspekten darstellen. Der Südafrikaner Stuart Cloete, schon durch seinen Burentreckroman »Wandernde Wagen« bekanntgeworden, spiegelt das Problem auf seiner harmlosesten Stufe in dem neuen Roman »Afrikanische Ballade« (Wolfgang Krüger Verlag, Hamburg, 304 S., DM 11,80). Hier steht noch eine große, weithin unversehrte Natur bereit, ihre schwarzen Kinder zu sich zurückzunehmen, wenn sie sich an Geist und Zivilisation des Weißen wundgerieben haben. Cloete hat diese Natur ein wenig dämonisiert; sein großer Elefant ist ein entfernter Vetter von Melvilles Moby Dick, aber die metaphysische Erbmasse ist, zum Glück, schon sehr geschwächt. Zwischen dem Tierischen und dem Menschlichen besteht lebhafter kleiner Grenzverkehr: der Wilde ist »Mensch«, wo er dem Weißen konfrontiert ist – der Wilde ist »Tier«, wo die Unschuld seiner Sitten in Frage steht. Da liegt ein unausgetragener Konflikt des Autors, nicht seiner Gestalten. Aber da dennoch eine wirkliche »Ballade« entstanden ist, wird der Leser kaum gestört.
»So wie die Schwarzen das Problem der Weißen sind, stellen die Weißen das Problem der Schwarzen dar.« Dieser bei Cloete etwas isolierte, nicht bis zur restlosen Gestaltung aufgelaufene Problemkeim erfährt 179in dem schon 1939 geschriebenen und erst jetzt übersetzten Roman von Joyce Cary »Mister Johnson« (Wolfgang Krüger, 256 S., DM 7,80) eine meisterliche Ausformung. Der Roman spielt in Nigeria, wo der Verfasser selbst von 1913 bis 1920 als Kolonialbeamter tätig war. Der schwarze Officeschreiber Johnson stolpert über die kleinen Unebenheiten der ihm unbegreiflichen Verwaltungskasuistik. Er sucht sein kleines Glück und versteht nicht, daß die Hindernisse so groß sein sollen, die ihm entgegenstehen. Mit einer chaplinesken Unbekümmertheit übersieht er diese Hindernisse, räumt sie beiseite, wo es nicht anders geht. Dabei wird er zum Mörder und muß sterben. Wie der weiße Richter und Freund dabei seinen letzten Wunsch erfüllt, selbst nun das Unregelmäßige tut, das dem verwirkten Leben selbstverständlich war – das zu lesen, ist unvergeßlich. Die Grenze zwischen Schwarz und Weiß wird da zu einem Spalt, der im Erdbeben aufbricht, um uns tiefer in das Menschliche hineinsehen zu lassen.
An einer ganz anderen Stelle der schwarz-weißen Schicksalsgrenze ist Ralph Ellisons Roman »Unsichtbar« (S. Fischer Verlag, 589 S., DM 19,80) beheimatet. Ellison ist selbst Neger, Amerikaner, nicht nur »zivilisiert«, sondern kultiviert. Er erzählt die Geschichte eines begabten Negers, der auf ein College geht, von dort aber wegen eines »optischen« Vergehens relegiert wird und nun in die Wildnis der Weißen, in die Großstadt, gerät. Für Ellison ist die Front zwischen Schwarz und Weiß nur noch ein fiktives Schema; die Grenze ist so verzahnt, so ineinandergeschoben, überlagert mit sozialen und ideologischen Gegensätzen, daß es sinnlos wird, sie herauszuprägnieren. Statt dessen kommt zutage, daß die Menschen viel tiefer miteinander entzweit sind als in ihrer Farbe, daß einer nur die Konstruktion des anderen ist und die Substanz in dieser barbarischen Sphäre unsichtbar bleiben muß, wenn sie überdauern soll. Ellison will Großes in einem Wurf, und er bringt ein großes Material dazu mit. Es gibt in dem Buch Szenen von einer atemraubenden und urtümlichen Wucht, die in der Literatur einzig dastehen. Aber daneben gibt es sehr, sehr viel Rhetorik. Man kann es kaum noch für wahr halten, daß Ellison mit Mister Johnson verwandt sein soll – wo kommt so viel Reflexion, solches In-sich-selbst-Verschlungensein her? Man sieht: Farben bedeuten wenig, denn Ellison und sein »unsichtbarer« Held stehen auf unserer, auf der weißen Seite der Grenze!180
Alan Patons Roman »Aber das Wort sagte ich nicht« (Wolfgang Krüger Verlag, 280 S., DM 10,80) ist schlechthin große Literatur (so sparsam wir dieses Prädikat auch vergeben möchten). »Schwarz und Weiß« ist hier nur noch die Schwelle, an der der Mensch schuldig wird. In keinem der vier Romane ist der Rassengegensatz so tief markiert wie in diesem; die exklusive Existenz inmitten der schwarzen Welt ist das Lebensgesetz des burischen Volkes, religiös sanktioniert und von einem alttestamentarischen Erwählungsbewußtsein getragen. Aber gegen das Gebot der Liebe wird nicht verstoßen gegenüber dem Schwarzen, sondern gegenüber dem eigenen Sohn, der das Gesetz übertreten hat. »Wer dieses Gesetz übertrat, das ein Volk aus Fels und Stein in einem Land aus Fels und Stein gemacht hatte, der mußte zerbrochen und vernichtet werden.« In einer knappen, biblisch genährten Sprache ist schließlich nur noch vom Menschen die Rede und von der einen Gemeinschaft, die keine Reservate kennt, der Gemeinschaft der Schuld. Das wird nicht doziert und nicht gepredigt, sondern zu erschütternder Gestalt gebracht.181