Des Kontrastes wegen
Über Romane von Alain Robbe-Grillet und Henry Green

 

 

Vielleicht hätte mich das zweite Buch nicht so bezaubert, wenn ich nicht das erste unmittelbar zuvor gelesen hätte. Erst in der Landschaft der totalen Konstruktion erblüht die Anmut zu reinstem Wuchs. Deshalb steht das zufällige Nacheinander der Lektüre zweier Bücher unverhofft für die Struktur der Wirklichkeit, in der wir leben.

Ein Mord soll geschehen, weil eine Organisation ihn geplant und den Mörder bestellt hat. Einen Grund erfährt man nicht, vielleicht gibt es gar keinen; der perfekte Kalkül, der dem Plan zugrunde liegt, genügt sich selbst. Aber der Mörder trifft sein Opfer nicht tödlich; doch wird von anderer interessierter Seite der Mord als gelungen ausgegeben, um das vermeintliche Opfer für irgendeine dunkle Aufgabe einzusetzen. Genau vierundzwanzig Stunden später und genau am selben Ort schießt der Spezialagent, der das fingierte Verbrechen aufklären soll, noch einmal auf denselben Mann – diesmal mit Erfolg. Um diesen wahrhaft »metaphysischen« Effekt zustande zu bringen, bedarf es einer tollen, glänzend durchgeführten Konstruktion. Und Konstruktion ist hier nicht nur Mittel zum Zweck, wie im üblichen Kriminalgenre. Konstruktion ist die genaue Metapher der Wirklichkeit: die Maschine läuft, monoton und gleichmäßig, sie produziert nicht und bewegt nichts als sich selbst; sie macht eine Fehlzündung, für einen Augenblick scheint ihr Lauf gefährdet, aber der nächste Kolbenhub bringt alles wieder zurecht. Es gibt keine Motive, keinen Zweck, keinen Sinn; aber es »funktioniert«, funktioniert so exakt, wie eben Alain Robbe-Grillet diesen Roman »Ein Tag zuviel« (Christian Wegner Verlag, Hamburg, 261 S.) ablaufen läßt. Wir bleiben kalt; denn weshalb sollten wir uns erwärmen, wenn unsere Freiheit nur die »Fehlzündung« einer großen Maschine ist?

»Am nächsten Tag lebten sie alle fast genau so wie bisher weiter.« So lautet der letzte Satz des zweiten ins Deutsche übertragenen Romans von Henry Green »Schwärmerei« (Suhrkamp Verlag, 315 Seiten). Das Wört184chen »fast« in diesem Schlußsatz gibt den ganzen Inhalt des Buches – »fast« ein Nichts, »fast« ganz gleichgültig, wie das Libretto von »Cosi fan tutte«: nur Anlaß und Gelegenheit zu Musik. Kleine Seitensprünge, »fast« eine Verführung, »fast« zwei Ehebrüche, »fast« zuviel Neugierde und Lebensbegier – aber am nächsten Tag ist alles »fast« wie zuvor. Und doch, wieviel Spielraum ist in dem Ganzen, wieviel Raum für das »Spiel« Leben! Plötzlich begreift man, wie unlösbar Freiheit und Anmut zueinander gehören und wieviel davon noch im banalsten Miteinander, im überdrüssigsten Einerlei des Alltags verborgen ist. Der Roman hat unfaßbar an »Seele« gewonnen, seit er nicht mehr »psychologisch« ist, seit er nicht mehr das schlupflose Maschennetz der Motivation um die im Begriffenwerden erstarrende Psyche legt. »Seele« ist wieder der Hauch, der sie seit alters war, der imaginäre Punkt, in dem Nichts und Alles ganz dicht beieinander liegen. Wem Greens Roman zu gewichtlos, zu spielend, zu nichtssagend vorkommt, der prüfe einmal sich selbst, ob nicht das Gebirge psychologischer Literatur, durch das wir alle uns kaum hindurchgefressen haben, auch ihm eine zu massive, überfüllte, atemnotvolle Vorstellung von dem, was »Seele« sein mag, hinterlassen hat. Ich muß dem Verleger Suhrkamp und seinem Klappentext ausnahmsweise recht geben: Green ist wirklich avantgardistisch, obwohl sein Buch kein Wort, keinen Satz, keine Idee, keinen Handlungsschritt enthält, die nicht konventionell wären; das Neue ist vielmehr der Raum, die Luft, die zwischen den herkömmlichen Elementen gelassen sind.185