Als Shakespeare vor dreieinhalb Jahrhunderten zwei seiner Komödien die Titel »Was ihr wollt« und »Wie es euch gefällt« gab, legte er Feuer an eine sehr lange Lunte. Zu Shakespeares Gunsten sollte man annehmen, daß er sich in derselben Verlegenheit befand, die sehr viel später zu dem Kuriosum eines »Film ohne Titel« führte: es fiel ihm nichts Besseres ein. Im übrigen gehörte Shakespeare eben zu den ganz wenigen, die es sich leisten konnten, zu Willen zu sein und gefallen zu wollen, ohne sich dabei preiszugeben. Heute trägt eine stattliche Zahl von Veranstaltungen der kulturellen Halbwelt diese, oder diesen ähnliche, Titel.
Wer heute mit diesen oder ähnlichen Stichworten dem Publikum sich naht, ist ein armer Mann und muß seine Blöße bedecken. Er ist abgezehrt von der harten Erfahrung, daß man es nicht jedem recht machen kann und dennoch immer wieder und fast ununterbrochen »Programm machen« muß. Wie versichert man sich für die besten Stunden, die es zu »erfüllen« gilt, der Gunst des Publikums? Lösung und Rezept: man nennt die beliebige und unverbindliche Mischung, die man darreicht, »Wie es euch gefällt« oder »Was ihr wollt«. Die Wirkung ist verblüffend. Eine solche Veranstaltung, oder sagen wir präziser: eine solche Sendung, genießt den Schutz eines undurchbrechlichen Tabus. Wie kann ein Kritiker es noch wagen, einem so sichtbar vom Willen der vielen getragenen Unternehmen zu widersprechen? Einem Unternehmen, das so ganz und so rein darin aufgeht, darzubieten, was gefällt? Das sich auf ein Plebiszit beruft oder gar aus einem solchen hervorzugehen scheint? Das Odium der Unantastbarkeit, das wir heute dem demokratischen Prinzip zu wahren oder wiederzugeben haben, geht auf das kulturelle Plebiszit – oder schon auf all das, was sich auf ein solches berufen zu können vorgibt – über.
Vor kurzem hat eine große deutsche Rundfunkgesellschaft eine unter solchem Motto jahrelang gebrachte Sendung eingestellt, nachdem ein einziger Mann die Kühnheit besessen hatte, der sanktionierten Form dieser Sendung zu widersprechen. Allerdings war dies ein Mann, und 189nur ein solcher konnte es sein, der der Millionenhörerschaft, auf die der Rundfunk sich zu berufen pflegt, eine Millionenleserschaft entgegenstellen konnte, die er durch seine Rundfunkzeitschrift um sich geschart hatte. Nur mit dem Ausruf »Was sie nicht wollen« ließ sich der Zweifel an dem »Was ihr wollt« anmelden und wenigstens die Illusion beenden, der aus den Wunschkonzerten des Krieges übernommene Brauch der Namenslisten, der wenigen eine sekundenlange Befriedigung verschafft, entspreche einem tiefen Bedürfnis der vielfach vielen, die das mitüberstehen müssen. Die Kontroverse ist, gestehen wir es nur, erst bis in das Vorfeld des hier vorliegenden Problems eingedrungen. Aber ein Tabu ist gebrochen; nützen wir die Bresche!
Recht und Grenze des demokratischen Prinzips in Sachen der Kultur bestimmen zu wollen, wäre Anmaßung, die eine lange und vielleicht unabschließbare Diskussion voreilig beenden würde. Nur die längst ausgeräumten Illusionen sollten wir nicht erneuern. Die romantische Idee einer Kunst, die unmittelbar aus dem anonymen Miteinander des »Volkes« hervorgeht und sich zu Volkslied, Volksspiel, zur »Volkskultur« insgesamt verdichtet, diese Idee, die mit der Existenz eines heimlichen »Volksgeistes« liebäugelt, ist tot. Die Handschriften der großartigen spätmittelalterlichen Bürgerdramatik zeigen die eine Hand des Spielleiters, der das Ganze vom Wort anfangend geformt hat. Das Volkslied ist eher zersungen als ersungen worden. Kein echtes Ganzes ist je aus den Scherflein der vielen entstanden (und kein echtes Programm wird je daraus entstehen). Das Recht der vielen, unser Recht also, beginnt erst, wenn das Ganze uns dargereicht, uns »ausgesetzt« wird. Und wer nimmt heute dieses Recht noch wahr? Wo ist das entschiedene und sich entscheidende Publikum der gegenwärtigen Kultur, das den Mut hat, ja oder nein zu sagen? Wären wir dies Publikum, so würde niemand es wagen – er sei denn seines Genies sicher –, uns etwas darzubieten mit dem Etikett »Was ihr wollt« oder »Wie es euch gefällt«. Nicht das verständnisvolle Schmunzeln des sich-geachtet-glaubenden Hörers beim hundertsten Jubiläum des Zarewitsch-Tonbandes, sondern lodernde Empörung des in seinem Urteil präjudizierten Zeitgenossen wären sein Lohn. Lassen wir uns nicht suggerieren, was uns zu gefallen hat und was wir zu wollen haben! Werden wir die Instanz, auf deren Urteil man zu warten hat!190