Die Phantasie eines Jules Vernes, die sich dieses oder jenes nicht träumen ließ, ist sprichwörtlich geworden. Dennoch wird seines hundertsten Todestages im Jahre 2004, schätze ich, keiner mehr gedenken. Schon heute gelingt nicht mehr, was unseren Vätern noch gelang: die Jugend mit den utopischen Visionen dieses Autors über ihre technisch und physikalisch »sachverständigen« Bedenken hinwegzusetzen. Aber auch der reifere Leser, der das utopische Genre liebt, ist enttäuscht, wenn er wieder einmal zu dem einstigen Lieblingsautor greift. Woran liegt es?
Das utopische Interesse ist seit Jules Verne ganz und gar umgeschlagen. Die Frage, wie ein großer Wunschtraum der Menschheit technisch verwirklicht werden könne, erscheint uns als vordergründig; denn daß sich Apparate für alles und jedes einstellen, ist uns fast zur Selbstverständlichkeit geworden, die wir nicht mehr bestaunen. Die von Jules Verne mit Schießbaumwolle bestrittene Reise von der Erde zum Mond ist zwar noch nicht Wirklichkeit geworden; aber ihre Möglichkeit ist uns kaum noch problematisch, soweit es die technisch-konstruktiven Voraussetzungen angeht. Was uns dem Utopiker Jules Verne entfremdet hat, was uns wie durch einen Abgrund von ihm trennt, das ist seine Uninteressiertheit an der Frage, wie es denn dem Menschen und dem Menschlichen in seiner Zukunftswelt ergeht. Der Reisende, den er im Jahre 1873 die Erde in 80 Tagen umrunden ließ, würde noch heute unserer Anteilnahme sicher sein, wenn er auch nur eine Spur der menschlichen Fragwürdigkeit einer solchen Konkurrenz des Menschen mit der Zeit erkennen ließe – inzwischen ist das unser Problem geworden!
Für Jules Verne war der Mensch noch ganz naiv dem Anspruch seiner Apparate gewachsen. Er tritt auf als die »naturgemäße« Besatzung des utopischen Vehikels. Inzwischen ist die Frage akut geworden, ob der Mensch nicht eine »Fehlkonstruktion« inmitten der Konstruktionen ist, die er sich geschaffen hat. An allen Ecken und Enden beginnt es zu hapern mit unserer physischen Fähigkeit, den Maschinen die adä191quate Besatzung zu stellen. Die Sonderlichkeit des Kapitäns Nemo, der schon 1869 bei Verne 20 000 Meilen mit seinem U-Boot unter dem Meere zurücklegt, ist nicht die Folge, sondern das Motiv des ganzen Unternehmens – die Technik beruht auf abseitigen Zwangsläufigkeiten, sie ist eine Sonderwelt für Sonderlinge, und der Leser darf denken: denen geschieht's ganz recht, ich halte mich da heraus! Heute kann sich keiner mehr da heraushalten!
Wenn man die selbstverständliche Eignung, mit der bei Jules Verne der Mensch die utopische Sphäre bewohnt, im Auge behält, wird man folgende Meldung aus dem Jahre 1955 besser verstehen: »Der Staatsverlag der Sowjetunion teilte in seinem letzten Rapport mit, daß Jules Vernes technische und utopische Romane, 40 an der Zahl, in einer zwölfbändigen Luxusausgabe erscheinen werden, deren erste Auflage zwölf Millionen Exemplare betragen wird.«192