Vielleicht muß in einem Zeitalter, dessen Größe wie Gefährdung auf Erfahrungserkenntnis zurückgehen, der Metaphysiker im Gewande des Empirikers auftreten. Spekulation, einst die höchste Auszeichnung der Geister, genießt kein Zutrauen mehr; die exakte Beschreibung legitimiert allein die Erkenntnis. Diese Einsicht ist bei und durch Ernst Jünger zuweilen Manier geworden, ja, sie ist in die Nähe des magischen Rezeptes gekommen. Dem »Höchstmaß von deskriptiver Genauigkeit« lässt er schon im umstrittensten Werk, dem »Arbeiter«, eine »Präzision des Stiles« entsprechen, »in der zum Ausdruck kommt, daß sich hinter dem Anspruch, geistige Arbeit zu leisten, mehr als eine Redensart verbirgt« (1932). Die letzte, über manche Zwischenstufe erreichte Konsequenz, die sich von hier aus ergibt, ist die Forderung nach einer »neuen Theologie«, und zwar einer solchen, die »beschreibenden Charakter« hat (1938).
Nach einem derartigen Anspruch wird man genauer wissen wollen, was Jünger unter Beschreibung versteht. Sein Werk ist voll von Mustern des »beschreibenden« Vorganges, zumeist aus dem zoologischen oder botanischen Bereich. Der Blick ist auf die Oberfläche, nicht auf Struktur oder Funktion, gerichtet; er geht sogleich auf das Detail, auf das ästhetische Elementarquantum sozusagen, und präpariert es mit einer Schärfe heraus, die auf Öffnung und Durchdringung, nicht auf Bewahrung abzielt. Jüngers Sehen geht von dem Verdacht aus, daß das Sichtbare nur die vorgeschützte Hülle von Wesentlicherem ist. Das ergibt die Ungeduld seines Stils, die stets im Begriff steht, von der Erscheinung zur Idee abzuspringen. Unter Jüngers Blick werden die Dinge eigentümlich instabil, sie vibrieren vor Bereitschaft, ihr individuelles Dasein an einen allgemeinen und großen Sinn preiszugeben. »Das Mikroskopische des Blickes und seiner Ziele dehnt den Erdball ins Riesenhafte aus« (1948). Die verschwenderische Ausstattung mit Details sublimster Art im Werke Jüngers darf nicht darüber täuschen, wohin das Auge gerichtet ist. 193»Ein Felsenstück mit seinen Kräutern, Flechten und Moosen wächst sich zum Universum aus.«
Jünger ist Platoniker. Er erinnert uns daran, daß die neuzeitliche Erfahrungswissenschaft nicht aus dem realitätsfreudigen Aristotelismus, sondern aus dem erscheinungsflüchtigen Platonismus hervorgegangen ist. Diesen verblüffend widerspruchsvollen Vorgang wiederholt Jünger in umgekehrter Richtung. Schon das: die Vorliebe für das »so …«, mit dem er sich aus der realen in die ideale Sphäre schwingt; die Häufigkeit zurückverweisender Fürwörter, »jenes …«, die an eine verborgene Erinnerung in uns appellieren, eben die platonische Anamnesis; das massivere »Dies erinnert an …« schließlich, mit dem der Leser zum »Übertritt auf andere Stufen« gemahnt wird. Die erste Sprosse der Leiter ist überall, ein glühender Zinkofen aus ganz unansehnlichem Metall in der Schilfhütte am Westwall (1940) kann es ebenso sein wie die Hieroglyphe auf einem Insektenflügel – »denn alle diese Wesen sind ja nur flüchtige Schemen, sind Scheidemünze, die mit vollen Händen dem Staube zugeschleudert wird, und dennoch trägt eine jede das Wappen und das Abbild des Souveräns« (1947).
Der Platoniker nimmt die Erscheinung nur als Symptom; darin liegt der Unterschied zwischen Beschreibung und Physiognomik. Der Beschreibende läßt die Sache »zu Wort kommen«, der Physiognomiker will wissen, »woran er ist«. Die Frage nach dem Heil läßt ihn nie los. Und das ist der Punkt, an dem alle, die die Formel von der »neuen Theologie« gehört haben, Erwartungen in Jüngers weiteren Denkweg setzten. Dieser Weg hat, das muß klar markiert werden, die Grenzen der Theologie nicht erreicht. Die magischen und gnostischen Kennzeichen des späten Neuplatonismus haben sich erhalten, wenn nicht verschärft; hier wurzelt die Identifizierung von Wissen und Macht, in der für Jünger die Lösung der Heilsfrage liegt, seit der vom Schlachtentod berührte Krieger die höhere Sicherheit verspürte, die im Wissen um das Letzte gewährt ist (1920). Nun sind ihm die theoretischen Vorgänge zu Machtkonzentrationen geworden, indem sie die Zersplitterung der Idee im Konkreten, die Ohnmacht bedeutet, rückgängig machen. Solche Konzentration besitzt Kraftausstrahlung, die vertrauen läßt, »allein durch reine Geistesmacht« dem nihilistischen Prozeß zu widerstehen (1939). Ein so verfeinerter Wille zur Macht steht noch hinter dem Konzept einer »Theo194logie«, die zwar das Bündnis mit der stärksten kosmischen Macht sucht, aber dem Wagnis ganz fern steht, das im Begriff der Gnade beschlossen ist. Verräterisch ist in dieser Hinsicht die Rede von »theologischen Aktionen«, deren Jünger sich bedient (1949), und nicht weniger charakteristisch der fast ausschließliche Zugang, den er bei der Gesamtlektüre der Bibel zum Alten Testament bezeugt.
Das Unzerstörbare zu gewinnen, ist das Grundmotiv in Jüngers Metaphysik, den Punkt, »auf den die Zerstörung nicht mehr anwendbar ist« (1932). In der Wahl der Mittel zu diesem Ziel ist er von einer experimentierenden Wendigkeit, die Magie, Ekstase und Rausch nicht verschmäht, und so im beliebig Ergriffenen zu keiner Verbindlichkeit gelangt. Das hat, vor allem seit dem mißglückten und mit wenig Selbstkritik herausgegebenen »Heliopolis«-Roman (1949), die Wirkung und Glaubwürdigkeit Jüngers beeinträchtigt. Der »Wald« ist eine solche Fluchtchiffre, die angesichts der ursprünglichen Alternative zwischen »Wüste« und »Urwald« (1939) nur noch einen matten Kompromiß zu bergen scheint (1951), der im Irrealen der unverhofften Begegnung liegt, die zu bezeugen Jünger versagt blieb. Auch Sanduhren zu sammeln muß nicht Gewißheit erbringen, was es geschlagen hat und was an der Zeit ist (1954).
Auch der letzten und niedersten Versuchung, die dem Platonismus droht, der gnostischen, ist Jünger wohl nicht entgangen. Schon sein früher Nihilismus trägt gnostische Züge, ja hat den kainitischen Einschlag, der auch die historische Gnosis befallen hatte; das Nichtige muß bis zur extremen Konsequenz des reinen Nichts forciert werden, um es schließlich »über die Linie« zu zwingen, auf der es in das Sein umschlägt. Die gnostische Weltsicht ist radikal dualistisch, sie verschärft die Differenzen bis zu ihrer reinsten Formel, in der es keine Übergänge mehr gibt, aber sie macht zugleich die Gegensätze auch gegenseitig voneinander abhängig: das eine ist nur durch das andere. Dieses Schema hat Jünger letztens auch an das Ost-West-Problem herangetragen (1953). Indem er dem Gegensatz von Freiheit und Despotie höhere, ideale Notwendigkeit zu geben sucht, verfällt er in die verhängnisvolle Konsequenz, die Freiheit nicht nur gegen, sondern auch durch die Despotie existieren zu lassen. Hier ist bestimmtester Widerspruch geboten, denn es ist nicht wahr, daß diese beiden Worte »sich gegenseitig Sinn leihen«. Da195mit wird auch das gefährliche Bild des »Gordischen Knotens«, den nur der Schwertstreich löst, falsch.
Die Probe einer realen, ins Politische eingreifenden Verbindlichkeit kann Jünger nicht als bestanden bescheinigt werden; weder für das vierte noch für das sechste Jahrzehnt unseres Jahrhunderts. Die Faszination, die nicht zuletzt von der Andeutung arkaner Quellen, höherer Intuition und singulärer Einweihungen – dem Dichter noch nicht ohne weiteres illegitim – ausging, hat sich im Fazit nicht zu echter Legitimation der Aussage verdichtet.196