Ins Nichts verstrickt
Wird man in zehn Jahren noch von Sartre sprechen?
Jean-Paul Sartre feiert am 21. Juni seinen 50. Geburtstag

 

 

Fünfzig Jahre sind für ein Philosophenleben nicht viel. Kant war noch sieben Jahre älter, als er die erste seiner drei Kritiken vorlegte. Bei Jean-Paul Sartre muß man befürchten – oder: darf man hoffen –, daß schon sein 60. Geburtstag sang- und klanglos vorübergehen wird. Denn selten sind Geist und Zeitgeist eine so enge Verbindung eingegangen wie bei diesem französischen Denker und Dramatiker. In seinen Begriffen und in seinen Bühnenszenen schlug sich der Schock der Freiheit nieder, der das französische und das deutsche Bewußtsein nach dem Zweiten Weltkrieg durchfuhr. Das große urphilosophische Erstaunen, daß überhaupt etwas ist, verengte sich auf die ratlose Bestürzung darüber, daß wir noch existierten, daß die Freiheit eines Anfanges aus dem Nichts auf uns gefallen war. Dieser unfaßbaren Situation gab Sartre die scharfe, herausfordernde Formulierung. Das füllte die notdürftig geflickten Säle, in denen »Die Fliegen« und die »Schmutzigen Hände«, das Höllenkarussell der »Verschlossenen Türen« und die »Ehrbare Dirne« gespielt wurden. Es füllte die Auditorien, in denen der »Existenzialismus« gedeutet und diskutiert wurde.

Heute ist der Existenzialismus tot. Er ist nicht nur an seinen Deutern und bärtigen Jüngern zugrunde gegangen. Die Kurzatmigkeit seiner Begriffe, sein Zugeschnittensein auf die hektische Ausnahmesituation des Menschen haben ihn zur Episode unserer jüngsten Geistesgeschichte gemacht. Seine späten Verteidiger weisen auf den neuen Wohlstand, die billige Sättigung der Geister, das zurückgekehrte Behagen am Lauf der Dinge hin, um dieses nach ihrer Meinung unverdiente Schicksal des Existenzialismus zu erklären. Daran ist manches richtig; aber den Kern trifft es nicht. Der Existenzialismus, eine Philosophie der Freiheit, ist an der Sterilität seines Freiheitsbegriffes verdorrt.

Man kann das nachprüfen. Sartre selbst bietet die Probe aufs Exempel an. Seine Theaterstücke sind Experimente auf seine Philosophie, genau 200so wie sein großes Romanwerk »Die Wege der Freiheit«. Das letzte und anspruchsvollste dieser dramatischen Experimente war »Der Teufel und der liebe Gott«. Der Held, Götz von Berlichingen, ist, wie alle Gestalten Sartres, ein Mensch, der im Nichts sich selbst anfangen läßt. Weder Historie noch Psychologie können helfen, ihn zu verstehen; er hat weder Charakter, noch Motive, weder Wesen, noch Welt. Er ist immer gerade dabei, sich selbst erst zu begründen, aus sich »etwas zu machen«. Und was macht er aus sich! Er geht seiner »Vorliebe für das Endgültige« bis ins blutige Extrem nach. Im Bösen ist er »als Ungeheuer wirklich vollkommen«, und im Guten ist er das blasphemische Double des Heiligen. Gut und Böse verlieren ihren uralten Sinn als einander ausschließende Grundmöglichkeiten der Entscheidung. Sie sind nur noch gleichgültige Metaphern einer bodenlosen Willkür der Selbstbestimmung, wesenlos und beliebig auswechselbar, bis sie am Ende als irreführende Worthülsen abgeworfen werden.

So verkörpert sich der Hauptsatz der Sartreschen Philosophie: Die Existenz geht der Essenz voraus. Es ist eine Philosophie, die darauf besteht, daß immer Anfang ist, Anfang im Nichts und nichts als Anfang. Die Freiheit ist Schöpfung aus dem Nichts; sie braucht das Nichts, um Freiheit zu sein. Hier ist der kritische Punkt erreicht, an dem Sartres Philosophie den Menschen der Gegenwart im Stich gelassen hat: dieser Freiheit ist das Nichts nicht Not, sondern Notwendigkeit. Sie führt nicht aus dem Nihilismus heraus, sondern setzt ihn voraus, muß ihn festhalten, sich immer wieder in ihn hineinstürzen. Historisch gesprochen: Sartre muß den Nullpunkt von 1945 verewigen, so eng ist sein Menschenbild auf diesen furchtbaren Augenblick der Geschichte zugeschnitten.

Sartres Mensch ist der Rivale Gottes: er will selbst dort stehen, wo Gott am ersten Schöpfungstage stand. Diese Philosophie kann man aus dem Katechismus lernen; man muß nur das, was von Gott gesagt wird, auf den Menschen übertragen. Nur wenn Gott nichts geschaffen hat, kann der Mensch sich aus dem Nichts schaffen. Der Atheismus ist die Pointe der Sartreschen Philosophie. »Heinrich, ich möchte dir noch eine tolle Posse erzählen: Gott existiert nicht«, sagt Götz zu dem Pfarrer von Worms. In den »Fliegen« war Gott ein Zauberer, der mit magischen Taschenspielereien den Menschen in der Ergreifung seiner Freiheit beirrt.  201

Nicht genug mit dieser erschreckenden Voraussetzung des permanenten Nihilismus – die Freiheit, die er uns gewähren soll, ist in ihrem Kern tyrannisch. Der absolute Mensch gerät unter den Absolutismus seiner Freiheit. Eine Freiheit, die nichts anderes »darf« als frei sein, ist bitterste Knechtschaft; sie besteht darin, ständig zurücknehmen zu müssen, was sie verwirklicht hat – Sartres Götz ist das ironische Dokument dafür. »Alles ist eine Falle ‌…«, heißt es in den »Verschlossenen Türen«; eine Falle ist auch diese Idee der Freiheit. Manches deutet darauf hin, daß auch ihr Urheber in dieser Falle zappelt – hätte er sonst so leicht den politischen Verwechslungen erliegen können? Sartres Dramen sind, von hier aus gesehen, mehr als Experimente; es sind Aussagen, die auf einer überdimensionalen Folterbank dem Menschen entpreßt werden, dem es nichts mehr ausmacht, sich selbst zu widersprechen.202