Ironie der Weltverbesserung
Zu Henry James' »Prinzessin Casamassima«

 

 

Literarische Wiederentdeckungen werden uns meist unter dem Motto präsentiert: Seht her, da konnte schon einer vor so und so vielen Jahren das, was heute als letzter Schrei gilt! Mit Henry James, dem großen, bei uns so lange vergessenen Romancier der Jahrhundertwende, kann man unter diesem Aspekt nichts anfangen. Vielleicht ist deshalb den zaghaften Versuchen, ihn im deutschen Sprachraum wieder in Kurs zu setzen, bisher kein durchschlagender Effekt beschieden gewesen. Und doch ist die »Prinzessin Casamassima«, die Hans Hennecke in akkurater, wenn auch nicht kongenialer Übertragung (Kiepenheuer & Witsch, Köln, 635 S.) vorlegt, eine literarische Sensation. Nicht, weil James schon das gekonnt hätte, was unsere Modernsten und Wagendsten auch können – oder etwas mehr, was immer noch nicht viel wäre. Über das, was er kann, wollen wir schweigen, weil uns am Mut der Zeitgenossen etwas liegt. Über das, was er darf, ist zu sprechen. Er darf – es ist beinahe unfaßbar – einen ironischen Roman über die soziale Frage, über die soziale Revolution schreiben.

James ist Amerikaner, jüngerer Bruder des Philosophen William James, der mit seinem Pragmatismus tief auf den amerikanischen Geist gewirkt hat. Als Zweiunddreißigjähriger kehrt er nach Europa »heim«. Aber er bringt das unbefangene Auge des Amerikaners mit, dessen Land die europäischen Selbstverständlichkeiten nicht kennt, vor allem nie eine »Revolution« erfahren hat. Vergessen wir nicht, daß diese Differenz noch heute das Verhältnis Amerikas zu Europa bestimmt. Wie James selbst in seinem Nachwort zur »Prinzessin Casamassima« erklärt, ist der Roman die Verdichtung der atmosphärischen Erfahrungen, die er in jahrelangen Durchwanderungen der Straßen Londons gewonnen hat. Ihm geht die heimliche Struktur der europäischen Wirklichkeit dabei auf: eine Welt, die eine Unterwelt hat, historisch altgewordene Form, die auf einem unbewältigten Rest von Anarchie ruht.

Hyacinth Robinson, der Held des Romans, ist ein Bastard von Welt und 205Unterwelt. Die schrecklichste Erinnerung seines Lebens ist der Besuch bei seiner im Zuchthaus sterbenden Mutter. Dieser Augenblick prädestiniert ihn für die revolutionäre Saat, die französische und deutsche Emigranten im Londoner Untergrund auswerfen. Was aber bei diesen ideologische Unentschlossenheit, geschäftiges Spiel mit der kalten Lunte ist, wird bei ihm in einer ekstatischen Nacht zum feurigen Gelübde, sich dem Befehl aus dem Dunkel zu einer blutigen Tat zu verdingen. Da tritt die Prinzessin Casamassima in sein Leben, eine Frau der »großen Welt«, die aus Überdruß, Langeweile, ästhetischer und intellektueller Leere mit der »sozialen Frage« kokettiert. Das »Interessante« als der letzte Wert einer Kultur nimmt für sie das Kostüm der anarchischen Drohung an, auf die sie durch Preisgabe ihrer gesellschaftlichen Bevorzugung antwortet. Hyacinth aber beginnt im Umgang mit dieser zwiespältigen Frau, die Bewunderung der Preisgabe mit der des Preisgegebenen zu vertauschen. Die »Welt«, so falsch, so ungerecht, so verkehrt sie sein mag, gewinnt sein Ja, während das nächtliche Gelübde ihn weiter bindet, den Befehl, an ihrer Zerstörung mitzuwirken, stündlich zu erwarten. Als dieser Befehl ihn wirklich erreicht und alle menschlichen Bindungen, oben wie unten, versagen, weiß er keinen anderen Ausweg als den, sich selbst zu zerstören.

Die Figur der Prinzessin läßt nicht zu, daß die tragische Ironie dieser Handlung zu einer Rechtfertigung des Bestehenden ausschlägt. James ist alles andere als ein »Reaktionär«; er gibt den Menschen, die auf Änderung ihrer Lage sinnen, recht, aber er führt die Ideen, die ihnen zugespielt werden und mögliche Erfüllung vorgaukeln, ad absurdum. Von dem väterlich-weisen Freund Hyacinths, dem Geiger Mr. Vetch, heißt es: »Die Vorstellung eines großen Wandels gehörte für ihn nur mehr zu den Träumen seiner Jugend; denn was war jeder erdenkliche Wandel in den Beziehungen von Männern und Frauen anderes als nur eine neue Kombination derselben Elemente?« Wandlung der Dinge, Gerechtigkeit, Revolution – das ist hier nur der Wortschleier, hinter dem nackte Zerstörung lauert. Hyacinth bleibt einer der Armen, der sozialen Klassifizierung nach; aber er wird frei vom Gewicht dieser Armut, als er den Wert und die Schönheit dessen wahrnimmt, was die Prinzessin von sich wirft und was der Welt entstammt, die er vernichten wollte. Dieser »großen Welt« ist nichts geschenkt worden, sie hat mit Schönheit ge206zahlt. Hyacinth steht an der Seine, und plötzlich überkommt ihn ein Empfinden, »das sein Herz vor Angst beben ließ – ein Empfinden für alles, was einen auf der Welt zu halten vermochte, für die Süßigkeit, nicht sterben zu müssen«. Und vor Veroneses Gemälden in Venedig überfällt ihn der »große Abscheu vor jener Art neiderfüllter Eifersucht, die hinter der Idee einer Neuverteilung der Güter steht«.

»Die Welt ist ein schrecklich schöner Ort« – welch banales und welch unerlaubtes Wort, mit dem Hyacinth heimkehrt! Unerlaubt vor allem dann, wenn man zuzugeben gelernt hat, daß die Attribute »schrecklich« und »schön« nicht beliebig voneinander getrennt werden können. Kaum wagt man zu sagen, um die Notierung dieses Autors nicht zu mindern, daß sein Werk ein »Bildungsroman« ist, in dem es nicht mehr um dieses oder jenes Bildungselement, sondern nur noch um das schlichte Zugeständnis des »schrecklich schönen Ortes« geht, das die Welt der Unterwelt, über ein Meer von Unrecht und Not hinweg, abzuringen vermag.207