Mit Verwunderung, fast mit Unglauben, sehen wir Deutschen, die wir an der Lebenskraft unseres Genius zu zweifeln gelernt haben, auf den Autor, der heute, unter unseren Augen, achtzigjährig, noch an einem Werk von einsam-unbestrittener Weltgeltung schafft. Er ist nicht mehr so ganz, so eindeutig der unsrige, daß wir uns seines Besitzes mit ungetrübtem Stolz erfreuen könnten – nicht nur, weil er der Welt gehört, sondern weil er uns weniger gehört als der Welt. Das ist ein Faktum, das vielen zur Verstimmung, wenigen zur Besinnung gedient hat; ein Faktum, das den nach Europa heimkehrenden, seinen vielleicht letzten Standort suchenden Dichter knapp vor unseren verwundeten Grenzen haltmachen ließ. Auch wird es uns nicht leicht zu sehen, daß dieser eine Deutsche leichter und bedenkenloser die Scheide zwischen West und Ost passiert, als es Millionen tun können, denen sie durchs Herz geht – daß ihm die Welt, der er gehört, in ihrer Gänze mehr gilt als die eine Hälfte, deren Idealen wir uns zugehörig fühlen. Das Recht des Künstlers, in Sachen dieser Welt »naiv« zu sein, ist nie in Anspruch genommen worden von ihm, der ein Leben lang so leidenschaftlich Partei ergriffen, so global in Parteien gedacht hat. Nein, wir erschleichen uns nicht die Möglichkeit der Huldigung, indem wir ihn ein Kind, realitätsfreudig und realitätsfremd zugleich, sein lassen. Dies heiße Eisen anzufassen mag Bürgermeistern geschenkt bleiben, die mit Ehrenbürgerbriefen billige Versöhnung stiften. Wir dürfen diesen Anstoß unserer deutschen geistigen Gegenwart nicht dem obligaten Vergessen überliefern; er ist einer der wenigen Maßstäbe für die Wahrhaftigkeit unserer Rückkehr zur Welt und muß als solcher, befremdlich und sogar lästig vielleicht, respektiert werden. Wie wenige haben noch kürzlich wahrgenommen – und wie wenige von diesen wieder haben es gelten lassen –, daß Thomas Mann nicht »unseren« Schiller, sondern »seinen« Schiller gefeiert hat! Und wie mühelos er ihn über die furchtbare Grenze mit sich nahm!208
Den Schlüssel zu seinem Verhalten gegenüber der Grenze, die um die Welt läuft, hat Thomas Mann schon 1924 in seinem zentralen Werk, dem »Zauberberg«, gegeben. Ein Lungensanatorium in Davos wird zur »Pädagogischen Provinz« seines Wilhelm Meister, der hier Hans Castorp heißt. Dieser Sproß guter deutscher Bürgerlichkeit kommt besuchsweise in dieses Vorfeld des Todes, wird selbst von den tückischen Mikroben ereilt und sieben Jahre dort festgehalten, bis ihn der Ausbruch des ersten Weltkrieges in die Heimat und in den Kriegertod ruft. Der Innenraum des »Zauberbergs« ist wie ein Versuchsfeld jener Energien angelegt, die wenig später die Welt zerspalten sollten. Da ist die schöne, makabre Russin Clawdia Chauchat, die den auf Tüchtigkeit angelegten Jüngling mit dem Glück des entspannten Sich-aufgebens lockt, wie es seit je der Osten dem Westen versucherisch angeboten hat. Da sind die intellektuellen Matadore der großen Ideenpole Macht und Freiheit, Diktatur und Demokratie, Organisation und Spontaneität – der Jesuit Naphta und der Rationalist Settembrini, deren leidenschaftliche Dialoge den Untergrund der Zeitkräfte aufreißen, hart Weltbild gegen Weltbild stellen, wie in einem Sandkastenspiel für den globalen Dualismus der Zukunft. Aber Thomas Mann führt in das Spiel eine dritte Größe ein, die das Spannungsfeld um Hans Castorp mühelos in sich zusammenfallen läßt, den lebensübervollen, erdrückend kraftvollen Mynheer Peeperkorn, der, allem intellektuellen Gefecht abhold, nichts als strahlend sich verschwendende Substanz ist. Hier bietet sich Hans Castorp die gestalthafte Formel, mit den um ihn ringenden Ideologen fertig zu werden – es ist Thomas Manns eigene Formel für das Widerspiel der Weltkräfte: Grenzen nicht, nach hier oder dort, zu »überschreiten«, sondern sie zu »überbieten«. Es ist der große Mensch, der das Recht auf das Ganze hat, das er in sich trägt, mag es in der realen Welt noch so ins Unkenntliche zersplittert sein. Jeder kann irren im Anspruch, diese Idee auf sich selbst anzuwenden; aber das setzt weder die Idee ins Unrecht noch den, der ihr so unvergeßliche Gestaltung gab. Der »Zauberberg« ist noch heute, nach allem, was Thomas Mann inzwischen an Staunenswertem vorgelegt hat, sein aktuellstes, den Zeitgeist bedrängendstes Werk. Nur wer es wieder und wieder liest, wird auch Thomas Mann verstehen, den Zeitgenossen, der uns nicht eindeutig genug sein will, und den Dichter, der Welten gegeneinander 209ausspielen und sie verklammern konnte; der eine ist nicht ohne den anderen.
Den großen Menschen, der die heile Welt allein verbürgt, hat Thomas Mann mehr und mehr in Goethe gesehen. Er hat nicht nur über Goethe viel und ergriffen gesprochen; er hat, fast ohne Scheu vor dem Gewicht des Anspruches, die Analogie zu dem beispielhaften Ganzen des Werkes und Daseins des »Klassikers« gesucht. Freilich, für die Goethestilisierung eines Gerhart Hauptmann hat er keinen Geschmack; eher steckt noch etwas vom Antik-Schicksalhaften der »Wiederkehr des Gleichen« – Restbestand der frühen Beeinflussung durch Nietzsche – in seiner Goethe-Nachfolge. Fast verschleiert, scheu und schamhaft ins Ironische transformiert, erscheint die Bindung in dem Roman »Lotte in Weimar«, eingehüllt in Anklage gegen den Tribut an menschlichem Leid und Opfer, von dem das Genie sich nährt. Mag immerhin sich Thomas Mann in Goethe spiegeln – er stellt sich ebenso an ihm in Frage. Die Einheit der »mächtigsten Geistesgaben mit der stupendesten Naivität«, die Ungleichheit der Augen, deren eines »Himmel und Liebe«, deren anderes »die Hölle der eisigsten Negation und der vernichtendsten Neutralität« verrät – es steht uns nicht an zu bestimmen, wie weit der mithandelnd-mitschuldige Zeitgenosse hier sein eigenes moralisches Konto aufmacht. Für die Rücksichtslosigkeit, mit der ein großer Schaffender durch seine Zeit geht, gibt es – wie Thomas Manns Goethe in dem großen Monolog es ausspricht – nur eine Rechtfertigung: daß er selbst ihr Opfer ist. »Alte Seele, liebe, kindliche, ich zuerst und zuletzt bin ein Opfer – und bin der, der es bringt.« Vielleicht sind dem Achtzigjährigen nur deshalb die bittersten Grenzen so leidlos, weil er sie in sich schon ausgelitten hat?
Das Leid, die Opfer der geteilten Welt – sie sind das große Thema des Mannschen Werkes. Die Welt des Bürgers und die Welt des Künstlers haben ihre wunde Grenze mitten in der Figur des »Tonio Kröger« von 1903. Im »Tod in Venedig« von 1912 zerbricht Gustav Aschenbach an dem noch elementareren Widerstreit zwischen Menschenwürde und Lebensdrang. Die Unversöhnlichkeit von Geist und Leben ergibt die Grundstruktur der meisten Werke Manns. Erst wenn das Leben sich neigt, sich erschöpft, in der Nähe des Todes, in der Krankheit, im Zerwürfnis mit sich selbst, erblüht der Geist zu seiner unvermuteten, wil210den Mächtigkeit. Thomas Mann hat dieses Motiv nicht nur gestaltet, sondern auch gesucht und beschrieben in vielen seiner biographisch-literarischen Essays. Er hat sich nicht gescheut, die volle Zweideutigkeit des Motivs nackt und ärgerlich hinzustellen: ist es der Geist, der das Gefäß des heilen Lebens zerbrechen muß, um seiner Freiheit die Enge der gegebenen Maße und Kräfte aus dem Weg zu reißen – oder ist »Geist« nur die Scheinblüte des lädierten Lebens, die Euphorie des Zerfallenden? Wir gestehen, daß diese Unentschiedenheit uns am Werk Manns oft unerträglich geworden ist. Die Spirochaeta pallida, die hirnhautreizende Mikrobe, als Urgrund der musikalischen Intuitionen Adrian Leverkühns, des »Doktor Faustus« von 1947, der Inzest als Herausforderung der Gnade im »Erwählten« von 1949, die Weltbegeisterung der von der Krebsgeschwulst »Betrogenen« von 1953 – welche unverwindlich makabren Zweifel am Geist, am Geschenk des menschlich Großen werden uns da zugemutet! Wie unerträglich ist uns oft die Einmischung Freuds und seines psychoanalytischen Schemas, das in der Steigerung des Ausdrucks, des Schaffens nur die »Kompensation« eines tief schwelenden, verhehlten Defektes wahrnehmen läßt. Wie, wenn Thomas Manns Glaube an die Einheit der Welt nur hier seine Wurzel hätte, in der Idee, daß im Zerfall die Größe erst recht aufleuchtet?
Noch zeichnet sich keine Entwicklung in seinem Werk ab, die diesen tiefsten Zweifel Lügen strafte. Der straffe Greis hat zuletzt die Feder an ein Fragment aus dem Jahre 1911 gesetzt, an die »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«, um den großen angesetzten Bogen zu Ende zu führen. Im Schelmenroman parodiert er noch einmal sich selbst, den Künstler, der das Bürgerliche vexiert; den Artisten, der schillernde Welten produziert, nicht weil er soll und muß, sondern einzig, weil er es kann; den »Kostümkopf«, der augenblicklich aus einem Gewand in ein anderes schlüpft, der Sprachen, Epochen, Wertungen mit technischer Brillanz vertauscht. Dieser Krull ist eine vorkopernikanische Figur: er läßt die Welt um sich rotieren, er läßt die Jahrmillionen der Geschichte der Erde und des Lebens auf sich als den Endzweck zulaufen. Aber wieder ist der Geist nur eine Veranstaltung und ein Veranstalter des Scheins, der Reflex eines schief angesetzten, sich im Leeren verbrauchenden Lebens. Das Zirsensische, das Felix Krull in dem Glanzkapitel des Werkes in vollen Zügen genießt, charakterisiert auch den Genuß, der sich dem 211Leser bietet – die Unverbindlichkeit, mit der man dem Salto mortale zusehen darf.
Was uns, so spät im Sich-vollenden eines großen Lebenswerkes, tief beunruhigt, ja bestürzt macht, ist die Linearität, die Entwicklungslosigkeit dieses Schaffens, die sich äußerlich darin bezeugt, daß mühelos über fast ein halbes Jahrhundert zurückgegriffen und ein Fragment dort wieder aufgenommen wird, wo es liegenblieb. Die gleich beim ersten Ansetzen, mit den »Buddenbrocks« von 1901, sprunghaft erreichte Meisterschaft der Sprache, der Form, der Komposition ist mit geringen Schwankungen ein Leben hindurch behauptet worden. Aber diese Kontinuität der schriftstellerischen Leistung ist selbst ein Kunstprodukt, das mehr verhüllt, als es bezeugt. Ist es Scham, ist es Verlegenheit, ist es Armut, was in diesem Werk das Menschliche so unauffindbar in die Parodien des Menschlichen versteckt hat? Wir wissen es nicht und werden es vielleicht auch nicht mehr erfahren.212