Die endgültig verlorene Zeit
Zum dritten Band der deutschen Proust-Ausgabe

 

 

Marcel Proust: »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. III. Band. Die Welt der Guermantes. Deutsch von Eva Rechel-Mertens, 867 S. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

 

Der deutsche Leser, der nun den dritten Band der deutschen Ausgabe des großen Romanwerkes von Marcel Proust zur Hand nehmen kann, betritt eine ihm schon vertraute Welt. Neue Personen, neue Ereignisse fangen sich in dem immer dichter verwobenen Koordinatennetz der dichterischen Erinnerung. Mit dem Fortschreiten des Werkes verlagert sich der Reiz von der Einführung der Elemente und Figuren auf deren immer neue, oft überraschende Verknüpfungen. Wenn gegen Ende dieses dritten Bandes unvermutet Monsieur Swann, dem Leser der ersten beiden Bände intim vertraut, bei den hochadeligen Guermantes auftaucht und sich dort durchaus »sehen lassen kann«, fühlt der Leser nach dem Hochseilgang durch die Welt des Faubourg Saint-Germain aufatmend festen Grund unter den Füßen. Die müßig-ästhetische Existenz des reichen Weltmannes Swann, für den Zeitgenossen unserer Jahrhundertmitte kaum noch realisierbar, wird inmitten dieser noch ferneren, noch unwahrscheinlicheren Hochsphäre zum verläßlichen Bezugspunkt der Wirklichkeit. Mit diesem Kunstgriff seiner Erforschung der »verlorenen Zeit« holt Proust Stück für Stück das Fernere mit Hilfe des Näheren heran. Je gleichgültiger uns das »Material« dieser Salonwelt, ihr Kodex, ihre Erregungen, ihre unproblematischen Probleme sein können, um so gebannter folgen wir dem Raffinement der Proustschen Optik, dem Wechsel ihrer Objektive und Lichtstärken, der noch nichts von der Sprunghaftigkeit an sich hat, die dem modernen Schriftsteller der Film suggeriert.

Wer sich für Proust begeistert hat, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß er sich am »Formalen« dieser epischen Kunst delektiert. Insofern rückt Proust in eine überraschende Nähe zu den Erfahrungen, die wir 213auf anderen Gebieten der Kunst heute machen, zur »abstrakten« Bildnerei, zur »atonalen« Musik. Wer Proust als Epiker einer historisch-soziologischen Epoche und ihrer Probleme liest, wird nur zu schnell enttäuscht werden; er ist weder ein Balzac noch ein Zola. Die großen Fragen, die seine geschichtliche Situation dem Menschen immer stellt, tauchen nur in abgeschwächter, der akuten Dringlichkeit und bedrohenden Virulenz ermangelnder Form auf; sie bewegen und erregen die Romanfiguren ebensowenig wie den gegenwärtigen Leser. Am fühlbarsten wird diese Distanz an der Rolle, die in dem vorliegenden Band die Affäre Dreyfus spielt. Zwar sind fast alle Personen durch ihre Parteinahme für oder gegen den jüdischen Hauptmann gekennzeichnet, aber dieser Parteiung fehlt jeder Hauch, sei es humaner Leidenschaft, sei es politischer Emotion. Für den heutigen Leser, der die furchtbare Potenzierung und Multiplikation jenes Einzelschicksals vor Augen hat, klafft hier ein unüberbrückbarer Abstand zu der ästhetischen Unverbindlichkeit des Dichters auf. Die Forderung nach der »engagierten« Kunst drängt sich auf die Lippen.

Ohne tiefe Zweifel, ohne immer wieder aufsteigende Entfremdung wird auch der enthusiastische Leser von Prousts Werk – und der Rezensent bekennt sich zu dieser Fraktion – nicht über die lange Strecke kommen. Mit ein wenig historischem »Verstehen« ist es nicht abgetan; seit wir gelernt haben, »alles zu verstehen«, hat diese Technik ihre entlastende Kraft eingebüßt. Vielmehr wird die Auseinandersetzung mit dem Romanwerk Prousts heute ganz wesentlich darin bestehen müssen, bestimmter in Erfahrung zu bringen, was gegenwärtig nicht mehr möglich ist. Proustlektüre ist geschichtliche Kontrasterfahrung, ist Skepsis gegenüber dem eigenen ästhetischen Wohlgefallen, zugleich aber bedrückende Feststellung darüber, daß sich nur die Technik geändert hat, mit der Zeit und ihren Bedrängnissen fertig zu werden. Proust kultiviert die Subtilität der Erinnerung aufs äußerste, und man ist erstaunt, daß es in dieser Erinnerung nirgendwo eine Spur der korrigierenden Reflexion, von Reue und Vergeblichkeitsempfinden ganz zu schweigen, gibt. Seine Unmittelbarkeit ist durch ein Filter gegangen, das übersehen zu lassen er all seine Kunst aufbietet. Und heute? Wir kultivieren nicht die Erinnerung, sondern das Vergessen. Wir paralysieren die Zeit durch den Zeitroman. Es gibt auch eine Flucht aus der Realität in den Realismus. 214Auf der Flucht ist der Mensch, scheint's, dort und hier – ob er die verlorene Zeit sucht oder ob er sie im Engagement der immer neuen Gegenwarten vergißt.

Proust schildert an einer Stelle dieses Bandes, wie er, in der Frühzeit des Telefons, von einem Besuch bei seinem Freunde Saint-Loup mit der geliebten Großmutter in Paris telefoniert. Er ist bestürzt über diese neue Technik der Vergegenwärtigung. »Sie ist es, die Stimme erreicht uns, ist da. Aber wie fern sie gleichzeitig ist!« Und es wird ihm schmerzlich bewußt, »was an Enttäuschendem noch in der scheinbar süßesten Annäherung liegt, und wie fern wir geliebten Personen in dem Augenblick bleiben, da es scheint, als brauchten wir nur die Hand auszustrecken, um sie festzuhalten«. Nähe, die durch Ferne erkauft wird! Jeder Eingriff in Raum und Zeit ist diesem dialektischen Gesetz von Preis und Gewinn unterworfen, auch der dichterische. Je »wirklicher« die Kunst Unmittelbarkeit und Gegenwart zu schaffen sucht, um so deutlicher, so beklemmender wird die Endgültigkeit der Zeit. Anders noch als es der Dichter erfuhr und zu bewältigen suchte – und von ihm niemals vorhergesehen –, erfährt es der Leser und hat es seinerseits zu bewältigen.215