»Bitte«, sagte Jovita, »steck' es nicht in die Tasche! Der Umschlag leidet dabei so – und du weißt, daß ich die Dinger nur wegen der Umschläge sammle.« Jovita meinte das buntbekleidete ro-ro-ro-Taschenbuch, das ich mir gerade bei ihr entliehen hatte. Um es zu lesen, versteht sich. Als erster zu lesen, denn Jovita ihrerseits liest ganz andere Dinge, die es nicht in Taschenbüchern gibt, Gedichte und so etwas, alter Insel-Verlag, Dinge der kleinen Auflagen. Sie entleiht es wiederum bei Freunden, die noch oder wieder »Bibliotheken« haben. In Jovitas Puppenstube mit dem hellhölzernen Miniaturregal passen ganzleinene und halblederne »Vollbücher« einfach nicht hinein; die grellblanken Kartonagen und frugalen Leinenblenden des Herrn Rowohlt sind dafür eine haargenau passende Füllung.
Da hätte also eben dieser vielgepriesene, einfallsreiche Herr Rowohlt bei unserer Freundin Jovita alle Fliegen mit einer Klappe verfehlt! Denn selbstverständlich will er nicht füllen und dekorieren, nicht gesammelt, sondern gelesen werden. Und gar das Verbot, ein Taschenbuch in die Tasche zu stecken! Zum Malträtieren, zum Auspressen in jeder Lebenslage, mit jeder Sorte von schmutzigen Fingern, zum wirklichen »Verbrauch« ist es doch gemacht und gedacht. Oder ist es dazu wieder ein bißchen zu schick, zu appetitlich, zu genau der Stil von Dingen, den wir mitten im Wirtschaftswunder-Barock suchen?
Hier ein Stoppschild für den taschenbücherfreudigen Verlegermut zu errichten wäre nun das Letzte, was in der Absicht des Unterzeichners läge. Er darf sich vielmehr mit einem Minimum an Koketterie zu jener Elite zählen, die schon zur Reichsmarkzeit für ein ro-ro-ro-Heft im Zeitungsformat ihre Zigarettenration zu opfern nicht zögerte. Auch wenn die Zigaretten nicht bis zu Herrn Rowohlt gelangt sein sollten, sondern nur ein Bruchteil der schäbig-nichtsnutzigen Mark, wird er doch die Legitimation anerkennen, mit ihm über die Sache zu reden, 216eine Sache, an der sein Ruf und Ruhm als Kulturmatador zum guten Teil hängt. Nein, ein Stoppschild steht nicht zur Diskussion. Eher ein Parkverbot für Analytiker unseres kulturellen Pegelstandes, die geneigt sind, die Chance einer statistischen Erfassung des Konsums geistiger Güter mit Hilfe der imponierenden Auflagenzahlen des Taschenbuchsegens wahrzunehmen. Ihrem Optimismus könnte das Exempel Jovita eine Spritze Nachdenklichkeit und Skepsis applizieren. Es ist noch nicht alles »Konsum«, was als Taschenbuch glänzt!
Das Taschenbuch ist nur zufällig ein Kind der Notzeit. Sonst hätte es sich nicht in die Epoche der Wohn- und Reise»wellen« hineingerettet und entfaltet. Das Taschenbuch ist vielmehr der Beleg dafür, daß die alles erfassende Industrialisierung auch das Buch ergriffen und einbezogen hat. Als industrialisiertes Produkt verliert das Buch seine klassische Individualität, seine köstliche Abstufung in Format, Einband, Satzspiegel, Papier, Letterntype, die immer am Ausdrucks- und Mitteilungswillen des Autors ihren Anteil hatten und die Nuancen des Geschmacks der Bücherfreunde anzusprechen suchten. Das Industrieprodukt muß, weil es auf eine rationelle und rentable Höhe des »Ausstoßes« angewiesen ist, solche Differenzierungen übergehen. Dafür strebt es jene Stufe gleichmäßiger Verlässigkeit an, auf der es zum »Markenartikel« wird. Wir sind umgeben von technisch so komplizierten Gegenständen, daß wir verzweifeln müßten, wenn der Kauf eines Radios oder Autos, eines Kühlschrankes oder einer Glühlampe von unserer Fähigkeit abhinge, das Fabrikat durch Prüfung seiner objektiven Qualität auszuwählen. Wir entscheiden uns vielmehr zumeist nach sehr subjektiven ja ästhetischen Gesichtspunkten und überlassen das technisch vertrackte »Innere« dem Vertrauen auf einen Markennamen. Dieses Vertrauen gründet sich auf das mehr oder weniger deutliche Argument, daß »eine solche Firma« es sich doch gar nicht leisten könnte, anfechtbare Produkte auf den Markt zu bringen.
Diese elementare Situation einer verliebt-hilflosen Unverständigkeit kennzeichnet auch weite Kreise des zeitgenössischen Buchpublikums. Es fehlt nicht an dem Zwanzigmarkschein, der zu investieren wäre, um ein Buch klassischer Art und Gewandung zu erstehen. Aber welchem unter den vielen Namen der Autoren und Verleger soll man diese Investition anvertrauen, da man doch die Erfahrungen allererst erwerben 217will, die man schon haben müßte, um über das vertrackte »Innere« der fast gleichmäßig eleganten Buchkarosserien sich ein Urteil zu bilden? Daß auch all diese »Sonntagsfahrer« unter den Buchkäufern nicht entmutigt ihre Investition streichen, sondern im Vertrauen zu dem millionenfach bewährten Namen die allverbreiteten Bändchen erwerben – das ist das unbestreitbare Verdienst der Rowohlt und Fischer, die aus dem Buch ein Markenprodukt gemacht haben. Man verkennt den Kern dieses Verdienstes, wenn man es von der Differenz zwischen 1,50 D-Mark u. 15 DM ableitet. Wir neigen zur Überschätzung der sozialen Hindernisse auf dem Wege zum Anteil an der geistigen Welt. Das Verdienst des Taschenbuches liegt vielmehr in der ungeheuren Ermutigung, die ganz allgemein der Markenartikel dem Konsumenten einflößt. Die lockenden Umschläge haben daran, wie auf anderen Gebieten die gezielte Graphik der Packungen und Gehäuse, ihren gewichtigen Anteil.
Alle trüben Ahnungen der Buchhändler und nichtindustriellen Verleger beim Anbruch der Taschenbuchära sind widerlegt worden. Das »klassische« Buch ist nicht nur im Rennen geblieben; es gewinnt immer weitere Käuferkreise. Wie denn auch anders? Am Taschenbuch bildet sich ständig Erfahrung, Mut zum eigenen Urteil, Appetit zum Ausgreifen auf Dinge, die nicht oder noch nicht zwischen den bunten Kartons zu haben sind. Auch der geübtere, mit Namen reich oder gar zu reich vertraute Bücherfreund findet noch seine Taschenbuchköder, bei denen er sich festbeißt. Der Unterzeichnete muß zu seiner Beschämung gestehen, daß ihm der Name Felix Hartlaub durchaus kein Begriff war und daß er den eben bei S. Fischer erschienenen Zweiundzwanzigmarksband des »Gesamtwerks« niemals gekauft hätte – wenn nicht Ernst Rowohlt mit seiner Taschenbuchausgabe der Kriegstagebücher Hartlaubs »Im Sperrkreis« die Angel ausgeworfen hätte, deren Haken nun freilich mit einer auf Anhieb überzeugenden Probe großer deutscher Prosa beschickt war. Tausende mögen beim Taschenbuch in die Schule des Lesens, Wägens und Wählens gegangen sein; sie wiegen die anderen auf, die nur Umschläge gesammelt haben oder der Magie der Reihe erlegen sind.
Apropos »Schule«: hier droht ein Mißverständnis, das dem Taschenbuch den Garaus machen könnte. Der potentielle Bücherfreund gehört zu dem Typ, der zwar lernen möchte, aber nicht zu sichtbar belehrt wer218den will. Auch wenn man einsieht, was einem noch fehlt, möchte man es nicht im Kauf eines Buches dokumentiert wissen. In der Flut der Taschenbücher zweiten und dritten Verwandtschaftsgrades zu den Pionieren macht sich nun immer stärker das Genre der »Wie«-Literatur breit, jene Eselsbrücken zum Mogeln in jeder Lebenslage (wenn man sie im entsprechenden Augenblick, da es mit dem Kochen, der Liebe oder der Menschenkenntnis hapert, gerade in der Tasche hat!), jene Eselsbrücken also, die uns die erbärmliche Ausstattung des Menschen mit natürlichen Fähigkeiten vor Augen führen und zugleich reparieren wollen. Hier zeigen sich die Grenzen der Gattung, die Gefahren der Irreführung der Unerfahrenen. Man wird bezweifeln dürfen, ob man das Festefeiern überhaupt aus einem Buch, geschweige denn aus einem Taschenbuch, erlernen kann; mehr als zweifeln aber muß man, ob es zu irgend jemandes Heil ist, wenn die so diffizile Handschriftendeutung durch Taschenbuchformat zum Dilettieren einladend gemacht wird. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.
Aber auch hier steigt der erfahrene Torero-ro-ro Ernst Rowohlt mit der gewohnten Kühnheit noch einmal in die Arena. Er legte den Plan einer »Deutschen Enzyklopädie« vor, die das Wissen des 20. Jahrhunderts im Taschenbuch zu sammeln verspricht. Eine große Sehnsucht der Neuzeit wird hier angesprochen: ein wenig aufzutauchen aus dem Andrang der Fakten und Daten und zu Übersicht, Rundblick und Orientierung zu gelangen. Es ist noch nicht der Zeitpunkt zu prüfen, ob dieses großzügig angelegte Unternehmen Rowohlts jeder Sehnsucht entsprechend ist. Rowohlts Wagnis ist kaum überbietbar; aber auch sein öffentlicher Kredit ist kaum überziehbar. Wenn ihm hier für das Verhältnis des deutschen Publikums zur Wissenschaft das glückt, was ihm hier für das Verhältnis zur Literatur gelungen ist, wird er dem industrialisierten Buch seine unanfechtbare Rechtfertigung geben.219