Die Peripetie des Mannes
Über das Werk Ernest Hemingways[
1]

 

 

»A. ‌O. ‌M. faßte mich unter und ging dicht neben mir. ›Papa, bitte, versuch, dich wie ein menschliches Wesen zu benehmen‹, sagte sie.« Das geschieht nach einer Rhinozerosjagd in den »Grünen Hügeln Afrikas«, nachdem der Vergleich der Trophäen zuungunsten des Autors ausgefallen ist. Eine ähnliche Mahnung kehrt in »Über den Fluß und in die Wälder« wieder; diesmal richtet sie der Held, Oberst Cantwell – der Hemingways »Tod in Venedig« zu sterben hat –, an sich selbst: »Zum Teufel mit dir, sagte er zu sich. Laß das schon, ja? und benimm dich wie ein menschliches Wesen, wo du ein halbes Jahrhundert alt bist.« Nein, es muß nicht leicht sein, sich wie ein menschliches Wesen aufzuführen, wenn man ein Mann in Hemingways Welt ist und nicht das längste Horn erwischt oder mit der Karriere Pech gehabt hat. »Wir haben sehr primitive Gefühle. Man kann nicht anders als rivalisieren.« Meistens ist das ganz harmlos, ja zuweilen, angesichts des Mißverhältnisses von Objekt und Affekt, ein wenig albern: »… er hatte es fertiggebracht, daß mein Rhino neben seinem so winzig aussah, daß ich es niemals in der selben kleinen Stadt, in der wir alle wohnten, zeigen konnte.« Aber es steckt mehr dahinter: die Verlegenheit von Leuten, die anstelle verbindlicher Orientierungen sich Spielregeln, anstelle von Existenzwerten Spielmarken, Goals und Trophäen gesetzt haben und nun den Ernst aufbringen müssen, der die Verwechslung durchgehen läßt. Fast mythische Aufschwellungen rücken die Objekte männlicher Spiele an die Grenze transzendenter Größenordnung. »Es waren die größten, ausladendsten, dunkelsten, weitgewundensten, schwersten, allerunglaubhaftesten Kuduhörner der Welt« – die Hörner des Rivalen natürlich. Das Sich-Vergleichen ist das Grundgesetz der Manneswelt Hemingways, dessen Mechanik alles erfaßt. Da sitzt die Jagdgesellschaft der »Grünen Hügel« 220schließlich am See von Galiläa. »›Ich werde nicht auf ihm wandeln‹, sagte Karl und blickte hinaus auf den düsteren See. ›Hat schon mal jemand gemacht.‹« Oder wieder Oberst Cantwell, der sich dem Mädchen Renata mit seinen Kriegswunden ausweist: »Ich habe keine Wunde an meiner Seite.« Der Leser wird das prima facie als geschmacklos, wenn nicht als blasphemisch empfinden; aber es ist die Grundform der Reverenz, die in der Welt Hemingways gilt. In der szenischen Story »Heute ist Freitag« reflektieren drei römische Soldaten in einer Jerusalemer Weinkneipe die Kreuzigung: das ist für sie der Fall eines Menschen, der gescheitert ist und doch in der kritischen Situation seinen Mann gestanden hat. (»Ach, der hat kein Glück. Aber ich muß sagen, er hat sich heute da recht ordentlich benommen.«) Es ist die männliche Urreverenz, die Boxern und Toreros, Partisanen und Jägern zuteil wird; sie verleiht die Legitimation, die in dieser Welt allein Beweiskraft hat.

Der »Mann« Hemingways ist kein Ideal, keine glorifizierte Steigerung vom Typus des Übermenschen. Er ist die gemäße, die notwendige Lebensform in einer Welt, die uns schlägt und uns zerschlagen wird, wenn es nicht gelingt, eine ganz auf Durchstehen angelegte »Igelstellung« des Menschlichen zu beziehen. Der Mann ist eine verhärtete Rückbildung des Menschen, kein Zweifel; aber erst in dieser Reduktion ist der Mensch nicht mehr besiegbar. Er ist konzentriert auf die eine Aufgabe, »dazubleiben«. Es ist eine Stellung mit dem Rücken gegen die Wand; niemand weiß, ob so je noch etwas zu gewinnen ist, ob der Mensch wieder vor- und hervorgehen kann. Das ist die Situation, von der Hemingway ausgeht, der Grundriß, auf dem er immer neue Figuren und Handlungen aufbaut. Es fehlt nicht an schüchternen Reflexen des Humanen bei ihm; aber beherrschend ist die Idee, daß es an der Zeit sei, statt vom Menschen vom Mann zu reden.

Die brutale Feindlichkeit der Realität gegenüber dem Menschen ist Hemingways »ontologische« Voraussetzung. In vielen der um den Knaben Nick gruppierten Stories »In unserer Zeit« werden erste Erfahrungen mit dieser Brutalität geschildert. Nick muß lernen, die Wunden zu sehen, ehe er sie empfängt; und er muß die kleinen Verletzungen überwinden, um den großen gewachsen zu sein. Das Ganze dieser Nick-Adams-Geschichten ist das genaue Gegenteil eines Bildungsromans: sie handeln nicht von dem Zuwachs, den der junge Mensch gewinnt, wenn 221er in die Welt tritt, sondern von den Verlusten, die er dabei erleidet. Das unvermerkte Geheimnis des Menschen ist, daß er so viel zu verlieren hatte, wie er immer schon verloren hat und weiter verliert. Eine Art von »negativer Anthropologie« entwickelt sich hier, ohne daß Hemingway je ausdrücklich fragt, wie ein Wesen überhaupt so versehrt werden kann. Diese Frage ist verdrängt von der Not, wie es trotz seiner Wunden weiter bestehen kann. Leutnant Frederic Henry in »In einem andern Land« (Originaltitel: »A Farewell to Arms« 1929), amerikanischer Freiwilliger auf der Seite Italiens im Ersten Weltkrieg, geht in den Krieg wie in ein fast irreales Abenteuer. »Es schien für mich nicht gefährlicher als ein Krieg auf der Filmleinwand.« Aber dann reißt ihn die Granate auf, gräbt die Wunde in ihn ein, die das Kennmal des Hemingwayschen Mannes ist, und enthüllt ihm den wahren Charakter der Welt:

 

Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind viele an den gebrochenen Stellen stark. Aber die, die nicht zerbrechen wollen, die tötet sie. Sie tötet die sehr Guten und die sehr Feinen und die sehr Mutigen; ohne Unterschied.

 

Dieser Vorgang der Selektion hat sich bei Hemingway immer schon abgespielt. Die »verlorene Generation«, von der er nach der Formel Gertrude Steins spricht, ist die Welt nach der Auslese der »sehr Guten« und der »sehr Feinen« und der »sehr Mutigen«. »In einem andern Land« ist der Roman ihres Sterbens und des Übrigbleibens derer, die durch ihre Wunden zu Männern geworden sind.

Aber zu überleben ist nicht selbst der Gewinn, um den es geht. Der Mann, der gegen eine feindliche, unerträglich vom Zufall beherrschte Welt durchhält, der lautlos die Schläge hinnimmt, der die Form bewahrt und die Spielregeln einhält, dieser Mann ringt dem blinden Widerpart die Unwahrscheinlichkeit seiner Freiheit ab. Das Glück mag sich ihm versagen und tut es überall; wie der Mann das hinzunehmen weiß, macht ihn frei. Der tödlich verwundete Harry Morgan in »Haben und Nichthaben«, von Stufe zu Stufe hinabgedrückt und schließlich in auswegloser Position »abgeschossen«, zieht am Ende das Fazit:

 

»Ganz egal wie, ein Mann allein hat keine verfluchte Chance nicht.« Er schloß die Augen. Er hatte lange Zeit gebraucht, um es rauszukriegen, und er hatte sein ganzes Leben gebraucht, um es zu lernen.

 

222Der verwegene Schmuggler mit Rum, Waffen und Menschen verliert gegen die Übermacht, die ihn erst nicht leben ließ, um ihn zu packen, als er dennoch leben wollte. Der Roman hat einen starken sozialkritischen Akzent: die feindliche Welt ist hier die Ordnung der Satten, die den einmal Angeschlagenen nicht wieder fußfassen läßt. Aber das ist nur die Szene; entscheidend ist, daß der Mann, der die Gesetze dieser Welt verletzt, seinen eigenen Kanon hat, den er bewahrt. Während er sein Leben verliert, gewinnt er nach einer anderen Regel, dem »Kodex«, wie Philip Young in seinem Hemingway-Buch es genannt hat, die Partie. Diese Gegenläufigkeit zweier Ebenen von Wertungen hat Hemingway in der Story »Um eine Viertelmillion« an einem für ihn typischen Stoff exemplifiziert. Der Boxer Jack, schon über den Zenith seines Könnens hinaus, will seine Zukunft sichern, indem er eine Viertelmillion auf seine eigene Niederlage im nächsten Kampf wettet. Und tatsächlich ist dieser Kampf schon fast gegen ihn entschieden, als sein Gegner durch ein schweres foul die Disqualifikation und damit die Niederlage auf sich zieht. Jack, obwohl durch den Tiefschlag kaum noch kampffähig, bestreitet, daß sein Gegner ihn gefoult habe, und bringt sich damit um den sicheren Sieg, rettet aber seine Wette.

 

Jacks Gesicht war das Entsetzlichste, was ich je gesehen habe – der Ausdruck drauf! Er hielt sich und seinen ganzen Körper zusammen, und man sah das alles auf seinem Gesicht. Die ganze Zeit über dachte er und hielt seinen Körper da zusammen, wo er zermalmt war.

 

Dieses Experiment auf den männlichen »Realismus« – es endet damit, daß Jack nun seinerseits seinen Gegner foult, um jedes Risiko auszuschalten – scheint eigens dazu erdacht, jeden Schimmer des Idealen von dem »Helden« zu nehmen und zu demonstrieren, daß es nur darauf ankommt, die Konvention einzuhalten, die man mit sich selbst geschlossen hat. Es ist die Karikatur einer Autonomie des Menschen, für die das Gesetz im Innern verstummt ist und die an dessen Stelle den Kodex des »Kerls« gesetzt hat, weil der Mensch ein »Sollen« – und sei es so zweifelhafter Art wie hier – einfach nicht entbehren kann.

Die Bedeutung der »Spielregeln«, dieses verzweifelten Analogons der Moral, liegt in der Abweisung fatalistischen Sich-Treibenlassens, das der »hoffnungslosen Generation« so nahe lag. Hemingway hat diesen 223»Zustand« des Menschen, der sich tief in sich aufgegeben hat, in seinem ersten Roman »The Sun also rises«[2] (1926) beschrieben. Der Typus des »Mannes«, den er entwickelt, ist schon eine Antwort auf diese Situation: der Mann verweigert sich dem Herrschaftsanspruch der »Umstände«, der Zumutung einer immer stärkeren Realität, indem er selbst sich auferlegt, wie er sein will, und selbst die Situationen sucht oder schafft, in denen er sich erweisen kann. Mit der Akribie eines Zeremoniells befolgt er sein Reglement und vergewissert sich dadurch immer wieder dessen, was ihm seine Lage am unwahrscheinlichsten macht: seiner Freiheit. Denn man »weiß« nie, daß man frei ist, es ist kein Besitz, auf dem man ruhen kann, und eine Wahrheit, die man verliert, wenn man sie bezweifelt. Die stoische oder die skeptische Versuchung sind den Gestalten Hemingways fremd: nie stehen sie vor der Wahl, zu handeln oder zu warten, bis das Wissen um das Recht sich einstellt; immer sind sie schon mitten in der Aktion drinnen, die sie ganz in Anspruch nimmt. Fast immer ist es aber auch eine letztlich selbstgesuchte Situation, in der sie sich weitab von einem »normalen« Lebensweg einer akuten Selbsterprobung stellen. Keiner der Romane spielt in Amerika, denn dort ist es »zu spät, um wirklich zu leben«, die Themen des Mannes sind dort gründlich verdorben, man kann nur noch »sein Leben vorübergehen lassen«. Frederic Henry ist freiwillig an der italienisch-österreichischen Front, Harry Morgan hat sein Revier im Seegebiet zwischen Florida und Cuba, Robert Jordan in »Wem die Stunde schlägt« ist als Spezialist für Brückensprengungen im spanischen Bürgerkrieg beteiligt, Oberst Cantwell sucht seinen Tod in Venedig. Der Mann läßt sich von seinem Schicksal nicht suchen, er selbst sucht es auf, macht sich ihm bemerkbar, wie der Torero – Hemingways symbolische Figur, um die er immer wieder kreist – das rote Tuch vor sich schwingt. Wie in der Arena, wie im Boxring, wie in der kritischen Sekunde vor dem getroffenen Großwild darf es keinen Ausschlupf mehr geben, wenn sich zeigen soll, was an einem ist.

 

Das waren die Tage, die sie gemeinsam erlebt hatten, da alles verloren schien; jeder von ihnen wußte nun, wie er sich benimmt, wenn alles verloren scheint, und das war mehr wert als jede Auszeichnung oder lobende Erwähnung.

 

224Die fatale Selbstpreisgabe der »verlorenen Generation« fängt sich in dem Willen, die Verlorenheit selbst zum Reagens der Freiheit zu machen.

Es kommt also in der Welt Hemingways nicht darauf an, daß man sich an ein bestimmtes Klischee hält, um dadurch »Mann« zu sein, sondern daß man mit Hilfe der »Spielregeln« sich selbst immer erneut bestätigt, daß man der Realität in ihrem blinden Zugriff nicht erliegt, ihr die Selbstauslieferung verweigert, sich festhält und sich eine Form gibt gegen die Auflösung jeder Kontur. Der Torero, der Partisan, der Jäger und der Schmuggler wissen genau, was man tut und was man nicht tut; sie haben so etwas wie eine cartesische »morale provisoire« – ohne erkennbare Aussicht freilich, daß sie je durch eine »morale définitive« abgelöst würde –, und sie scheinen der zweiten Maxime zu folgen, die Descartes für diese vorläufige Moral aufgestellt hat: daß man der einmal gewählten Richtung des Handelns unverwandt und entschlossen folgen solle, ohne sich immer neuen Prüfungen und Erwägungen hinzugeben. Nicht überlegen, nicht grübeln! – das ist die Mahnung, die sich Hemingways Helden in der Aktion immer wieder zusprechen. Deshalb ist auch das Verhältnis von Handeln und Überzeugung bei ihnen eigentümlich locker und labil: oft treten sie, auch mit dem Aufgebot ihres Lebens, für eine Sache ein, ohne von ihr »überzeugt« zu sein. Robert Jordan kämpft gegen die Falange ohne den großen Glauben an die Republik, den die Menschen haben, die er in den Kampf führt; er »hofft« nur, daß er an ihre Sache glaubt, im Grund ist es ihm gleichgültig, da er nicht um die Sache, sondern um sich selbst kämpft. In der Partisanengruppe Pablos bleibt er daher ein Einsamer, der seine Aufgabe mit sachlich-rechnender Distanz ausführt, aber keine Kraft ausstrahlt. Hemingways Mann ist an den Aktionen, in die er sich verwickelt hat, zuletzt unbeteiligt; sie erscheinen austauschbar und zufällig. Wenig erstaunlich ist es daher, daß Hemingway die aus der Konstellation seiner Romane möglichen Konflikte sich nicht entwickeln lassen kann. Leutnant Henry desertiert aus der italienischen Armee, um Catherine, seine Geliebte, in die Schweiz zu bringen; es ist, als zöge er sich in ein legitimes Reservat des Persönlichen zurück. Robert Jordan wiederum läßt keinen Zwiespalt zwischen seiner Rolle als befehlsgebundener Funktionär und seiner Liebesbeziehung zu dem Mädchen Maria erkennen, obwohl er weiß, daß er seinen Ein225satz nicht mehr zurückziehen kann. Diese Distanz gehört zum »negativen Pathos« des Mannes bei Hemingway.

Der Stil des frühen Hemingway ist ganz bestimmt durch dieses negative Pathos; es verrät sich schon in der Konstruktion seiner Handlungen. So ist in der Story »Das Licht der Welt« der »Held«, ein Boxer namens Steve Ketchel, gar nicht anwesend; nur im trübsten Medium – zwei Huren streiten sich um die rechtmäßige Erinnerung an seine längstverlorene Gunst – gibt es eine verklärende Spiegelung: »Es hat nie wieder so einen Mann gegeben.« Das »Ereignis« ist bei Hemingway selten zentral, es hat keine Tangenten, es strahlt nicht aus. In der Story »Die Hauptstadt der Welt« stirbt der Hilfskellner Paco in einem nachgeahmten Stierkampf, wobei der Stier mit einem Stuhl und daran befestigten Messern vorgestellt wird; er stirbt einsam, lautlos, ohne eine Umwelt in Bewegung zu setzen, die eigens mitgezeichnet wird, um ihre Unberührtheit sichtbar zu machen. Es ist wie der Fall eines Steines, der in flüssiges Blei geworfen wird: die Oberfläche schließt sich ohne die geringste Bewegung wieder. Gleichzeitige Vorgänge und durch den gleichen Ort vereinigte Menschen sind so ausführlich dargestellt, daß beim Leser das Empfinden dafür, wie im Nebeneinander das Miteinander versagt, gerade durch diesen Kunstgriff geweckt wird, ohne daß darüber reflektiert werden muß. Hemingways Stil ist voller Protest gegen Rhetorik, er ist voller Furcht schon vor dem Phantom der Rhetorik. Das literarische Steppengespräch in den »Grünen Hügeln Afrikas« (1935) ist geladen von antirhetorischem Affekt (zum Beispiel gegen Melville). Aber es ist zugleich das beste Beispiel dafür, wie sich dieser Affekt selbst unversehens in Rhetorik umsetzt. Auch das vielgerühmte »understatement« Hemingways ist des Umschlags in Rhetorik in hohem Maße fähig. Noch der forcierte Gebrauch des Wortes »Scheiße« und anderer einschlägiger Vokabeln kann Rhetorik sein. Der Aberglaube, daß das stupend Gewagte der Darstellung dem Leser die kühlste Exaktheit der Deskription geradezu verbürge, führt nur zu oft zu dem Widersinn, daß eben in den gewagtesten Situationen bei Hemingway so viel geredet werden muß, daß es geradezu eine Art von erotischer Rhetorik bei ihm gibt. Freilich wird jede lebendige Literatur sich gegen die eben vergangene abheben wollen, indem sie diese als »bloße Rhetorik« verreißt – aber schon im Sich-abheben-Wollen liegt der Keim dazu, daß sie selbst 226eines Tages zur vergangenen »bloßen Rhetorik« werden muß. Vieles bei Hemingway ist schon in diesen Aspekt gerückt; das »absolute Gewissen«, das Hemingway von dem Schriftsteller fordert, damit er eine Prosa schreiben kann, wie sie »noch niemals geschrieben worden ist«, mag eine Bürgschaft zum Vergangenen hin sein, es bürgt nicht gegen die Vergänglichkeit. Wie dicht Rhetorik und dichterische Redlichkeit beieinander liegen können, gerade bei diesem Autor tatsächlich liegen, wird dem Leser nicht entgehen, der etwa seine letzten beiden Romane »Über den Fluß und in die Wälder« (1950) und »Der alte Mann und das Meer« (1952) einmal nacheinander liest.

Hemingway gilt als Meister des Dialogs, ja als Vorbild für die Dialogtechnik einer ganzen Schriftstellergeneration. Wer genauer hinhört, wird bemerken, daß Hemingways Gestalten trotzdem in ihrem Wesen monologisch sind, daß sie, so viel sie auch miteinander reden mögen, sich nur sehr wenig zu sagen haben und sich noch weniger gegenseitig verstehen. Der Dialog ist oft ein Mittel, die Distanz des »Mannes« zu wahren, am deutlichsten wieder in »Wem die Stunde schlägt«; dieses sonst so starke Werk ist unmäßig aufgeschwemmt durch die Redseligkeit der inneren Monologe, die dem Autor einen Ausgleich für die dialogische Unergiebigkeit des von ihm kreierten männlichen Typus geben. Doch grade hier, wo Hemingway dem Helden seine schönste Frauengestalt beigesellt hat, drängt sich doch die Frage auf, ob nicht die Frau in dieser Manneswelt die virile Distanz durchbricht und in wahrem Sinne dialogischer Partner ist. Aber die Möglichkeiten der Frau sind hier begrenzt, es sei denn, daß sie mühelos den Mann, der im entscheidenden Augenblick versagt, ersetzt, wie die Bandenführerin Pilar, oder daß sie so vollkommene männliche Mimikry treibt wie die »Brett« in »Fiesta«. Je fester die Bindung des Mannes an die Frau, um so größer das Risiko des Verlierenkönnens, durch das die Probleme, die der Mann schon mit sich selbst hat, nur potenziert werden:

 

»Ein Mann sollte nicht heiraten … Wenn er schon alles verlieren soll, sollte er sich nicht selbst in die Lage bringen, es zu verlieren. Er sollte sich nicht in eine Lage bringen, in der er verliert. Er sollte sich Dinge suchen, die er nicht verlieren kann.«

 

227Immer ist der Mann in seinem Verhältnis zur Frau der Verlierer, sei es, daß der Tod, sei es, daß ein anderer Mann sie ihm entreißt. Die Spielregeln gebieten, ein »guter Verlierer« zu sein; man muß an der Bar neben dem »Gewinner« stehen können, wie Richard Gordon in »Haben und Nichthaben« neben Professor MacWalsey: »Und er wußte zum erstenmal, wie ein Mann sich fühlt, wenn er den Mann ansieht, um dessentwillen ihn seine Frau verläßt.« Aber letztlich gibt es bei Hemingway gar keine »Gewinner« – bleibt da der sportliche Begriff des »guten Verlierers« noch glaubwürdig, wenn man weiß, daß man nie der Gewinner hätte sein können?

Die wichtigste reale Rolle der Frau bei Hemingway ist die, daß sie den Mann erkennen läßt, wie es um seine »Männlichkeit« bestellt ist. Hemingway hat eine breite Skala solcher Indikationen, von einem leicht hingeworfenen »Was ist denn heute abend mit euch Männern los?« bis zu dem dramatischen Überspringen des Zeigers, wenn sie den einen zugunsten des anderen verläßt. Die Frau ist das Reagens des Mannes; nicht so sehr von ihr als an ihr erfährt er, ob er so ist, wie er »sein sollte«. Am schärfsten ist diese Problematik herausgearbeitet in der Novelle »Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber«, die thematisch in den Bereich der »Grünen Hügel« gehört. Auf einer Safari verliert Macomber seine Frau an den Berufsjäger Wilson, weil er im Gefahrenmoment der Jagd nicht standhält und dann seine Feigheit durch vorgetäuschten Jagderfolg vertuscht. Als er mit einem zweifelhaften Löwen ins Lager kommt, heißt es von der Frau:

 

Sie blickte beide Männer an, als ob sie sie nie vorher gesehen hätte. Einen, nämlich Wilson, den weißen Jäger, hatte sie bestimmt niemals zuvor richtig gesehen.

 

Das ist der Anfang. Macomber hat verloren; und er versagt auch in der nächsten Probe, an einem verwundeten Löwen. »Er wußte nicht, was seine Frau empfand; er wußte nur, daß er für sie erledigt war.« Aber Macomber gibt nicht auf, er fängt sich, wird mit sich fertig. Doch steht ihm keine andere Möglichkeit mehr offen, als die Spielregeln des Rivalen anzunehmen; es muß die Jagd, diesmal auf drei Büffel, sein, ein Terrain, auf dem er nie mehr er selbst, nur die Imitation des anderen sein kann. Aber er schafft es, wird zum »Mann«. Der Indikator ist nun ganz beirrt im 228Ausschlag und versagt schließlich: die Frau schießt auf Macomber und tötet ihn. Auch in ihrer indizierenden Rolle ist die Frau fragwürdig geworden.

In ihrer dritten Möglichkeit, als Liebende, ist die Frau bei Hemingway eigentümlich blaß und unwirklich. Catherine Barkley in »In einem andern Land«, Maria in »Wem die Stunde schlägt«, Renata in »Über den Fluß und in die Wälder« haben nicht die Dichte von Realitäten in diesen Manneswelten, in denen das, was als »wirklich« gelten soll, so hart und widerständig sein muß. Der Kontrast erscheint überdehnt und wird nicht mehr gemeistert. Diese Frauen begegnen allenfalls aus einer Art irrealer Sphäre, und sie werden daher von den Forderungen des Mannes so wenig berührt, daß sie als keusch erscheinen, obwohl das Gegenteil nicht im Unbestimmten gelassen wird. Das unwahrscheinlich Liebliche, das eine Maria im Milieu der rauhen Partisanengruppe annimmt, läßt selbst Robert Jordan zuweilen an eine Traumerscheinung denken. Trotz des weltweiten Beifalls, den diese Gestalt ihrem Autor gewonnen hat, wird man Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit anmelden müssen. Catherine Barkley wiederum scheint selbst geradezu unter ihrem Mangel an Dichte und Stofflichkeit zu leiden; noch in der eindeutigsten Situation muß sie daher sagen:

 

»Ich wünschte, wir könnten etwas schrecklich Lasterhaftes tun … Alles, was wir machen, scheint so unschuldig und natürlich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir irgendwas Unrechtes tun.«

 

Renata vollends ist so stark Fiktion, daß es dem Obersten Cantwell nicht viel Mühe macht, ihre reale Gegenwart durch die ihres Bildes zu ersetzen; so wenig ist sie wirklicher Pol des Geschehens, trotz ihrer quantitativ großen Rolle in dem Roman. Diese Frauen sind erstaunliche Fremdkörper in der männlichen Sphäre, dringen mühelos in ihre dichtesten Dschungel ein und gehen heil und wie unberührt daraus wieder hervor, ob sie nun sterben müssen, wie Catherine, oder leben bleiben dürfen. Maria entschwindet am Schluß des Bürgerkriegsromans recht melodramatisch, und Renata hat kaum eine spürbare Ausbiegung ihrer behüteten Aristokratenjugend hingenommen, als Cantwell stirbt. Sie am meisten war nur eine Art Katalysator für den Helden, der ihn veran229laßte, sich einmal »gründlich auszusprechen«, bevor es ans Sterben ging. Konsequent gibt es in dem nächsten Werk Hemingways »Der alte Mann und das Meer« keine Frau mehr; zugleich aber ist dies eine Dichtung, die, wie sich zeigen wird, die Wiederkehr der Frau als möglich erscheinen läßt.

Die Frau wird, in einem tieferen Sinne, zum Indikator der Welt des »Mannes«: ihre Irrealität erscheint als der akute Einspruch gegen die Struktur der Sphäre, in der sie nicht »wirklich« zu werden vermag. Die zweite, intensivere, weil immanente, Sperrung entsteht in der Konsequenz der männlichen Gestalten selbst. Es ist schon von Philip Young bemerkt worden, daß die Hauptgestalten im Werk Hemingways nicht zugleich die vom Autor positiv akzentuierten Figuren sein müssen. Es gibt andere als quantitative Akzente bei Hemingway, und ihre Bedeutung verstärkt sich mit dem Fortgang des Werkes. So wiederholt sich schon in den Geschichten um Nick Adams die Situation, daß nicht Nick, sondern ein anderer der eigentliche »Held« ist, weil an diesem sich ein Element aus der Formation des »Mannes« darstellt, das Nick übernehmen und aneignen soll. Aber diese Differenz zwischen dem Helden als Hauptfigur und als Träger des »Kodex« ist doch nur das Schema zu einer viel wesentlicheren Differenz, wie sie zuerst in »Wem die Stunde schlägt« heraustritt. Robert Jordan, der »Dynamiter«, der kaltblütig nach Befehl und Kalkül handelt, der seiner Liebe nicht ein Quentchen seiner Exaktheit opfert, ist »Mann« im Sinne des selbstgewählten und selbsterprobenden »Kodex«. In dieser Hinsicht ist die Gestalt perfekt und keiner Ergänzung bedürftig. Kritik kommt von einer Nebenfigur, die bei Hemingway neu ist, von der Gestalt des »alten Mannes« Anselmo, der den Helden als ortskundiger Führer fast ständig begleitet. Seine Bedeutung für die innere Geschichte Robert Jordans ist so groß, daß die geringe quantitative Auszeichnung Anselmos noch dem Stilmittel des »understatement« zugeschrieben werden muß.

Eine erste Skizze des »alten Mannes« besitzen wir in der 1938 geschriebenen Story »Alter Mann an der Brücke«. Bei einem Erkundungsauftrag im spanischen Bürgerkrieg trifft der Erzähler auf einen müden Flüchtling. Der Feind ist schon bedrohlich nahe, aber der Alte kann nicht mehr gehen, und »man konnte nichts für ihn tun«. Er sorgt sich um das Schicksal der Tiere, die er in seinem Heimatdorf zu hüten hatte. 230»›Ich habe Tiere gehütet‹, sagte er eintönig, aber nicht mehr zu mir. ›Ich habe doch nur Tiere gehütet.‹« In der Gestalt des Alten an der Brücke liegt unausdrücklich ein wehmütiger Vorwurf gegen den forschen Mannesgeist des Kundschafters und die Welt, die er hier vertritt, in welcher für so müde Alte und ihre Sorge um ihre Tiere »nichts mehr getan werden kann«. Das ist der Keim der Gestalt des Anselmo, die diesen Vorwurf viel deutlicher werden läßt; und es ist der erste, noch schwache Reflex des »alten Mannes«, der den großen Fisch, das brüderliche Wesen, fängt.

Bei dem Gefecht um die Brücke, die Robert Jordan zu sprengen hat, muß Anselmo auf den einen der beiden Posten schießen. Er weint, als er es tut, und die Tränen sind noch nicht getrocknet, als er selbst bei der Sprengung den Tod findet. Anselmo hat, wie die anderen, die Worte der roten Ideologie im Mund; aber er gebietet ihnen gleichsam im selben Atemzug dadurch Einhalt, daß er sich auf seine »sehr eigenen Ideen« bezieht. Er glaubt nicht an Gott, weil die Faschisten Gott für sich reklamiert haben. »Aber mit oder ohne Gott, ich halte Töten für eine Sünde. Einem anderen das Leben nehmen, ist für mich etwas sehr Ernstes. Ich tue es, wenn es sein muß, aber ich gehöre nicht zu Pablos Rasse.« Pablos Rasse – das sind jene, von denen Robert Jordan denkt:

 

Für sie war's schon immer eine Leidenschaft (zu töten). Ein besonderes Sakrament, das alte Sakrament, dem sie dienten, bevor sie vom anderen Ende des Mittelmeeres her die neue Religion erhielten, das Sakrament, das sie nie preisgegeben, das sie nur unterdrückt und versteckt haben, um es im Kriege und in der Inquisition wieder hervorzuholen … Auch du bist seit langem angesteckt. Und sag nichts gegen Anselmo. Er ist ein wirklicher Christ, und so was findet man selten in einem katholischen Lande.

 

Anselmo ist der wirkliche Gegenspieler des Dynamiters, nicht nur, weil er zaghafter, bedenkenvoller im Töten ist, sondern weil er die Tat selbst haßt, deren Konsequenz das Töten ist. Ihm fehlt der »amor actionis«, der den Hemingwayschen »Mann« beseelt; er fühlt sich zum Täter und zum Töten genötigt durch eine unverständliche Unordnung der Dinge. Ihm unterläuft das Paradox, daß er vor dem entscheidenden Tag der Brückensprengung betet – »es war das erstemal seit dem Beginn der Be231wegung, daß er betete« –, zu dem Gott betet, den er für jene Unordnung der Dinge verantwortlich macht und an den nicht zu glauben er sich entschlossen hat: »Hilf mir, mein Gott, daß ich mich morgen so benehme, wie ein Mann in seiner letzten Stunde sich zu benehmen hat.« Die tiefe Ironie entgeht nicht, daß diese Formel – sonst als Befehl des Hemingwayschen »Mannes« an sich selbst gebraucht, die »Spielregeln« einzuhalten – hier, im Munde Anselmos, zum Gebet wird.

Anselmo ist der erste Nichttäter, dem Hemingway nicht den leisesten Zug des Unmännlichen, Feigen oder Perversen gibt. – Er irritiert Robert Jordan in seiner kalten Sachbezogenheit, zieht ihn in die Dimension seiner »sehr eigenen Ideen«:

 

»Ich glaube an das Volk und an sein Recht, sich ein Regime nach seinen eigenen Wünschen zu schaffen.« Aber, sagte er (Robert Jordan) sich, du darfst dir nicht einreden, daß es richtig sei, Menschen zu töten. Du mußt es tun, weil es sich nicht vermeiden läßt, aber du sollst es nicht für richtig halten. Wenn du es für richtig hältst, stimmt die ganze Sache nicht mehr.

 

Das ist nun mehr und ist etwas ganz anderes als Bestandteil eines »Kodex«, wie er im Reglement des Jägers exemplifiziert war:

 

Er konnte es nicht ausstehen, wenn irgend etwas getötet wurde, auf das wir nicht tatsächlich Jagd machten. Kein Töten so nebenbei, kein dekoratives Töten, kein Töten um des Tötens willen …

 

Die Entdeckung der Gestalt des »alten Mannes« ist der wesentliche thematische Wandel Hemingways seit der Erfahrung des spanischen Bürgerkrieges – nicht so sehr als psychologische Errungenschaft, die seine doch enge Skala der Menschengestaltung um eine ganze Zone erweitert, sondern als Korrektur der fixen Vorstellung des »Mannes«, wie sie das frühe Werk normierend beherrscht.

Was an dem »alten Mann« neu gesehen sein wird, kann man erst ermessen, wenn man den »Mann« als alternden dargestellt sieht. In der Story »Der Unbesiegte« ist die ganze Melancholie der verblühenden Virilität an dem Torero erfaßt, der die exemplarische Stichprobe des Stierkampfes nicht mehr besteht – so wie sonst in der Literatur von der welkenden 232Schönheit der Frau gesprochen worden war, die plötzlich den Verlust ihrer Faszinationskraft spüren muß. Was Hemingway hier an dem Vorgang des Alterns fesselt, das ist nur das Negativ des Vergangenen, indem durch den Schmerz der versagenden Sicherheit, Kühnheit und Selbstbeherrschung gerade der dahingeschwundene Flor dieser Kennzeichen des Mannes viel glänzender sichtbar wird, als es die direkte Vergegenwärtigung zu leisten vermöchte. Die Schweißtropfen auf der Stirn des alternden Torero, die Krümmung seiner Klinge lassen erahnen, was es bedeutet, daß er einst mit trockener Haut und unverbogenem Stahl den mythisierten Stier sich zu Füßen zu zwingen verstand. Das Altern ist hier nur um der Chiffren des Vergangenen willen Gegenstand des Autors; in sich ist es nur Leere und Verlust, sinnloses Sehnen nach Wiederholung einer unvergleichlichen Einmaligkeit.

Ein alternder Mann, bloßes Negativ seiner Vorstellung von sich selbst, ist auch der lädierte und degradierte Oberst Cantwell. In ihm ist der Manneskodex zur Schablone geworden. Heroik und Erotik geben ihr letztes Licht, und der »Mann« ist schon gestorben, dazu bedarf es des Herzinfarktes nicht mehr. Dieser schwächste aller Hemingway-Romane mag verstanden werden können als nochmalige Probe auf die Gültigkeit der virilen Kategorien; was dabei herauskommt, ist die pure Vergangenheit des »Mannes«, der hier auf das Schlachtfeld seiner Jugend zieht, um seiner Verwundung, in der Schwäche und Stärke zugleich wurzeln, ein makabres Gedenken zu widmen. Neue Kräfte aus diesem Erlebnis zu ziehen ist es längst zu spät, und im Grunde läuft alles auf die geheime Sehnsucht nach Wiederholung hinaus.

 

»Und warum kann ich sie nicht haben«, sagt Cantwell zu dem Porträt Renatas, »und sie lieben und sie verwöhnen und niemals häßlich zu ihr sein noch grob, und die fünf Söhne haben, die an die fünf Enden der Welt gehen, wo immer die sein mögen? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich kriegt man die Karten, die man aufnimmt. Du würdest wohl nicht noch einmal geben, oder doch, Geber?«

 

Das ist rührend, im Munde des Hemingway-Mannes sogar ein wenig kitschig; aber es ist mehr – es deckt einen Zug an dieser Manneswelt auf, der konsequent aus ihrer Anlage hervorgeht: daß sie als eine Welt des Spiels, beherrscht von Spielregeln und dem obersten Gesetz der 233Fairneß, auf Wiederholbarkeit, auf den »new deal« der Chancen angewiesen ist. Die Enttäuschung des alternden Mannes gründet darin, daß in diesem Spiel nur einmal gegeben wird und man immer zu wenig Trümpfe hat. Das »Leben« wird für ihn zum Inbegriff dessen, was man hätte tun können; es ist wesentlich so, daß man es noch einmal leben müßte, weil man das, als unvermerkte Voraussetzung eines »Spiels«, immer erwartet hat. Ist das ein faires Spiel, in dem nur einmal gegeben und nur einmal gespielt wird und alles an dem Zufall dieser einen Konstellation hängt? Oder zeigt sich da ein bisher nicht gesehener Charakter des Lebens, ein Einmaliges, nicht Zurückzuforderndes, dem »Spielregeln« überhaupt inadäquat sind?

Das Wiederholungsmotiv ist thematisch auch in Hemingways berühmtester Story »Schnee auf dem Kilimandscharo«. Ein Schriftsteller, wieder einmal auf Jagd in der afrikanischen Steppe, hat sich eine Blutvergiftung im Bein zugezogen und wartet, fiebernd, delirierend, sterbend schließlich, auf das Flugzeug, das ihn abtransportieren soll. In dieser qualvollen Spanne Zeit rechnet er sich die Chancen seines Lebens vor, das Mißverhältnis zwischen Entwurf und Realisierung, zwischen Erleben und Bewältigen, aus dem vergebliches Hinter-sich-selbst-Herlaufen wird:

 

Jetzt würde er niemals die Sachen schreiben, die er zum Schreiben aufgespart hatte, bis er wirklich genügend wußte, um sie gut zu schreiben. Dafür würde er aber auch nicht bei dem Versuch, sie zu schreiben, versagen. Vielleicht konnte man sie überhaupt nicht schreiben und schob es deshalb auf …

 

Die Spekulation auf die Wiederholung wird aufgewogen durch den Argwohn, daß das Versagen nicht eine Sache der Umstände, der Verteilung der Chancen sein könnte. Wiederholung ist nicht die ersehnte Möglichkeit, sie ist das Prinzip der Enttäuschung, der Sinnentleerung des Einmaligen, sie ist die Grundform des Sich-selbst-Belügens:

 

Es war gar nicht einmal so sehr, daß er log, als daß einfach keine Wahrheit da war, die man sagen konnte. Er hatte sein Leben hinter sich, und es war vorbei, und dann fuhr er fort, es mit andern Menschen und mehr Geld noch einmal zu leben, an den schönsten Plätzen von früher und einigen neuen.

 

234Die Bitterkeit gegen die nihilistische Auszehrung des Daseins verbindet sich hier aufs engste mit dem Zynismus gegen die Frau, die bei dem Fiebernden ist und ihm das Leben erhalten will. Indem sie aber so auf Bewahrung des Nichtbewahrbaren bedacht ist, verkörpert sie ihm »die gewohnte Lüge, von der er lebte«. Das unüberbrückbare Mißverständnis zwischen zwei Menschen gehört für Hemingway zu seinem negativen Bild der Ehe. Die innere Spannung der Erzählung erwächst hier geradezu aus dem radikalen Aneinander-Vorbei von Mann und Frau: sie merkt nichts von der Leere des Lebens, das sie retten will, und er sieht in ihrer Mühe nur den Willen zur Wiederholung. Das Versagen der Frau in der Rolle des Indikators ist hier noch einmal kraß akzentuiert: in dem Sterbenden, dem nicht einmal dies »gelingt« – »mich langweilt das Sterben genau so wie alles übrige« –, sieht sie doch nichts als den »Mann« vor sich:

 

– »Du bist der kompletteste Mann, den ich je gekannt habe.«
– »Mein Gott«, sagte er, »wie wenig so eine Frau weiß.«

 

Der Mann, am Ende, mit den leeren Händen und dem bitteren Herzen, aufgehend in der letzten Illusion des rettenden Flugzeugs – das ist das Fazit dieser bedeutendsten Story Hemingways.

Mit leeren Händen wird am Ende auch der Fischer Santiago dastehen, der den großen Schwertfisch bezwang und wieder verlor; und doch kommt hier eine neue, in Hemingways Welt fast unwahrscheinliche, Gestalt auf uns zu. Die Erzählung »Der alte Mann und das Meer« (1952), vorerst Hemingways letztes und reifstes Werk, vielleicht nur Teil eines größeren noch kommenden Ganzen, verleugnet nicht die Figur des »Mannes«, aber es führt in ihre Peripetie hinein. Wieder wird er, wie in einem gewaltigen Experiment, einsam vor die Gewalten gestellt, die ihn bis auf den Grund befragen; wieder ist es ein Jäger, wieder haben die Regeln seines Tuns großes Gewicht, wieder empfängt und trägt er seine Wunden, wieder ist er ein »guter Verlierer« in seiner Niederlage. Und doch ist dieser alte Fischer, der zwei Tage und zwei Nächte mit dem größten Fisch ringt, den er je sah, ihn bezwingt und dann doch dem Raubzeug des Meeres überlassen muß, ganz anders als seine Vorgänger in den Hauptrollen Hemingways. Die Gesetze, denen er sich 235beugt, sind mehr als »Spielregeln«, die man übernimmt oder sich selbst gibt. Das Ziel ist ihm von seiner Lebensnot gesetzt, und er weist den Gedanken von sich, von der einzigartigen Beute eine Trophäe zu nehmen. Die Gewalten, mit denen er kämpft, kommen ihm nicht aus blinder Brutalität, die nur zerschlagen will. Die Niederlage ist ihm nicht pure Sinnlosigkeit, in der man resigniert »Haltung bewahrt«. Er ist nicht der Überlebende der »verlorenen Generation«, der das Nichtbestehen übersteht, sondern er ist erstmals einer, der weitergeben kann, der dem Fischerjungen Manolin so etwas wie ein Erbe zu hinterlassen hat – nicht nur Technik, sondern Überzeugung. Sein Dasein hat eine Einsamkeit, die Liebe um sich weckt und sich in lebendiger Antwort reflektiert. Nirgendwo bei Hemingway außer in Anselmo hat es eine Ankündigung dieser humanen Ausstrahlung gegeben.

Die Welt, die dem alten Mann nichts schenkt und am Ende nichts läßt als seine Wunden, ist ihm dennoch nicht feindlich, sondern brüderlich; er ist in ihr nicht allein:

 

Die meisten Leute haben kein Gefühl für Schildkröten, daß das Herz einer Schildkröte noch stundenlang schlägt, nachdem man sie zerstückelt und abgeschlachtet hat. Aber, dachte der alte Mann, ich habe genau solch ein Herz, und meine Füße und Hände sind wie ihre. Er aß ihre weißen Eier, um sich zu kräftigen. Er aß sie den ganzen Mai hindurch, um im September und Oktober den wirklich großen Fischen gewachsen zu sein.

 

Zwar steht er einsam gegen den gewaltigen Fisch, aber es ist nicht mehr die solipsistische Einsamkeit der früheren Hemingway-Gestalten; die Humanität, die von ihm ausgeht, scheint noch das tierische Gegenüber zu berühren, und was der »Mann« Hemingways bei aller Redefreudigkeit nicht vermochte: sich wirkliche Partner des Dialogs zu erwecken, das gelingt dem alten Mann mit dem stummen Fisch, der ihm »wie ein Mann« sich stellt und standhält und erliegt, dem er gleich wird im Leiden:

 

»Irgend etwas hat ihm also wehgetan«, sagte er laut und zog an der Leine, um festzustellen, ob er den Fisch zum Wenden bringen konnte. Aber als er ihre äußerste Spannungsgrenze erreicht hatte, fixierte er sie und lehnte sich gegen den 236Zug der Leine zurück. »Jetzt fühlst du's Fisch«, sagte er. »Und ich auch, weiß Gott.«

 

Der Fisch ist der Freund des alten Mannes; er hütet ihn, und doch muß er ihn töten, »in all seiner Größe und Herrlichkeit, obschon es nicht recht ist«. Es ist nicht nur die Fairneß des Tötens, das Reglement des Jägers, Bestandteil eines »Kodex«, sondern es ist ein Stück Gerechtigkeit, die von innen kommt und nichts nehmen mag, was sie nicht zu geben hätte:

 

Du tötest mich, Fisch, dachte der alte Mann, aber dazu bist du berechtigt. Niemals habe ich etwas Größeres oder Schöneres oder Ruhigeres oder Edleres gesehen als dich, Bruder. Komm nur und töte mich. Mir ist es gleich, wer wen tötet.

 

Als der Alte geschlagen ist, scheint es, als werde auch er der trotzig-resignierende, verwundet-verhärtende »Mann« Hemingways. »Man kann zerstört werden, aber man darf nicht aufgeben.« Es gibt indessen nicht mehr die Ausflucht der blind-brutalen Welt; der Mensch muß nach seinem eigenen Maß fragen und ob er die Grenzen geachtet hat, die ihm gezogen sind. Dieses Motiv ist neu bei Hemingway. Als der alte Mann den Fisch eben am Haken hat, kommt ihm, zuerst beglückend, ja überwältigend der Gedanke, daß er mit dem Fisch weiter hinausgefahren ist als alle anderen:

 

Nach seiner Wahl wäre er weit draußen, jenseits aller Schlingen und Fallen und Tücken in dem tiefen, dunklen Wasser geblieben. Meine Wahl war, ihm dorthin zu folgen, weiter hinaus als alle andern Menschen. Weiter als alle andern Menschen der Welt.

 

Als aber der Kampf gegen die Haie entbrannt ist, sagt der alte Mann zu dem schon zerfetzten Fisch, den er längsseits seines Bootes verteidigt: »Ich hätte nicht so weit hinausfahren sollen, Fisch. Es wäre für dich und für mich besser gewesen. Es tut mir leid, Fisch.« Dieses erste Gefühl für die Hybris seines Unternehmens verdichtet sich mehr und mehr. Als nur noch die Hälfte der Beute da ist, hofft er auf ein wenig 237Glück, damit ihm wenigstens dieser Rest bleibt. »›Nein‹, sagte er. ›Du hast dein Glück verscherzt, als du zu weit hinausgefahren bist.‹« Schon kann er kaum noch mit dem Fisch sprechen, so arg ist der verstümmelt. »›Halber Fisch‹, sagte er. ›Fisch, der du gewesen bist. Es tut mir leid, daß ich zu weit hinausgefahren bin. Ich habe uns beide erledigt.‹« Als endgültig alles verloren ist, ist seine Erschöpfung ohne eine Spur von Resignation, ohne Bitterkeit, und was er zu sich sagt, konnte nie vorher bei Hemingway gesagt werden:

 

Wenigstens der Wind ist unser Freund, dachte er. Dann fügte er hinzu, manchmal, und die große See mit unsern Freunden und unsern Feinden. Und mein Bett, dachte er. Mein Bett ist mein Freund. Einfach mein Bett, dachte er. Das Bett wird wunderbar sein. Es ist leicht, wenn man geschlagen ist. Ich wußte niemals, wie leicht es ist. Und was hat dich geschlagen? »Nichts«, sagte er laut. »Ich bin zu weit hinausgefahren.«

 

Am Ende trägt er seinen Mast in die Hütte, fällt und steht auf und liegt schließlich mit dem Gesicht nach unten da; und als der Junge ihn findet und die geschundenen Hände sieht, muß er weinen. Wann hätte über den Helden Hemingways geweint werden dürfen? Indes träumt dem Alten ein kindliches Bild von Löwen an der Küste Afrikas; er gehört nicht zu denen, die, wie Leutnant Henry, vor Gott des Nachts Angst haben.

Das Thema von dem Mann und dem großen Fisch und dem Meer als Raum der Hybris hat den Vergleich mit Herman Melvilles Epos von Kapitän Ahabs Kampf mit dem weißen Wal herausgefordert. Daß in der Literatur eines Landes ein solcher Stoff zweimal so höchstgültig gestaltet werden konnte, ist ein erstaunliches Phänomen. Es bedarf keines Nachweises, daß Hemingways großer Fisch nicht der Dämon Moby Dick und Hemingways alter Mann nicht Ahab, der »großartige Kerl, gottlos wie ein Gott«, ist. Mann und Fisch sind brüderlich leidende Kreatur, aber der Mensch leidet schuldig, weil er Leid bringt und lieben kann:

 

Du hast den Fisch nicht nur getötet, um dein Leben zu fristen und um ihn zum Essen zu verkaufen, dachte er. Du hast ihn aus Stolz getötet und weil du ein Fischer bist. Du hast ihn geliebt, als er am Leben war, und danach hast du ihn auch 238geliebt. Wenn du ihn liebst, ist es keine Sünde, ihn zu töten. Oder ist es dadurch eine schlimmere?

 

Ahab ist eine Figur der Leidenschaft, Santiago eine des Leidens. Das Motiv des Ecce Homo scheint auf hinter dem Geschundenen in seinem Boot:

 

»Ay«, sagte er laut. Dies Wort läßt sich nicht übersetzen, und vielleicht ist es einfach ein Geräusch, wie ein Mann es unabsichtlich macht, wenn er fühlt, wie der Nagel durch seine Hand hindurch und ins Holz geht.

 

Und da gibt es einen Satz aus dem inneren Monolog des alten Mannes, den Ahab nicht und keiner der anderen Helden Hemingways hätte sagen können und in dem die ganze Umkehr des männlichen Pathos konzentriert ist, den Satz: »Ich bin froh, daß wir nicht versuchen müssen, die Sterne zu töten.«239



[1] Die deutschen Ausgaben seiner Werke sind im Rowohlt-Verlag, Stuttgart, erschienen.

[2] Titel der Ausgabe für England: »Fiesta«.