Aus der unvergleichlichen »Kleinasiatischen Reise« von Carl J. Burckhardt vergißt sich nicht so leicht jene nächtliche Szene im kilikischen Adana, wo der jüdische Kaufmann Joseph seinem recht unbeteiligten europäischen Gast den orientalischen Tanz zu deuten sucht und daran die Differenz zwischen Europa und Asien exemplifiziert: »Ihr Europäer, ihr konserviert das Vergangene und beschwert euch damit, aber es ist tot, und im Augenblick der Not seid ihr so beladen, daß euch nur noch geringe Kräfte zur Abwehr taugen. Der Osten aber hat immer alles gegenwärtig, in einem ungeheuren Tanz kann er es auswirken, nichts widersteht dieser Gewalt.« Mehr als drei Jahrzehnte liegt dieses Nachtgespräch zurück. Seine Aktualität ist brennend, ist politisch geworden. Unsere großen Krisen tragen immer deutlicher die gemeinsame Signatur, daß wir, Europa, der Westen, das Abendland, wie immer man es nennen mag, von außen in Frage gestellt, gefordert, gewogen werden. Der Blick fremder Welten auf das Abendland ist von Jahr zu Jahr kritischer und verwirrender geworden. Die Frage, ob all das, was wir besitzen oder zu besitzen glauben, noch Gegenwart habe, ist in das Herz unserer Welt gedrungen. Sind wir nur noch Verwalter und Registratoren eines großen Erbes? Verzehrt uns das geschäftige Sorgen um das Kommende den gegenwärtigen Tag? Suchen wir uns nicht allzu hektisch unsere Gegenwärtigkeit zu demonstrieren, als daß wir ihrer sicher zu sein vorgeben könnten?
Diese Situation der von außen in Frage gestellten Gegenwart mußte für einen unbefangenen Blick am geistigen Leben Englands besonders früh und besonders scharf sichtbar werden, denn dieses Land repräsentierte ja das Ausgesetztsein – oder besser: Sich-ausgesetzt-Haben – des abendländischen Geistes an eine fragend-fremde Welt im höchsten Maße. Der junge Nordamerikaner Thomas Stearns Eliot, der sich in England einwurzelte, besaß die Sensibilität und Unbefangenheit, um die Exponiertheit des europäischen Erbes am äußeren Vorgang des Machtschwundes 240der britischen Nation abzulesen und um sogleich auf den Kern der hier zutage tretenden Problematik zu stoßen. Seine Zeitschrift »Criterion« war zwischen 1922 und 1939 das Forum, auf dem die stummen Fragen von außen ihre Formulierung fanden. Der kritische Fall der imperialen Geschichte Großbritanniens, Indien, wird für Eliot geradezu ein Paradigma zur Entwicklung seines Kulturbegriffes, der durch einen Pluralismus bestimmt ist, mit dem er sich der »selbstverständlichen Überzeugung« der Engländer widersetzt, »daß ihre Kultur die beste auf der Welt sei«. Zugleich sucht er seinen englischen Lesern ihre »Unkenntnis der Beziehung zwischen Kultur und Religion« bewußt zu machen, aus der sich für den Fall Indien so schwerwiegende Folgen ergeben hatten. »Von dem Briten, der sich der Bedeutung des Religiösen für die Herausbildung seiner eigenen Kultur nicht bewußt ist, konnte kaum erwartet werden, daß er dessen Wichtigkeit für die Bewahrung einer anderen erkennen würde.« Das ist für Eliot ein Musterfall für den unlösbaren Zusammenhang zwischen unserer Einsicht in die tragenden Kräfte der Vergangenheit und unserer Fähigkeit, Gegenwart zu haben, in der Gegenwart wirklich und wirksam zu sein.
»Geschichte kann Knechtschaft, Geschichte kann Freiheit sein«, heißt es in »Little Gidding«, dem letzten der »Vier Quartette«, die fast so etwas wie ein großes Lehrgedicht über Zeit und Zeitlichkeit sind, jedenfalls aber Eliots bedeutendste Dichtung, zwischen 1936 und 1942 entstanden.[1] Lehrgedicht, sagte ich, weil hier vieles in der abstrakten Ausdrucksweise oder doch in der bloßen nachübersetzenden Verbildlichung des Abstrakten stehengeblieben ist, weil das Ringen um Gegenwart so wenig selbst lyrische Gegenwärtigkeit besitzt – und in aller Lyrik geht es doch um den Besitz von Gegenwart, um das Zugleich von Erfahrung und Gewißheit. Und gerade dies, Gegenwart möglich zu machen, drängt Eliot zur lyrischen Aussage. Gegenwart ist die einzige Dimension der Freiheit zwischen der Ohnmacht des Nicht-mehr 241und der des Noch-nicht; Gegenwart zu haben, ist der Sinn aller Hinwendung auf die Vergangenheit.
This is the use of memory:
For liberation – not less of love but expanding
Of love beyond desire, and so liberation
From the future as well as the past.
Sinn der Erinnerung
Ist die Befreiung – nicht als ein Weniger an Liebe,
Sondern im Weiter der Liebe übers Begehren hinaus,
Und so Befreiung vom Kommenden wie vom Gewesenen.
Erinnerung hebt die Last der Vergangenheit als des Unverstandenen, des nackten Faktums und Fatums, auf; Liebe befreit vom Begehren und damit vom Sog der Sorge um das Künftige. Aus beidem ersteht das Freisein für die Gegenwart. Dem Dichter scheint sich fast mühelos die große Frage zu beantworten, ob und wie wir noch Gegenwart haben können, in einem Schleier falscher Aktualitäten stichhaltiges Da-Sein. Wie aber ist es ihm selbst gelungen über die Formel hinaus?
Eliots Zeitverständnis in den »Vier Quartetten« ist beherrscht von dem Grundgedanken, daß Zeit Anfang und Ende hat und daß als darin gleichsam »enthaltene« Mitte Gegenwart entsteht. In dieser fast formalen Deutung ist Eliots wesentliche Affinität zum christlichen Weltverstehen fundiert, das zwischen Schöpfungsbeginn und Gerichtsende Raum gelassen sein läßt für die Gegenwarten der Geschichte. Zeit verläuft sich hier nicht im Unendlichen oder rotiert im Zyklischen. Kostbarkeit, Einmaligkeit und Dringlichkeit jedes Augenblicks ist erst durch Anbruch und Abbruch der Zeit gewährt. Der dezidierte Widerspruch zum ennui der unendlichen Zeit ist innerer Impuls dieser Verse.
To be conscious is not to be in time,
But only in time can the moment in the rose-garden,
The moment in the arbour where the rain beat,
The moment in the draughty church at smokefall
242Be remembered; involved with past and future.
Only through time time is conquered.
Bewußtsein ist noch nicht In-der-Zeit-Sein,
Aber nur in der Zeit kann der Augenblick im Rosengarten,
Der Augenblick in der Laube, wenn Regen fällt,
Der Augenblick in der zugigen Kirche, wenns dämmert,
Erinnert werden – verwoben mit Vergangenheit und Zukunft.
Es wird nur durch Zeit überwunden.
Gegen den Überdruß an der unendlichen Gleichgültigkeit der modernen Zeitvorstellung, wie ihn etwa Baudelaire ausgesprochen hatte, war auch der Versuch der Erneuerung mythischer Strukturen gerichtet; Ezra Pound ist vielleicht die größte lyrische Verkörperung dieses Versuches. Sehnsucht nach der feiernden Wiederholung, ja der magischen Erneuerung des einmal Gültigen, seiner »Injektion« ins Faktisch-Gegenwärtige ist der Sinn mythischen Dichtens. Noch in dem 1922 veröffentlichten und Ezra Pound gewidmeten Zyklus »Das wüste Land«, der seinen Ruhm begründete, ist Eliot eingehüllt in mythische Bezüge. Seine lyrische »Methode« ist eine eigentümliche Synchronisierung mythischer Elemente mit banaler Aktualität; indem er so zeitlos Gültiges und Zeitfragmente auf eine Ebene projiziert, kommt eine Art »synthetischer Gegenwart« heraus, die nicht überzeugt, weil sie die Fugen der bloßen Montage zeigt. Und die Anspielung auf einen ganzen Horizont von »Bildung«, die nicht viele gleicherweise vereinen werden wie der Autor, ist ein zweifelhaftes Verfahren, durch große mythische Assistenz dem gegenwärtigen Augenblick Erhöhung zu verschaffen. Muß der Leser mühsam in beigegebenen Anmerkungen die ausbleibenden Assoziationen zu Homer und Shakespeare, Ovid und Baudelaire, zur Gralssage und zum »Vicar of Wakefield« ausgraben, ist seine unmittelbare Erfahrung das Gegenteil dessen, was beabsichtigt wurde, nämlich Zweifel an der Gegenwärtigkeit der abendländischen Tradition. Vorausgesetzt und gemeint ist ein Publikum von »Kennern«, aber Gegenwart ist nur bei den Ergriffenen. Das »Wüste Land« ist noch entfernt von der Einsicht, daß nicht Tradition die Gegenwart schafft, sondern daß lebendige Gegenwart sich das Gewesene zu gültiger Präsenz erweckt.243
Zwischen 1922 und 1936, also zwischen dem »Wüsten Land« und den »Vier Quartetten«, ist für Eliot nicht nur Zeit verflossen, sondern die Zeitstruktur hat sich gewandelt. Die Dinge haben neue Erlebnisakzente erhalten. Der mythische Dichter ist ja durchdrungen von dem Glauben an die Wiederholung als das innerste Gesetz des Seins. Daher die Bedeutung der Vegetationssymbolik im »Wüsten Land«, das trotz des Gralsrequisits eine durch und durch »heidnische« Dichtung ist. Der Durchbruch einer neuen Zeitvorstellung hatte sich 1930 in dem Zyklus »Aschermittwoch« mächtig angekündigt.
»Weil ich nicht hoff' auf Wiederkehr«, beginnt dieser Gesang der mythischen Resignation, aus der eine neue Weise der Freudigkeit am Faktischen, am Unwiederholbaren entsteht:
Because I know that time is always time
And place is always and only place
And what is actual is actual only for one time
And only for one place
I rejoice that things are as they are …
Weil ich weiß, daß Zeit immer Zeit ist
Und Ort immer Ort und nichts sonst
Und, was wirklich ist, wirklich nur
Für die eine Zeit und den einen Ort,
Bin ich der Dinge froh, so wie sie sind …
Das ist ein neues Seinsgefühl, das die Dinge in der Einzigkeit ihrer raumzeitlichen Gegenwart akzentuiert, ohne daß noch erkennbar auf die Bedingungen solcher Einzigkeit reflektiert wird, wie später in den »Vier Quartetten«. Man erkennt, wie die christliche Termination der Zeit diesem dichterischen Strukturempfinden adäquat werden konnte: die Bedeutung der Dinge hatte sich dem Blick verändert, und nun traten die Prämissen heraus, die das bedingt hatten. Die Dinge in der Welt können so Verschiedenes »bedeuten«, sie können gleichgültig oder absolut, Schattenwürfe oder Manifestationen einer ewigen Typologie, von höchster Flüchtigkeit oder von praller Solidität sein – immer wird gerade der Künstler ihren dichtesten Augenblick, ihre stärkste Gegenwärtigkeit er244fassen wollen. Daß die Welt vergeht, daß sie zwischen Anfang und Ende eine nicht umkehrbare »Richtung« hat, daß Zeit also ein terminierter Spielraum ist: das ist jetzt für Eliot die gleichsam »komprimierende« Kraft, welche die Dinge in die Intensität ihres Da-Seins zwingt, das Jetzt und nicht Dann und nicht Wieder, das Hier und nicht Dort und nicht Irgendwo. Aber mehr noch: gerade der Moment des hereinbrechenden Vergehens, der Augenblick vor dem Zerfall wird zur gesteigertsten Phase des Seins. Stärkste Gegenwärtigkeit aus dem Vorgefühl des Zerfalls zu gewinnen wird zur Leidenschaft des Dichters; daraus erklärt sich, was Ernst Robert Curtius – der Eliots Ruhm nach Deutschland getragen hat – seine »Verwesungsbesessenheit« nannte. Und in der Tat: die Polarität, das metaphysische Gleichgewicht zwischen Genesis und Apokalypsis, das zu wahren einem christlichen Weltverständnis immer aufgegeben bleibt, ist bei Eliot eigentümlich verschoben. Es ist eine untergründige Voreiligkeit, ein heftiges Drängen auf das Eschaton spürbar. Dies schon mit dem christlichen Weltbewußtsein gleichzusetzen, ist heute gang und gäbe, obwohl ein genaueres Hinsehen nur zu oft einen subtilen Platonismus zeigt, der die Wahrheit in der Realität der Dinge gefangen und erst im Feuer frei werden sieht; man denke daran, wie nahe sich Nihilismus und Platonismus dieser Art bei manchen literarischen Zeitgenossen stehen können. »Zeit, die Zerstörerin, ist Zeit, die Bewahrerin« – solche coincidentia oppositorum ist noch nicht notwendig christliche Metaphysik.
Eliots Zeitgefühl scheint die Bewegung der Dinge auf den Katarakt des Endes hin zu beschleunigen. In den »Vier Quartetten« wird immer wieder die Gegenwart als Zusammenfall von Vergangenheit und Zukunft, von Anfang und Ende beschworen – aber ist nicht das Ende sehr viel dringlicher gegenwärtig als der Anfang?
What might have been and what has been
Point to one end, which is always present.
Footfalls echo in the memory
Down the passage which we did not take
Towards the door we never opened
Into the rose-garden.
245Was hätte sein können und was gewesen ist,
Zielt auf ein Ende, das stets gegenwärtig ist.
Schritte hallen in der Erinnerung
Durch den Gang, den wir nicht gingen,
Zu der Tür, die wir nie öffneten,
In den Rosengarten.
Das ist, bis ins Versgefüge und -gefälle hinein, überlastig zum Ende hin; immer ist Gegenwart, das Offensein von Möglichkeiten, schon um ein weniges überschritten, und es beherrscht das Nicht-mehr, das Zu-spät den Sinn, die Melancholie der verfehlten Möglichkeiten, von denen man nicht erfährt, ob sie je wirklich gegenwärtig waren. Es ist viel von der fatalen »Geworfenheit« der Existenzphilosophie in diesen Versen, und ich zweifle nicht an dem tieferen Grund der gemeinsamen Modernität jener Philosophie und dieser Dichtung – und ihres gemeinsamen Überholtwerdens.
Eliots Lyrik fehlt der Atem, der die Bilder zu ihrer vollen Gegenwart aufblühen ließe. Es ist, als sei dem Dichter nur noch zum Fragment Zeit gelassen, als sei das eben Heraufkommende schon apokalyptisch angeschlagen, als bröckelte es schon im Entstehen ab. Die Dinge, denen nicht genug Sein mitgegeben zu sein scheint, sind von hektischer Inkonsistenz. Immer hat das Sein den Zenith der Gegenwart schon durcheilt und in allem ist »das stumme Horchen nach dem unleugbaren Klang der Glocke der letzten Verkündung«. So ist die lyrische Zeit der Raum einer vorwegeilenden Hinfälligkeit der Dinge. Das ist der tiefere Grund, der E. R. Curtius von den »Vier Quartetten« sagen ließ, sie schienen ihm »rein künstlerisch betrachtet ein Ende, über das es kein Hinaus mehr gibt«, zu sein. Das ist eine doppeldeutige Formel, und sie muß so genommen werden.
Was Eliot über seinen Umgang mit dem Wort sagt, fügt sich dieser Melancholie ein. In den zwanzig Jahren zwischen den beiden Kriegen, in denen er versucht habe, »den Gebrauch der Worte zu lernen«, sei jeder neue Anfang nur eine neue Art der Verfehlung des Gewollten gewesen, »weil man erst dann gelernt hat, die Worte besser zu sagen, wenn man die Sache, für die sie gesucht waren, nicht mehr zu sagen hat«. Diese Grunderfahrung läßt sich im Gedicht eben noch mitteilen, aber sie 246schließt in sich die Mitteilung der Unmöglichkeit des Gedichtes. Ist also die Selbstaufhebung des Gedichts die Essenz der dichterischen Erfahrung Eliots? Jedenfalls ist es dies, was das Gedicht unmittelbar, also unterhalb seiner »lehrenden« Funktion, auf den Leser überträgt. Die Melancholie macht die erlebte Zeit zur vergeudeten Zeit, nicht weil dies oder jenes mißlang, weil versagt war, was auch hätte gelingen können, nein, sondern weil Zeit ohnehin der vertane Aufenthalt vor dem Ende der Dinge ist. »Zwanzig verschwendete Jahre«, das ist kein zufälliges Fazit. Die verlorene Zeit, die nicht zu gewinnen war, ist ein Motiv, das schon der Zweiundzwanzigjährige in dem seltsamen »Liebesgesang des J. Alfred Prufrock« ankündigt: »Ich hab mein Leben mit Kaffeelöffeln ausgeteilt.« Dreißig Jahre später sieht sich der Dichter »in treibendem Boot mit rinnendem Leck«.
Immer bleibt der Sinn eines Gedichtes in einer gewissen Schwebe zwischen dem, was der Dichter von ihm weiß, und dem, was der Leser davon ergreift; und Eliot selbst hat es als eine Sache des »ästhetischen Taktes« erklärt, nicht zu hartnäckig nach dem »Inhalt« der lyrischen Aussage zu forschen. Dennoch gibt es jenseits der Detailfragen der Interpretation so etwas wie die Motorik des Gedichtes, die sich in Emotion umsetzt, und dies ist der eigentliche »Gegenstand« des Gedichts. Für Eliot gibt es ebenso »festumrissene Gefühle«, wie es festumrissene Gedanken gibt. Liest man unter diesem Aspekt über die metaphysischen »Lehrstrophen« der »Vier Quartette« hinweg, so drängt sich als alles übergreifende Emotion die Melancholie auf, die sich im Sog der Zeit, angesichts des Substanzverzehrs in aller Realität einstellt. In der Melancholie verrät sich ein immanenter Eschatologismus, den ich nicht mit der christlichen Eschatologie gleichsetzen kann. Das christliche Eschaton ist kein innerer Trend der Dinge, es steckt nicht wie der Wurm in ihnen drin, sondern es »bricht herein«, überfällt sie inmitten ihrer prallen Hiesigkeit. Es war die große und gefährliche Versuchung der Gnosis, das Ende der Dinge nicht nur gewärtigen, sondern es »betreiben« zu wollen; es war ein Konzept auf platonisierender Basis, ein Versuch, den Anfang zu diffamieren, um das Ende zu erzwingen. Für den christlichen Sinn ist zwischen Anfang und Ende der Welt ihre Gegenwart gewährt, und im Unwiederholbaren liegt die eigentümliche Solidität der Dinge. Nur wo die Gegenwart gebilligt ist, kann das Ende »her247einbrechen«. Ich möchte nicht sagen, Eliot sei ein Gnostiker; er diffamiert den Anfang nicht, aber er vergißt ihn in der Faszination des Endes. »Es ist das Ende, von wo wir ausgehen.« Da ist eine tiefwurzelnde Gemeinsamkeit mit jener Art von Philosophie, die gebannt ist vom »Sein zum Tode« und die in der Entschlossenheit zum Ende sich verschließt gegen die Frage nach dem Anfang als gegen die Versuchung, sich die Geworfenheit unseres Daseins wegzudisputieren. Demgegenüber ist das christliche Zeitbewußtsein gleichsam »symmetrisch«: das Ende ist die Restitution in den Anfang, die Eschatologie die Endgültigkeit der Schöpfung, und Gericht bedeutet, daß Gott gegen die Negation des Bösen auf seinem ersten Wort besteht.
Eliots Dialektik der Zeit ist vor ihrem eigenen christlichen Anspruch fragwürdig, weil sie die Eschatologie immanentisiert, zur Kränklichkeit des Seins selbst macht. Da wird, im vierten Gedicht von East Coker, »die ganze Erde zum Hospital, gestiftet von dem ruinierten Millionär«, und im Gebresten allein ist Gesundheit. Erst der Schluß der »Quartette« sucht sich der Melancholie zu entreißen. Da steht noch einmal das die Dichtung Eliots durchziehende Symbol der Rose, Dantes Paradieseszeichen, Zeichen auch des erfüllten Augenblicks – aber ebenso der Hinfälligkeit des Augenblicks
Ash on an old man's sleeve
Is all the ash the burnt roses leave.
Asche an eines alten Mannes Gewand
Ist alles, was bleibt, wenn die Rosen verbrannt.
Aber nun, am Ende, wenn »alles gut sein wird«, sind auch »Feuer und Rose eins«, der Augenblick ist durch sein Vergehen in die Ewigkeit gerettet. Ganz gleich, ob ich recht habe, wenn ich das neuplatonische Apokalyptik nenne – dieser Widerruf der Melancholie von fast neunhundert Versen setzt sich nicht mehr durch gegen die Emotion des Ganzen. Die gründliche Katalyse der Zeit gebiert noch nicht den Phönix der Ewigkeit, das Scheitern des Menschlichen ist noch nicht die Glorie des Göttlichen. Fragen der Unterscheidung stellen sich hier, wenn es richtig ist, was E. R. Curtius über die »Vier Quartette« sagt, daß sie 248»den Leser dazu zwingen, die Frage nach ihrer religiösen Relevanz zu stellen«.
Das umfangreiche Werk des Kritikers Eliot scheint den Grunderfahrungen des Lyrikers wenig zu verdanken. Der Glaube an das Klassische in der literarischen Tradition ist hier bestimmend: Klassik ist ein Begriff, um dessen volle, auslassungslose Definition Eliot immer wieder sich müht. Aber es ist nicht die Idee eines statischen Bestandes, der im Sturz des Vergänglichen gleichsam übrigbliebe als ein Sediment des Gültigen. Nicht ein fester Bestand ist das Klassische, sondern das, was immer wieder höchste Gefährdung »besteht« – die Gefährdung nämlich der Gegenwart. Und der Kritiker ist es, der sie vertritt. Er ist so etwas wie der Funktionär der Zeit, die Bewahrerin ist, indem sie Zerstörerin ist. Es gibt bei Eliot ein Pathos der Kritik, das mit dem Zeitbewußtsein des Lyrikers enger zusammenhängt, als auf den ersten Blick sichtbar wird. Der starke, oft apodiktisch anzuhörende Anspruch auf Autorität in Eliots Kritik gründet auf diesem Pathos. Und in einer Zeit relativistischer Laissez-faire-Attitüde in der literarischen Kritik nahm die Kulturwelt diesen Anspruch mit erstaunlicher Bereitschaft hin. Die Autorität, die der Kritiker Eliot beansprucht, ist eben jene, die er selbst seinen Maßstäben zubilligt, deren Inbegriff Klassizität ist. Das Klassische ist nie das unangefochten Fertige, nur noch zu Rezipierende; vielmehr wird die Überzeugungskraft des klassischen Werks immer aufs neue »erzeugt«, und diese Leistung integriert den Prozeß, aus dem das Werk selbst entstand. Der Traditionsbegriff Eliots ist durch diese Einsicht bestimmt: die Gegenwart rechtfertigt die Vergangenheit, nicht, indem sie sich an ihr bereichert, sondern indem sie das ihr Hinterlassene ihrerseits bereichert, »erfüllt«. Eben dies, und nichts anderes, ist Kultur. Schon 1919 sagt Eliot in seinem Essay über Tradition und Begabung: »Der Unterschied zwischen Gegenwart und Vergangenheit liegt darin, daß bewußtes Erfassen der Gegenwart ein Innesein der Vergangenheit ist in einer Weise und einem Umfang, wie die Selbsterfassung der Vergangenheit sie nicht aufzuweisen vermag.«
Kultur, so schreibt Eliot in seinen »Beiträgen zum Begriff der Kultur« (1948), sei »gerade das, was wir nicht bewußt erstreben können«, ja sie könne »nie völlig eine Sache des Bewußtseins werden – unser be249wußtes Erleben erschöpft sie nicht«. Aber wie – ist Kultur dann doch jenes organismische Gewächs, das gerade und nur dann gedeiht und reift, wenn Vernunft und Wille, Freiheit und Gedanke es nicht »stören«? Von solchem Biologismus sucht sich Eliot freizuhalten, so gern man das auch schärfer formuliert gesehen hätte. Aber natürlich ist Kultur nicht einfach ein Aggregat von Leistungen und Akten, die je schon auf das Ganze abzielen und in planendem Bezug dazu beitragen, es zu realisieren. Dieses Ganze kann weder vorentworfen noch im nachhinein erklärt, es kann nur anerkannt werden. Anerkenntnis ist der Akt, der Kultur »besiegelt«. Und hier liegt das konstitutive Amt des Kritikers; es fordert mehr als ästhetische Einstufung, es fordert die Umwandlung der Knechtschaft der Geschichte in ihre Freiheit. Kritik ist die Manifestation dieser Freiheit. Nur durch sie wird Tradition »gewonnen«; denn man gewinnt Tradition nicht, indem man erkennt, daß man von ihr beherrscht wird, sondern indem man anerkennt, daß man sich an ihr zu messen hat. Durch die Kritik wird Tradition zum Gegenteil dumpfer Selbstverständlichkeit, fraglosen Bestandes, leichter Verfügbarkeit des Probaten. In der Gültigkeit der Tradition, im exemplarischen Rang des Klassischen ist immer ein originärer Akt der Anerkennung aus lebendiger Gegenwart enthalten. Wo dieser fehlt, haben wir es nur mit Phänomenen mechanischer Trägheit zu tun.
Eliot umkreist immer wieder das Paradigma Dante, um den Zusammenhang seiner Begriffe von Klassizität, Tradition, Gegenwärtigkeit zu demonstrieren. Er verhehlt nicht, daß unser Weltverständnis sich von dem Dantes weit entfernt hat, und dieser Sachverhalt ist ein Grundproblem seiner Überlegungen zum Traditionsbegriff. Aber die Potenz eines wahrhaft »klassischen« Werkes, Gegenwart zu haben, ist unerschöpflich; wir werden ihrer daran inne, daß wir an diesem Werk etwas für uns so spezifisch Bedeutungsvolles wahrzunehmen vermögen, wie es weder der Autor noch irgendeine andere Zeit an ihm wahrgenommen haben können. Ein Beispiel von ironischer Prägnanz findet sich in Eliots Dante-Essay von 1929. Hier wird die strömende Bildkraft Dantes konfrontiert mit der »Produktivität« der modernen Tiefenseele Freudscher Herkunft und eine Einsicht zutage gefördert, die beiden Seiten überraschend Licht zuwirft: »Wir halten es für ausgemacht, daß unsere Träume von unten kommen; möglicherweise leidet infolgedessen die Qualität unserer Träu250me.« Die einander entfremdeten Welten tun sich den Dienst gegenseitiger Erhellung. Hier ist ein Miniaturmodell dessen, was Eliot »Kultur« nennt.
Das Moment der Entfremdung ist im Prozeß der Tradition nicht weniger bedeutsam als das der Sympathie; es läßt das Gültige nicht zum Gewöhnlichen und Selbstverständlichen werden. Aber darf die Entfremdung bis in die Fundamente reichen? Kann die ästhetische Seite des Kunstwerkes isoliert werden von den metaphysischen, moralischen, religiösen Voraussetzungen? Hat Dantes Commedia nur noch für jenen Menschen ihre volle Bedeutung, der den ganzen Umfang ihrer Voraussetzungen teilt? Die Antworten, die Eliot auf diese Fragen gegeben hat, wären weniger umstritten worden, wenn sie klarer formuliert gewesen wären. Eliot sagt, das Verstehen Dantes sei »eine Sache von Kenntnis und Unkenntnis, nicht von Glauben oder Zweifel«, und was für die Würdigung dieser Dichtung notwendig sei, »das ist nicht Glaube, sondern dies, daß man den Glauben in der Schwebe läßt«. Diese methodischen Anweisungen für den modernen Leser beruhen auf der Voraussetzung, daß »ein Unterschied zwischen philosophischem Glauben und poetischer Zustimmung« besteht. Aber Eliot begnügt sich nicht mit dieser Differenzierung auf der Seite des Lesers; er projiziert sie vielmehr in den Ursprung des Werkes selbst hinein, wenn er unterscheiden will »zwischen dem, was Dante als Dichter glaubt, und dem, was er als Mensch glaubte«. Das ist, zumindest in der Formulierung, eine Mißweisung. Natürlich enthält die Commedia ungeheuer vieles, was sie als Kunstwerk erst möglich macht – konstruktive und anschauliche Elemente, die Jurisdiktion über ihre Gestalten –, was aber gar nicht Gegenstand von Dantes Glauben gewesen sein kann. Wollte man etwa annehmen, Dante habe selbst an seiner Zuweisung historischer Gestalten zu Inferno, Purgatorio und Paradiso »geglaubt«, dann hätte er das Mysterium des Gott vorbehaltenen Gerichtes verletzt. Das bedeutet noch nicht, dem Dichter nur freie Erfindung zu unterstellen; aber die Wahrheit seiner Dichtung kann doch nur in einer inneren Konsequenz liegen – wie man sehr schön an der »gestaltlichen« Angleichung von Schuld und Strafe ablesen kann –, nicht in der präjudizierenden Abbildung der transzendenten Wirklichkeit. Die unvergängliche Gültigkeit der Commedia liegt doch darin, daß Dante im Medium seiner Jenseits251bilder die hiesige Welt des Menschen transparent macht als eine Welt, die nach Gericht und Scheidung, Sühne und Vollendung verlangt. Aber eben hier stößt man auf eine das Gedicht tragende Überzeugungsschicht, die für das Verstehen nicht »in der Schwebe« bleiben kann, ohne daß das Werk seines Sinnes beraubt wird. Es läßt sich heute durchaus eine geistige Sphäre vorstellen, in der die Commedia keine Gegenwärtigkeit mehr gewinnen kann, eine Sphäre, in der nicht nur die gläubige Gewißheit, sondern sogar die Forderung nach transzendenter Gerechtigkeit und die bloße Idee des Zusammenhanges von reinem Glück und absoluter Wahrheit erstorben wäre. Hier wäre auch das Ästhetische für sich nicht mehr zu gewinnen. Diese Grenzsituation des »klassischen« Werkes hat Eliot nicht mehr erwogen. Dabei hätte ihm seine eigene Erfahrung mit einem anderen Großen der Weltliteratur, mit Goethe, die Grenze bewußt machen können, wo man nichts mehr »in der Schwebe« zu lassen vermag.
Im Gegensatz zu Dante, dessen »persönlicher Glaube etwas anderes wird, indem er Dichtung wird«, träte der Glaubensgrund Goethes, so schreibt Eliot 1929, viel unmittelbarer zutage; man fühle bei ihm »oft allzu deutlich: ›dies ist es, was Goethe, der Mensch, glaubte‹, anstatt daß ich nur in eine Welt eintrete, die Goethe geschaffen hat«. Aber sollte Eliot sich nicht auch hier der Methode bedienen können, den Glauben des Dichters »in der Schwebe« zu lassen? Statt dessen lesen wir: »Goethe erregt in mir stets ein starkes Gefühl des Nichtglaubens an das, was er glaubt; Dante tut das nicht. Ich glaube, das liegt daran, daß Dante der reinere Dichter ist.« Das »starke Gefühl des Nichtglaubens« markiert hier genau die Grenze, an der das methodische Programm des In-der-Schwebe-Lassens versagt. Eliots innerer Widerstand gegen Goethe beruht auf einem sehr tiefen Glaubensgegensatz, der sich unmittelbar in die Welthaltungen umsetzt. Man muß nur daran denken, was für Goethe »Natur« bedeutet, während Eliot kaum verhehlt, wie schwach, ja mißtrauisch sein Naturbezug ist. Natur verstellt ihm die Hinfälligkeit des Seienden, es sei denn, daß sie sich ganz der Melancholie des Subjekts reflektierend ergibt, wie es in Eliots Essay über Thomas Hardy heißt, die Landschaft sei »ein passives Geschöpf, das sich der Stimmung eines Autors gefügig erweist«. Dann freilich wird die Reinheit der Naturerfahrung, die Offenheit des Vernehmenwollens verdächtig. Eliots Nicht252glauben gegenüber Goethe beruht selbst auf einem ganz elementaren Glauben an das, was Sein, Welt, Zeit, Natur »bedeuten« und was des Menschen Sache sei. Eliot täuscht sich also darüber, was ihm selbst möglich gewesen ist, wenn er dem englischen Dante-Leser in der Verlegenheit vor einer ihm fremden Bilderwelt empfiehlt, er solle »lernen, diese Formen gelten zu lassen; und dieses Geltenlassen ist bedeutsamer als irgend etwas, was Glauben heißen kann«. Welch hohes Maß an Gemeinsamkeiten der Weltüberzeugung liegt wohl immer unvermerkt der Vermeintlichkeit solchen Geltenlassens zugrunde! Und wo diese Basis fehlt, bleibt im günstigsten Falle Indifferenz. Eliot hat eine ganz andere Rezeptivität als Goethe, er ist mehr auf die Zeitform des Musikalischen als auf die Räumlichkeit des Optischen angelegt. Was er über die angemessene Einstellung des Milton-Lesers sagt, bringt die Eigenart dieser Rezeptivität sehr genau zum Ausdruck: der Leser des »Paradise Lost« dürfe »nicht erwarten, deutlich zu sehen; unser Gesichtssinn muß getrübt sein, so daß unser Gehör um so schärfer wird«. Er vergleicht Miltons Epos mit »Finnegan's Wake« von James Joyce und nennt beide Werke, überaus treffend, »zwei große Bücher blinder Musiker«. Milton erweist sich daher auch den seit Dante ungeheuer ausgeweiteten kosmischen Räumen visionär nicht gewachsen: es seien »riesige, aber unzureichend ausgestattete Räume, ständig von tiefsinnigen Gesprächen erfüllt«. Hier versteht Eliot aus der Affinität heraus aufs subtilste; auch seine Imagination ist puritanisch, seine aktuelle Erfahrung ist eigentümlich leer und bedarf ständig des Zuschusses an vorgeformter Tradition. Kurz gesagt, Goethes Naturbezug mußte ihm in seiner ruhenden Breite und Fülle prasserhaft und hypertroph erscheinen. Noch 1944, in seiner Rede über den Begriff des »Klassikers«, hat Eliot Goethe diesen Rang nur im Bezug zur deutschen Literatur zugebilligt.
Am 5. Mai 1955 nahm Eliot in Hamburg den ihm verliehenen Hansischen Goethepreis mit einer Rede über »Goethe den Weisen« entgegen. Es war mehr als eine politische Geste, als humane Noblesse, es war ein exemplarischer Akt, wenn die Einheit von Sich-selbst-Verstehen und Verstehen der Grundvorgang der Kultur ist. Der sachliche Ertrag mochte deutscher Vertrautheit mit dem Thema enttäuschend erscheinen; nicht das formulierbare Ergebnis, sondern die geistige Bewegung, der redliche Versuch, »Befreiung von einer Begrenztheit des eige253nen Geistes« zu erringen, war eindrucksvoll. »Für jemanden, der wie ich katholische Geistesart mit kalvinistischem Erbe und puritanischem Temperament verbindet, für den bietet Goethe allerdings einige nicht leicht zu überwindende Hindernisse.« Sicher ist Eliot das sozusagen Ontologische an seinem »Streit mit Goethe« noch nicht voll gegenwärtig geworden. Was er »puritanisches Temperament« nennt, ist nur eine psychologische Formel für jenes Zeitverhältnis, das seine Lyrik uns erfahrbar macht: die Voreiligkeit des Seins zum Vergehen, die Instabilität der Dinge und ihre Unfähigkeit, vor dem schauenden Auge in ihrer Schöpfungswürde zu ruhen, die platonische Vorwegnahme des Endgültigen in der sich entwertenden Erscheinung. Und nun sieht Eliot staunend, nicht mehr nur mißtrauisch, daß da etwas ist, was Goethe erfahren hat – »und ich nicht!«. Diese Interjektion war der große, helle, als Durchbruch fast bestürzende Augenblick der Goetherede. Der tiefste Sinn geistiger Kommunikation über Grenzen und Zeiten hinweg leuchtete auf: wie das eigene Seinsfeld an dem des anderen auf einmal als zu eng erfahren wird, wie ein absoluter Horizont des Wahren erahnbar wird, obwohl doch auch der andere diesen Horizont nicht besitzt, einen Horizont, der aus der Interferenz sich begegnender Begrenztheiten sich abzeichnet. In einem solchen Augenblick sieht der apodiktische Kritiker sich selbst in Frage gestellt: »Wenn ein Mensch ein gut Teil weiser ist als man selbst, braucht man sich nicht zu beklagen, daß er nicht noch weiser ist.« Weisheit – »die Weisheit, die wir alle annehmen können« – findet Eliot bei Goethe, und es wird deutlich, weshalb sie bei einem Dichter zu finden ist, der jeder systematischen Artikulation der Wahrheit fernsteht: weil Dichtung, wie Kunst überhaupt, es mehr mit der Wahrheit zu tun hat, deren wir bedürfen, als mit der, die wir schon besitzen. Deshalb sind, wie Eliot sagt, »die Weisheit und die Dichtung bei Dichtern höchsten Ranges untrennbar«, eine, wie er gesteht, späte Einsicht, die erst kam, »als ich selbst ein wenig weiser wurde«.
Den Dramatiker Eliot an letzter Stelle zu behandeln, entspricht nicht der öffentlichen Einschätzung, da diese Eliot erst über sein Theater zum Gipfel seiner Geltung brachte. Ich scheue mich nicht, damit eine Wertung zu markieren. Aber es entspricht auch der immanenten Stellung des Dramatischen im Werk Eliots selbst. Er sieht seine Theater254stücke viel »provisorischer«, als es sein Publikum und seine Kritiker zu tun vermochten. Kritische Reflexion, in eingeschobenen Vers-Exkursen, ist ja schon für Eliots Lyrik überaus charakteristisch. So scheinen auch seine Dramen weniger um der Erfahrung anderer als um der eigenen Erprobung willen geschrieben zu sein. Der regulative Dialog zwischen dem Praktiker der Bühne und dem Theoretiker der Dichtung ist von subtilem Reiz und bestätigt auf andere Weise Eliots These der unzerfällbaren Einheit schöpferischen und kritischen Geschäfts. In seinem Geleitwort zu einer Ezra-Pound-Auswahl verteidigt er Pound gegen die Behauptung, seine Geltung beruhe mehr auf seiner kritischen als auf seiner dichterischen Leistung – »mir hat man das gleiche Kompliment auch schon gemacht«. Es ist etwas an diesem »Kompliment«: die kritische Reflexion auf das eigene Werk ist nicht zufällige Zutat, sondern gehört zu seiner Substanz, ja, rechtfertigt vielleicht erst seine Existenz. Es ist der Versuch, noch in der Reichweite seines Urhebers dem Werk jene Kritik zu verschaffen, die sonst der Geschichte anheimgegeben bliebe. Es ist Zeitraffung des typischen Prozesses der Traditionsbildung, wie ihn der Kulturtheoretiker Eliot entwickelt hat. Die reißende Zeit ist auch darin Impuls geworden. Was Eliot 1950 an der Harvard-Universität über das Thema »Vers und Drama« vorgetragen hat, ist die Quintessenz solcher Kompression von Schöpfung und Kritik.
Eliots Bühnenwerke sind Versdichtungen. Der Vers ist hier ebenso Zweck wie Mittel des Dramatischen. Zweck, insofern es Eliot darum geht, im Drama die Möglichkeiten des Verses zu erweitern, eine Versform zu erreichen, »in der sich alles sagen läßt, was zu sagen ist«. Diese eigene Aussage Eliots sollte man nicht übersehen: noch das Drama ist Versuchsfeld des Lyrikers, der erproben will, ob er gelernt hat oder lernen kann, »alles zu sagen«. Zugleich stellt er aber auch die Allmacht des Verses in den Dienst des Theaters, denn der Vers ist ein Mittel der Aussage, welches »das Drama intensiviert«, indem es unmittelbar auf den »Puls unserer Gefühlsbewegung« einwirkt. Eliot sieht die Bühne mit den Augen des Lyrikers.
Eliot hat selbst gestanden, daß er mit seinem ersten Versdrama »Murder in the Cathedral« (deutsch in der Übersetzung von Rudolf Alexander Schröder: »Mord im Dom«) »in einer Sackgasse endete«, gemessen an den Ansprüchen, die er sich selber im Drama gestellt hatte. Das Werk, 255das 1935 uraufgeführt wurde, meidet aber nicht nur die ganze Härte der Erprobung des Verses im modernen Alltagsdialog, sondern es meidet im Grunde die Probe des Dramas überhaupt. Der Bischof Thomas Becket von Canterbury, der in der Auseinandersetzung mit der königlichen Gewalt zum Martyrer wird und 1170 in seiner Kathedrale von vier Rittern ermordet wurde, ist keine dramatische Gestalt, weil das Martyrium kein dramatisches Ereignis sein kann, wie Claudel und Honegger in ihrer »Johanna« mit Sicherheit empfunden haben. Zum Dramatischen fehlt die Spannung der Konsequenz zwischen dem unerschrockenen Handeln des Menschen und dem Zeugnistod, der doch nie gesucht, ertrotzt, sondern immer nur erlitten und hingenommen sein darf. Handeln mag Leiden wecken und umgekehrt, aber Handeln und Leiden dürfen nicht ineinander verfließen, ohne die Möglichkeit des Dramatischen aufzuheben. Dafür verrät Eliot ein Gespür: um sich Thomas Becket als dramatische Figur zu erhalten, kann er ihn nicht aus dem Zwielicht dessen herausnehmen, daß er sich selbst die Krone des Martyriums erzwingt, während er dies gleichzeitig für Schein erklärt. Aber was geschieht noch im Drama, wenn der Held von sich sagt:
Nicht hier in dieser Zeit läßt sich mein Tod verstehn;
Nein, außer aller Zeit fiel mein Entschluß?
Der Glaube an die Übersetzbarkeit religiöser Sachverhalte in dichterische Aussagen ist im Zeitalter des »theologischen Romans« so unangefochten, daß die Probe aufs Exempel im Drama – wo die Ausflucht, Gestaltung durch Darüber-Reden zu ersetzen, versperrt ist – von beispielhafter Bedeutung bleibt. Wo nur die Gestalten selbst sagen können, was zu sagen ist, wird sogleich deutlich, was hier nicht gesagt werden kann. Welcher Widerspruch zwischen der theologischen Formel und dem dramatischen Akt entsteht da im Munde Beckets innerhalb weniger Verse:
Nun bleibt nur noch der Sieg
Durch Leiden. 's ist die leichtere Viktorie.
Jetzt triumphiert das Kreuz. Jetzt
Öffnet das Tor! Ich will's. Öffnet das Tor!
256Der Zuschauer mag dennoch ergriffen werden, wenn er sich auf das stützen kann, was er bei sich weiß und glaubt, und nicht auf das angewiesen ist, was er sieht und hört. Vom Dramatischen her bleibt der Vierte Ritter mit seiner Rechtfertigung unwiderlegt: »Er hat dies Ende auf jede mögliche Art herausgefordert … Er bestand darauf, die Türen zu öffnen, als wir noch in voller Wut waren.« Zwischen den Seinsgestalten des Lyrikers Eliot und der ersten Figur des Dramatikers besteht eine wohl nicht zufällige Gemeinsamkeit: das aus der Welt Herausdrängende, das im Ende die Erfüllung der Gültigkeit sieht.
Das dramatische Moment hätte hier beim Chor liegen können. Der Wandel der Frauen von Canterbury von dem ängstlichen Häuflein zur zuversichtlichen Gemeinde reflektiert einen Vorgang, der selbst nicht Erscheinung werden konnte. Aber gerade hier ist es Eliots Vers nicht gelungen, »alles zu sagen, was zu sagen war«. Für »kleines Volk, das lebt mit kleinen Dingen«, ist da der antike Tragödienton angeschlagen. Letztlich ist das Werk in der heimatlosen Zone zwischen Mysterienspiel und Oratorium steckengeblieben. Mit liebenswürdigem understatement hat Eliot selbst der schwankenden Kritik einen Wink gegeben: »Schließlich war es ein religiöses Stück, und Menschen, die freiwillig ein religiöses Stück bei Gelegenheit einer religiösen Feier besuchen, sind darauf gefaßt, sich geduldig zu langweilen und sich mit dem Gefühl zufriedenzugeben, daß sie etwas Verdienstliches getan haben. So war mir der Weg leicht gemacht.«
»The Family Reunion«, 1939 uraufgeführt, 1945 in neuer Fassung vorgelegt, ist ein modernes Konversationsstück auf dem Grundriß der antiken Tragödie. Obwohl die »Ereignisse« im physischen Sinne längst vorüber sind, wenn sich der Vorhang über der zum Geburtstag der alten Lady Amy Monchensey versammelten Familie hebt, ist doch dramatische Ladung in dem Werk. Nach Jahren der Abwesenheit wird auch der älteste Sohn der Monchenseys, Harry, zum Familientag auf Wishwood erwartet. Der mysteriöse Tod von Harrys Frau auf einer Seereise rückt in den Mittelpunkt der Gespräche und der Gedanken. War Harry es selbst, der seine Frau über Bord stieß? Diese Frage wird nie ganz eindeutig geklärt. Nicht ob Harry kausal an ihrem Tod schuldig ist, erweist sich als der Kern der Frage, sondern ob er ihren Tod gewollt und gewünscht hat. Auf Wishwood erfährt Harry ein anderes Geheimnis der 257Familie, das ihm schlagartig den Wurzelgrund des eigenen Daseins aufreißt. Agatha, die jüngere Schwester seiner Mutter, enthüllt ihm, daß sie vor langen Jahren von dem inzwischen verstorbenen Lord heftig begehrt worden sei, so heftig, daß sich der Wunsch in ihm geregt hatte, sich seiner Frau Amy zu entledigen, die damals ihren ersten Sohn, eben Harry erwartete. Agathas Weigerung rettet das Ungeborene ins Dasein. Nun erst begreift Harry die Tiefe seiner eigenen Schuld, die ihn bisher nur als jagende Unrast bedrängte. Er verdankt das eigene Dasein der Überwindung eben jenes dunklen Antriebes, dem er selbst sich nicht verweigert hatte. Im Begreifen des Widerspruchs zum eigenen Daseinsgrund ergreift er jetzt die Schuld, die ihn verfolgte. Die gnädigen Eumeniden, die er als Rachegeister mißverstanden und geflohen hatte (noch mancher Regisseur verwechselt sie mit den rachsüchtigen Erinyen), werden ihm zu »hellen Engeln«, denen er auf der Stelle nachfolgt, ohne dem Familientag und seinem Erbe Wishwood ihr Recht zu geben.
Das ist ein großer Stoff für den Moralisten Eliot, der ganz deutlich den Punkt herausarbeitet, an dem sich der gleichsam »mechanische« Zusammenhang von Verbrechen und Strafe in den sittlichen von Schuld und Sühne verwandelt. Die Vertiefung der Tatkasuistik zur Aufdeckung der Willenseinschlüsse ist ein Gegenstand, der nicht leicht im dramatischen Medium Gestalt gewinnt. Eliot hat die Verborgenheit des Willens gleichsam in szenische Bewegung umgesetzt: die Oberfläche einer konventionell erstarrten Welt gerät vom Untergrund her ins Vibrieren, etwa wenn die alte Lady ihren Sohn Harry mit der Bilanz ihrer Obhut über das Erbe empfängt:
Es ist nichts verändert.
Harry: Verändert? Nichts verändert?
Wie kannst du sagen, nichts sei verändert?
Ihr alle seht so verwelkt und jung aus.[2]
Im Sich-verweigern der Verständigung wird das Abgründige gegenwärtig, ohne daß nur »darüber geredet« wird:
258Ihr werdet's weniger verstehen, wenn ich's erklärte.
Denn was ich euch vielleicht verständlich machen könnte,
Sind nur Ereignisse: nicht, was wirklich geschah.
Das »Ereignis« in jener undurchdringlichen Nacht an Bord eines Schiffes ist ja nur der Anfang dessen, was wirklich geschah, das jahrelange Reifen einer dunkel drückenden Last zur ergriffenen Schuld. Hier erwächst Gegenwart durch die letzte Verdichtung der Vergangenheit, die dadurch in ihre Krisis kommt, zur Entscheidung ansteht:
Und die Ereignisse –
Ihr seht vom Vergangenen nur das Vergangene,
Nicht das, was gegenwärtig bleibt. Auf das kommt's aber an.
Der antike Chor hat in diesem Drama eine starke (obwohl szenisch wohl nicht realisierbare) Funktion. Er wird durch die versammelte Familie gebildet, stellt gleichsam einen zeitweisen Aggregatzustand ihrer Individuen dar. Er repräsentiert das Beharren auf Sichtbarkeit, Verständlichkeit, Vertauschbarkeit von Außen und Innen, auf der Identität von Bestand und Sollen. »Wir müssen darauf bestehen, daß die Welt das ist, wofür wir sie immer hielten.« Die Familie ist ein Naturzusammenhang; sie besteht darauf, daß ihre Tradition ein Naturgesetz sei. Wenn die Individuen sich zum Chor zusammenschließen, riegeln sie sich ab gegen den Einbruch von Freiheit, Schuld, Tragik in die Kontinuität des Naturprozesses. Die Idee des Chores ist deshalb hier mehr als technische Rezeption, sie ist »genau« und bedeutungsvoll. Ein formales Stück Tradition wäre Gegenwart geworden, wenn die Bühne den Anspruch realisieren könnte.
Der Höhepunkt ist das Gespräch zwischen Harry und Agatha. Die am Rand des Abgrunds der Schuld hellsichtig Gewordene zielt genau in das Zentrum seiner Not:
Was hast Du im Sinn, Harry?
Ich errate es, was die Vergangenheit betrifft,
und was du denkst über die Zukunft,
Vermisse aber eine Gegenwart, die beides verbinden sollte.
259Hier ist Eliot an seiner Sache: Gegenwart als die einzige Freiheit zu Vergangenheit und Zukunft. Ästhetisch: die Kritik; moralisch: die Krisis der Schuldanerkenntnis. An Agathas erschütterndem »Aber ich wollte dich!« bricht für Harry der Widerspruch seiner Existenz und damit die Dimension seiner Schuld auf. Eine große Konzeption – hätte es Eliot bei ihr bewenden lassen. Aber die Faszination der antiken Tragödie läßt ihn ein Element hinzunehmen, das in diesem Entwurf einfach ein erratischer Block sein muß: den mythischen Erbfluch. Harry soll in seiner Schuld auch die Schuld des Vaters übernehmen, er soll den Fluch von der Familie tilgen, der über allen lastet, ohne daß sie es wissen. Harry, der nun Sehende, ist »erwählt, den Fluch zu lösen, unter dem wir leiden«, die »Last des ganzen Hauses« zu tragen. Nachdem die Eumeniden verschwunden sind, tritt Agatha in die leere Nische an ihre Stelle, um das antike Schicksalslied vom Fluch über dem Menschen zu sprechen (fast hätte ich geschrieben: aufzusagen):
Ein Fluch tritt ins Leben,
Wie ein Kind entsteht …
Harry geht, ins Unverständliche, »irgendwohin jenseits der Verzweiflung«. Den anderen wird gesagt, »um – Missionar zu werden«. Das Beliebig-Unwahrscheinliche wird zur ironischen Chiffre des allen unzugänglichen Entschlusses. Die abbrechende Bewegung des Fortgehens ist ein Klischee der Verlegenheit (man denke an Sartres verwandten Orest in »Die Fliegen«). Die eben errungene Gegenwart enteilt ins mythische Nirgendwo. Das ist symptomatisch: »irgendwohin« ist nirgendwohin. Der zur mythischen Metamorphose als Fluchträger und Heilbringer verurteilte Harry hat in unserer Welt keinen Platz. Denn es ist die Welt post Christum natum, in der es die Verwandlung der Schuld in den Fluch nicht mehr gibt. Der Abgrund der Schuld hat sich vertieft, seitdem gesagt wurde, daß nicht erst die Tat, sondern schon die Einwilligung in den Gedanken die Sünde enthält. Aber die Vertiefung der Schuld in uns bedeutet zugleich die Unmöglichkeit, daß sie zum Verhängnis über uns wird. Die Welt des »Familientages« liegt im geschichtlich Raumlosen. Eliot sagt über seinen Entschluß, nach dem »Mord im Dom« ein neues Drama zu schreiben: »Ich war entschlossen, in meinem 260nächsten Stück ein Thema aus dem Gegenwartsleben zu nehmen, mit Personen unserer Zeit, die in unserer Welt leben.« In unserer Welt? Ist das eine Welt, für die noch gilt:
Ein Fluch wächst langsam heran
Zur fertigen Frucht.
Er ist nicht anzutreiben,
Und er ist nicht aufzuhalten.
Der Kritiker Eliot sieht die Sache so an, als könne der Dichter frei über die Formen und Inhalte der gesamten Tradition verfügen, auch wenn er sich entschließt, etwas zu gestalten, was »in unserer Welt« geschieht – wie hätte er sich selbst sonst nur einen »mangelnden Ausgleich zwischen der griechischen Fabel und der modernen Situation« zur Last legen können? Es ist keine sehr erleuchtete Einsicht in die Problematik des Werkes, wenn Eliot sich die kritische Alternative so stellt: »Ich hätte mich entweder enger an Aischylos halten oder seinen Mythos wesentlich freier behandeln sollen.« Es gelingt Eliot auch nicht, auf den Grund seiner stichhaltigen Beobachtung zu kommen, daß man vor dem »Familientag« in Zweifel geraten könne, ob sein zentraler Gegenstand »die Tragödie der Mutter oder die Rettung des Sohnes« sei. Schließlich notiere ich die aufschlußreiche Mitteilung Eliots, daß seine »Sympathien sich jetzt ganz der Mutter zugewandt haben«. Ein vom Autor noch nicht verarbeitetes emotionales Anzeichen, zu dessen Deutung sich unsere Überlegungen empfehlen.
Eine Komödie schließlich, der man nachsagt, daß ihr Publikum unausweichlich an der falschen Stelle lacht, ist die 1949 uraufgeführte »Cocktail-Party«. Daß die Komödie Tendenz hat, ist von Aristophanes bis hin zu Bernhard Shaw ihr gutes Recht. Fraglich ist nur, ob sich jederlei Eifer für eine Sache zur Komödientendenz eignet. Das Vergnügen selbst soll nicht unverbindlich sein und ist es auch nie, schon gar nicht das theatralische. Aber läßt sich ihm so viel Verbindlichkeit auflasten, wie Eliot es mit seiner Ehegeschichte tut, derart, daß der übliche Seitensprung mit einer Kreuzigung neben einem exotischen Ameisenhaufen endet? Kann man mit gehäufter Unglaubwürdigkeit etwas für den Glauben tun? Kann die Essenz des angestrebten christlichen Theaters ein dramati261siertes Credo quia absurdum werden? Nun, Eliots Komödie war ein »Broadway hit«. Wer mag da Einspruch erheben?
Mr. Edward Chamberlayne erklärt den Gästen seiner Party die auffällige Abwesenheit seiner Frau Lavinia damit, daß sie plötzlich zu einer erkrankten Tante gerufen worden sei. In Wahrheit hat sie ihn verlassen, was alle wissen, als da sind: Celia, das Verhältnis des Hausherrn; Julia, eine für die Konversation unentbehrliche Dame; Peter, der ebenso intim mit der abwesenden Hausfrau bekannte wie in die Geliebte des Hausherrn verliebte, für ein Happy end vergeblich bereitstehende Prachtbursche. Schließlich erscheint Priestleys Inspektor, wollte sagen: ein unbekannter Gast, später Sir Henry Harcourt-Reilly, eine reich ausgestattete Heilbringer-Figur, gewürzt mit einer kräftigen Prise vom letzten Heilsglauben der Psychoanalyse – und endlich soll er auch noch der Herakles redivivus aus der »Alkestis« des Euripides gewesen sein. Kein Wunder, daß er zustande bringt, was man in einer Komödie erwarten darf: das wiedervereinte, allzu demonstrativ wiedervereinte Ehepaar Chamberlayne. Dieser Effekt freilich lohnte dem Autor den Aufwand des metaphysisch massiven Sir Henry nicht, zumal es doch überhaupt nur eine Eheunterbrechung statt eines Ehebruchs gewesen zu sein scheint. Den Energien des Sir Henry gelingt es mit geringer Mühe, aus dem Komplex dieser Seelen eine Partikel herauszuschleudern, Miß Celia Coplestone, die Umworbene. Um ihretwillen ist das Happy end der anderen auf billig gehalten, sozusagen um den Pegelstand null zu markieren, der den Höhenweg dieses Mädchens abzulesen gestattet, welches mit der bei Eliot nun nicht mehr verwunderlichen Eile, aus der Welt herauszukommen, in Missionsdienst und Martyrium endet.
Die religiöse Gewißheit, für Gott sei kein Ding unmöglich, kann kein Motto des Dramatikers sein. Der Deus ex machina war eine naive Lösung dramatischer Verlegenheiten. Er ist nicht aus Glaubensmangel, sondern aus kritischem Kunstsinn von der Bühne verschwunden. Ihn maskiert wieder einzuführen, weil der Dichter sich selbst und seinem Publikum die Naivität nicht mehr zutraut, ihn im Kasten aus der Kulisse hervorschweben zu lassen, ist ein Trick, der seine Sache diskreditiert. Wenn dem Religiösen die Einfalt fehlt, sich als das Nächstliegende zu geben, wird es zum Hintergedanken, zur getarnten Falltür im Milieu 262des Salons. Die ablenkende »Ausstattung« mit Psychoanalyse und allem Drum und Dran gibt doch letztlich zu verstehen, daß es der »gemeinten« Sache an Attraktivität für die moderne Welt fehlen könnte. Hier wird man mit dem religiösen Hintergedanken des Autors auf die penetrant unauffällig sein wollende Art einer Heiratsvermittlung bekannt gemacht. Der Psychotherapeut, der seine Patienten mit dem Segensgruß »Gehe hin in Frieden, meine Tochter« entläßt – und sich dann noch nicht einmal als verkappter Engel enthüllen darf, fällt ganz einfach aus dem Rahmen des guten Geschmacks heraus. Und die zur Gekreuzigten übersteigerte Celia tut es nicht viel weniger. In welchem Gestaltzusammenhang steht sie noch zu jener leichtfertigen Betörerin, die zum Komödienzweck eine Ehe ruinieren konnte? Wenn dieses Schicksal aber nicht mehr eine Konsequenz der Gestalt selbst ist, wie will der Dichter faßbar machen, woher sonst es kommen könnte? Etwa durch die Verwechselbarkeit von Berufung und psychoanalytischer Technik? Es ist doch eine Illusion des Dramatikers, zu meinen, wenn er das menschlich Unmögliche geschehen lasse, werde es ohne weiteres als das Gottgewirkte und Gnadenhafte erscheinen. Celia Coplestone hätte uns etwas bedeuten können, eine Celia, die sich nicht mit dem Ungenügen ihrer enttäuschten Liebesfähigkeit begnügte, die auf ihrem Liebesanspruch bestände, ohne sich im Umkreis des einmal Verfehlten zu wiederholen. Statt dessen wird sie in eine Verzweiflung hineingeredet, deren Trostlosigkeit ihr niemand abnimmt, um dann gelockt zu werden durch »jenen Glauben, der aus der Verzweiflung entspringt« (sic!), und blind auf einen Weg ins Übergroße geschickt zu werden:
Ich weiß nicht im geringsten, was ich tue,
Oder warum ich es tue. Es gibt nichts anderes zu tun:
Das ist der einzige Grund.
Reilly: Es ist der beste Grund.
Celia: Aber ich weiß, ich selbst traf die Entscheidung.[3]
Die letzte Zeile ist verräterisch, sie sucht von Sir Henry den Verdacht des Magischen zu nehmen. Aber die Ähnlichkeit von gemeinter »Gna263de« und praktizierter »Magie« ist zum Verwechseln. Auch auf der Bühne heiligt der Zweck nicht die Mittel!
Eliot beschließt seine kritischen Betrachtungen der eigenen Bemühungen um die Anwendung des Verses im Drama mit einer normativen Aussage, die alles enthält, was hier analytisch zu sagen war oder hätte gesagt werden müssen. Wir bleiben im Stil Eliots, wenn wir ihn selbst zum Zeugen für und gegen sich anrufen, ihn unter seinen eigenen Anspruch stellen: »Letztlich ist es die Leistung der Kunst, daß sie der gewöhnlichen Wirklichkeit eine glaubhafte Ordnung aufprägt und dadurch eine Vorstellung von Ordnung in der Wirklichkeit hervorruft, uns in einen Zustand von Heiterkeit, Stille und Befriedung zu versetzen und uns dann zu entlassen – so wie Virgil Dante entließ –, um in ein Reich einzutreten, wo jener Führer uns nicht mehr helfen kann.«[4]265
[1] Die »Vier Quartette« hat deutsch die Amandus-Edition, Wien, verlegt. Die andern deutschen Ausgaben von Eliots Werken: »Ausgewählte Gedichte«, »Ausgewählte Essays 1917-1947«, »Beiträge zum Begriff der Kultur«, »Der Vers«, »Mord im Dom«, »Der Familientag«, »Die Cocktail-Party« sind bei Suhrkamp, Frankfurt am Main, erschienen.
[2] Zitiert wird nach der Übersetzung von R. A. Schröder u. P. Suhrkamp.
[3] Zitiert nach der Übersetzung von Nora Wydenbruck.
[4] Hervorhebungen von mir.