Fontane führt in seinem Roman »L'Adultera« den jungen Ebenezer Rubehn, der die Ehe der Melanie van der Straaten zerstören wird, mit der Bemerkung ein: »Er hat etwas amerikanisch Sicheres.« Diese Charakteristik hat für den heutigen Leser einen Bedeutungseinschlag, den der Autor im Jahre 1882 kaum abgesehen haben kann: wir hören da mehr als unbedenkliche Forschheit und Selbstgewißheit des Neuweltlers heraus, wir haben mit im Gefühl die herandrängende Unausweichlichkeit und Schicksalhaftigkeit, die »das Amerikanische« für uns angenommen hat. Die Zukunft, die dort schon begonnen hat, unterstellt sich uns als unsere noch bevorstehende Zukunft. »Amerika lebt, wie wir morgen leben« (Thielicke) – das ist der Tenor, den unsere Kundschafter übereinstimmend von drüben mitbringen, das ist die Formel der Faszination, die alle dorthin zieht, die sich an unserer Zukunft beteiligt glauben. Wie die Neue Welt, die terra nova, die Kolonie Europas, zur »neuen Welt«, zur realen Utopie, zum Modell unserer Zukunft geworden ist, das wäre eines der wichtigsten Kapitel einer Geschichte des europäischen Bewußtseins der Gegenwart. Mag der einzelne, je nach den Wertungen, die er vollzieht, mehr lockende oder mehr drohende Aspekte wahrnehmen –, diese Differenz bestätigt nur das Grundgefühl des Bevorstehend-Notwendigen, das die Bilder Amerikas in uns erregen. Europa hat das Unumgängliche noch nachzuholen, es ist mit seinem Pensum in Politik, Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Lebensform, mit der zu absolvierenden Geschichte insgesamt also, in Rückstand geraten. In diesem mythischen Amerikanismus ist die Haßliebe der Alten Welt für die Neue Welt begründet. Die mit dem Namen Amerika verbundenen Vorstellungen sind Bestandteile eines Fatum, sind das Kommende, so wie Ebenezer Rubehn der »kommende Mann« in Fontanes Roman ist. Diese mythische Größe verstellt uns den Ausblick darauf, daß auch Amerika eine Geschichte hat; vielmehr wird gern geglaubt, es sei gerade die Last unserer Geschichte und Tradition, was uns jenen »Rückstand« 266gegenüber Amerika eingetragen hat. In diesem mythischen Kraftfeld, gebannt von dem Inbild ebenso herrlicher wie schrecklicher Wünsche, ist der europäische Blick erblindet für den ethischen und religiösen Untergrund der amerikanischen Geschichte, ja für deren noch unausgetragene Entscheidungen. Die Art, wie das epische Werk William Faulkners[1] bei uns gelesen und verstanden wird, ist nur ein Paradigma für solche Verstellung des Blickes auf den Freiheitsgrund der Geschichte. Sind da nicht übermächtige und unverfügbare Verhängnisse in undurchdringlicher Verflechtung beschrieben, die den Schluß von der Vergeblichkeit der Freiheit auf ihre Sinnlosigkeit geradenwegs erzwingen? Ist dieses Amerika Faulkners nicht ganz und gar von der Art des Mythischen, vom Stoff des Verhängnisses?
Die Schicksale der Gestalten Faulkners sind aufs engste verflochten mit den Urvorgängen, aus denen die amerikanische Welt heraufsteigt, mit der Kosmogonie des Kontinents. Aber der nationale Ruhm der Pioniergenerationen verdeckt die Schuld, die ihren elementaren Leistungen innewohnt, der Landnahme und Besitzgründung, der Rechtssetzung und Gesellschaftsordnung. Als sie mit Werkzeug und Waffe, mit Eisenbahnen und Sägemühlen den Daseinsraum des Menschen vorschoben, mußte die Wildnis sterben, mythisch verkörpert in der Herrschergestalt des alten Bären; das freie Land wurde käuflich gemacht und der Eingeborene zum Statisten des Scheinhandels, der einen trügerischen Grund der Legitimität legte. Um der vielberufenen »unbegrenzten Möglichkeiten« Herren zu werden, machten sie alles dienstbar, umsetzbar, verrechenbar. Die Kehrseite der großen Gründertaten ist das Leiden der Schuldlosen. Tragische, nie abzulösende Hypotheken liefen auf, und 267Faulkners Grundgedanke ist, daß sie unausweichlich fällig werden. Keiner kann jenes Erbe verwerfen, um dadurch auch der Verschuldung zu entgehen; nur wenige aber haben den Mut, die Schuld zu übernehmen, um sie zu tragen und abzutragen. Faulkner liebt die Gestalt des Knaben, der die Last seiner Väter als erster sieht und auf sich nimmt, der in die Wildnis geht und die Flinte zurückläßt und schließlich auch noch Kompaß und Uhr ablegt – die Zeichen der menschlichen Okkupation –, um sich wieder rein zu fühlen gegenüber der geknechteten Natur (»Der Bär« 1942); des Knaben, der das Blutgesetz der mythischen Welt als erster durchbricht (»Die Unbesiegten« 1938); des Knaben, der sich vor den unschuldig angeklagten Neger stellt und den rettenden Beweis furchtlos herbeischafft (»Griff in den Staub« 1948). So lange aber die ererbte Schuld nicht anerkannt und übernommen ist, transformiert sie sich in das unentrinnbare Verhängnis, die Nemesis immanenter Selbstzerstörung des Menschen. Es bedarf nicht des Feuers vom Himmel und nicht der sich spaltenden Erde, nur des Menschen selbst, um den Menschen zu fällen. »Kein Wunder, daß die zerstörten Wälder, die ich einmal gekannt habe, nicht nach Vergeltung schreien, dachte er; die Leute selbst, die sie zerstört haben, werden die Vergeltung vollenden« (»Go down, Moses«, 1942). Thomas Sutpen in »Absalom, Absalom!« (1936), ein Faust Faulkners, entreißt der Wildnis mit besessener Gewaltsamkeit seine Plantage, rafft einen Kolossalbau zum Mal seiner Hybris empor, stellt sich dem Nichts, als wollte er sich mit der creatio ex nihilo messen – aber am Ende steht wieder das Nichts, nicht eingebrochen von außen, sondern hervorgestürzt aus dem Innersten des Menschen selbst.
Von hier aus sieht Faulkner die Geschichte seines Landes, den tragischen Zwiespalt zwischen Norden und Süden mit seiner vermeintlichen Lösung von 1865, sieht er vor allem die brennende Aktualität des Negerproblems, das den Basso ostinato aller seiner Romane abgibt. Es ist nicht wahr, was immer wieder behauptet wird, daß Faulkners Amerika nur das der Südstaaten sei, nur ein partieller, wenn nicht provinzieller Aspekt des vielgesichtigen Kontinents also; im Gegenteil, das zentrale Ereignis des Bürgerkrieges, das die Einheit der Union politisch sicherstellte, ist für Faulkner auch der historische Akt, der die moralische Integration begründete, und zwar dadurch, daß die Union des Nordens der Konföderation des Südens die politische Lösung eines Problems 268aufzwang, das nur im Menschlich-Ethischen ausgetragen werden konnte, und dadurch die Verantwortung für seinen unbeglichenen Fortbestand mitübernahm. Dieser Gedanke bestimmt Faulkners oft mißverstandene Stellung zum Negerproblem, seinen Widerspruch gegen den juridischen Formalismus, mit dem die Zentralinstanz die historisch übernommene Verpflichtung abzugelten sucht. In »Griff in den Staub« ist das mit einer beinahe allzu theoretischen Klarheit formuliert in dem Privatissimum, das der Onkel dem jungen Helden nach der Rettung des auf Mord verdächtigen Negers hält:
Ich verteidige Lucas Beauchamp. Ich verteidige Sambo gegen den Norden, den Osten und den Westen, gegen die Ausländer, die ihn um Jahrzehnte zurückwerfen wollen nicht nur ins Unrecht, sondern auch in Leid, Qual und Gewalt, indem sie uns Gesetze aufzwingen, die auf der Vorstellung beruhen, daß die Ungerechtigkeit des Menschen gegen den Menschen durch Polizei über Nacht abgeschafft werden kann. Sambo wird es natürlich über sich ergehen lassen …, er wird uns sogar dabei besiegen, weil er auszuhalten und zu überlegen vermag, aber er wird um Jahrzehnte zurückgeworfen werden, und möglicherweise lohnt es sich dann gar nicht mehr, das zu besitzen, wozu er am Leben geblieben ist, denn dann haben wir, entzweit, wie wir sind, vielleicht schon Amerika eingebüßt … Ich sage nur, daß das Unrecht auf unserer Seite ist, der Seite des Südens. Wir müssen es selbst sühnen und abschaffen, allein, ohne Hilfe und sogar unter (dankendem) Verzicht auf Ratschläge … Es gibt Dinge, deren Duldung zu verweigern man nie aufhören darf … Nicht um Geld und gute Worte, noch für die Photographie in der Zeitung, noch um des Bankkontos willen. Nur sich weigern, sie zu dulden. Verstanden?
Es gibt eine Erzählung Faulkners, die wie im Modell die Struktur seiner Werke sichtbar werden läßt. »Schwüler September« spielt in dem für Faulkner typischen Milieu einer Kleinstadt des amerikanischen Südens. Nach zwei regenlosen Monaten lastet eine unerträgliche Atmosphäre auf den Menschen. Gestaute Affekte und bleierne Schwüle bilden ein Amalgam von schicksalsträchtiger Entzündlichkeit. Die sexuelle Überspanntheit einer alternden Jungfer führt zur Entladung; ein verhängnisvolles Gerücht breitet sich wie Feuer im trockenen Gras aus, »irgendeine Geschichte von Miß Minnie Cooper und einem Neger«. Niemand weiß etwas Bestimmtes. Aus der Dichte der Atmosphäre scheint sich 269ein Verdacht zu kondensieren »wie eine Infektion«; aus einem Friseurladen bricht eine lautlos-eilige Justiz auf, ohne Anhalt im Realen. »Tatsachen? So 'n Mist! … Wirklich passiert? Zum Kuckuck, was macht das für einen Unterschied?« Der Tod des Unschuldigen ist am Ende die einzige »Tatsache«. Die Welt, in der dies geschieht, geschehen kann, ist durch und durch deterministisch. Die Menschen sind nur Werkzeuge eines Vorgangs, der alles mit purer Mechanik umgreift. Es ist ein mythisches Ereignis, reines Verhängnis, das Böse ohne die Bösen. Kein Funke von Freiheit. Die Menschen sind Partikel eines Naturprozesses.
Nur einer ist da, der das Unwahrscheinliche sagt: »Ich kann es nicht zulassen …« Kein ungewöhnlicher, zum Widerstand prädestinierter Mensch, nein, »ein dünner, etwas älterer Mann, sein gelbliches Gesicht hatte einen milden Ausdruck«. (Physiognomische Notizen sind bei Faulkner seltene Akzente.) Dieser schmächtige Barbier drängt sich mit hinein in den Männertrupp, der den Neger abholt und in die Nacht hinausschleppt; und gerade er ist es, den der wild sich Wehrende ins Gesicht trifft – da schlägt auch er auf den Gefesselten ein. So bleibt nur das Opfer ohne Schuld. Für einen Augenblick hat die anonyme Raserei auch den Barbier gepackt. Er steigt mit in das Auto, das zur Exekution hinausfährt. Aber dann kehrt ihm die Besinnung zurück. In rasender Fahrt wirft er sich aus dem Wagen und geht zerschunden und resigniert in die Stadt zurück. Der Neger verschwindet ohne Spur in den bodenlosen Gruben einer alten Ziegelei. Die ältliche Minnie Cooper hat für einen Tag ihres Lebens die Genugtuung, daß sich eine makabre Neugierde ihr zuwendet. Die Männer kehren in ihre Kleinbürger-Häuser zurück, wo niemand ihnen zutraut, daß sie sich mit etwas anderem befassen könnten als mit Realitäten. Die Wogen des Alltags schlagen über einem Tod zusammen, als ob nichts geschehen wäre. Es ist nichts geschehen. Es kann nichts geschehen sein.
Diese Novelle enthält den ganzen Faulkner: die unerbittliche Dichte einer Sphäre mythischer Verstrickungen, die Ununterscheidbarkeit von äußerer Aggression und innerer Aszendenz des Schicksals, die Rolle des sexuellen Moments als des Motors der Katastrophe, die Einzigkeit und Einsamkeit der Freiheit schließlich im Geflecht deterministischer Prozesse. Faulkners Negergestalten stehen wie stumme Katalysatoren inmitten des Geschehens; einst von ihren Herren zu schweigendem 270Dienst übers Meer geholt, sind sie nun ganz und in jedem Sinn zu einer »Frage« geworden, die ausgehalten, beantwortet sein will, und sei es mit der Vergeblichkeit des bloßen »Ich kann es nicht zulassen …« So ohne Pathos bringt sich das Ethos Amerikas zu Wort, als der gefährdete Funke, als das sich selbst lästige Aufbegehren gegen den Strom. Faulkners ganze epische Mächtigkeit aber scheint sich darauf zu richten, dem leichtfertigen Schluß von dieser Vergeblichkeit des Ethos auf seine Sinnlosigkeit und Nichtigkeit Einhalt zu gebieten.
Von dem 1929 erschienenen Roman »Schall und Wahn« (The Sound and the Fury) bis zu der 1954 veröffentlichten »Legende« (A Fable) ist Faulkners Werk, bei aller formalen Vielfalt, von erstaunlicher Homogenität seiner radikalen Thematik. Der Roman von 1929 schildert den Zerfall einer Familie. Drei Söhne der Compsons stellen gleichsam die Zeugen für den Leser. Aber sie erzählen nicht, sondern der Leser tritt – wie bei James Joyce, dessen »Ulysses« 1922 erschienen war – in den Bewußtseinsstrom der Zeugen ein; es wird ihm gleichsam das Protokoll ihrer inneren Erfahrung, des Geflechtes von Erlebnis und Erinnerung, zugänglich gemacht. So nimmt der Leser nach wenigen Seiten mit Entsetzen wahr, daß das Ich, das sich vor ihm auffaltet, einem Spiegel gleicht, in den ein Stein geworfen wurde: im hundertfältigen Gesplitter zersetzt sich die epische Realität in ihre Atome, die nur ratende und ahnende Kombinationsversuche des Lesers zulassen. Es ist, als sei der Kettenfaden der Zeit zerrissen, und die auf ihm aufgereihten Erfahrungen seien durcheinandergeschüttelt worden. Durch die Innenwelt eines Irren, des Compson-Sohnes Ben, als Medium erscheint der Zerfall der Familie noch einmal zerfällt. Unverständliche Chiffren schrecklicher Vorgänge muß der Leser stehenlassen. Eine sinnvolle Lektüre muß nach dem Ende des Buches zu diesem ersten Teil zurückkehren – es vollzieht sich dann ein wahres Wunder der Wiederherstellung des heillos Zertrümmerten, nicht nur durch das inzwischen erworbene Wissen von dem, was tatsächlich geschehen ist und was die Chiffren bedeuten, sondern durch das tiefere Verständnis der Gestalt des armen Ben, die beim 271ersten Lesen nur das Ärgerliche einer technischen Komplikation an sich zu haben scheint, mit welcher der Autor modisch Joyce zu überbieten beabsichtigt haben könnte.
Der zweite Teil versetzt uns zurück in das Jahr 1910, achtzehn Jahre zurück, in den letzten Lebenstag des Quentin Compson, dessen Selbstmord am Abend dieses Tages allen Hoffnungen der Familie auf diesen Erben ein Ende setzen wird. Quentin zerbricht an dem Schicksal der allzu geliebten Schwester Caddy, die wegen des Kindes, das sie erwartet, einen ihr gleichgültigen Mann heiraten muß und aus der Familie ausgestoßen wird. Mit kalter Konsequenz halten die Compsons an dem Kodex ihres Stolzes fest, der längst kein reales Fundament mehr hat. Wie es gegenwärtig (1928) um die Compsons bestellt ist, erschließt die zynische Offenheit des dritten Zeugen, Jason Compson. Jason ist der Typ des perfekten Arrangeurs menschlicher Dinge; mit der Pfiffigkeit des Spekulanten stellt er sich der Katastrophe in den Weg. Immer wieder stößt er in seinen Illusionen auf die erratische Realität des irren Bruders Ben. Den letzten Stoß aber gibt ihm das Schicksal des siebzehnjährigen Mädchens Quentin, der inzwischen herangewachsenen, bei den Compsons aufgezogenen Tochter der ausgestoßenen Caddy. Diese letzte Chance der Familie wenigstens glaubt Jason »in der Hand zu haben«. Aber Quentin, mit der Sinnlichkeit ihrer Mutter geschlagen, wirft sich an einen fahrenden Musikanten weg. Grotesk ins Leere stoßend, jagt Jason der Entsprungenen nach, nicht um Menschliches zu retten, sondern weil er weiß, daß sich hier sein Widerstand gegen das Verhängnis entscheidet. Am Ostermorgen des Jahres 1928 ist alles an seinem Ende, wie es das Gesetz der Tragödie verlangt. Was kann noch geschehen? Weshalb ist Faulkner noch nicht am Ende?
Im vierten Teil wechselt Faulkner die Technik der Darstellung, kehrt zum konventionellen Erzählstandpunkt zurück, der Gestalten und Geschehen »von außen« sieht. Erst wenn man die Bedeutung dieses Stilwechsels aufweisen kann, erschließt sich das Sinngefüge des gewaltigen Werkes. Bis zu diesem Einschnitt hat der Leser von den Figuren des Romans keine optische Vorstellung vermittelt bekommen; er hat ja mit ihnen, gleichsam aus ihnen heraus gesehen. Jetzt rückt der Blick auf Distanz. Da wird die ganze jämmerliche, entmannte Massigkeit des irren Ben sichtbar, das leibgewordene Désastre der Familie, das der perfekte 272Jason aus dem Wege schaffen möchte. Niemand sieht, daß dieses wimmernde Ärgernis vielleicht die Frage und Aufgabe ist, die den Compsons gestellt ist, die Forderung, die nur mit Liebe beglichen werden könnte. War es nicht die verstoßene Caddy gewesen, die das gewußt hatte? Wenn der irre Ben am Zaun des angrenzenden Golfplatzes steht und die Spieler vor dem Schlag ihren Ruf »He, Caddie« ausstoßen, dann wimmert er in aufzuckender weher Erinnerung an die Schwester. Und doch ist noch jemand da, dem der ganze hohle Stolz der Compsons nichts bedeutet, eine Gestalt, die den verfehlten Anspruch auf sich nimmt, die noch in der Katastrophe mit Selbstverständlichkeit das Wesentliche tut: die alte Negerin Dilsey, die Hausmagd der Compsons. An diesem Ostermorgen nimmt sie den irren Ben an der Hand und führt den Sohn der Weißen in die Kirche der Neger. Diese beiden Herumgestoßenen sind inmitten der mythischen Tragödie, die alle anderen mit marionettenhafter Fixiertheit zu Ende exekutieren, der »Restbestand«, das schmale Indiz für Unschuld und Freiheit. Sie machen die ganze Differenz aus, die zwischen dem Haus der Atriden und dem Haus der Compsons besteht, und es ist nicht beiläufig, daß der Dichter diese Differenz am Ostermorgen aufspringen läßt. Da sitzt der stumme Tor in der Kirche der Schwarzen »inmitten der Stimmen und Hände, hingerissen von dem weichen blauen Blick (des Predigers). Dilsey saß kerzengerade neben ihm und weinte starr und still und aufgelöst über das Blut des in ihr beschworenen Lammes.« Und als sie auf dem Heimweg, den Irren an der Hand, fortweint und ihre Tochter sie mahnt, daß die Leute schon guckten und sie nun gleich an den Weißen vorbeikämen, da erwidert sie: »Ich hab den Anfang un' das Ende gesehen. Kümmre dich nicht um mich.«
Über diese Magd Dilsey hatte achtzehn Jahre zuvor, am letzten Tag seines Lebens, der junge Quentin schon reflektiert: »So dringen sie in das Leben der Weißen ein als jähe, stechende schwarze Tropfen, welche die Angelegenheiten der Weißen für einen Augenblick in einer unwiderlegbaren Wahrheit isolieren wie unterm Mikroskop; sonst aber sind sie nichts als Stimme, die lacht, wo es nichts zu lachen gibt, und weint, wo kein Grund zum Weinen besteht.« Das ist eine scharfsinnig registrierende Wahrnehmung, aber es ist nur die Außenseite der Wahrheit, die am Ende der Geschichte zutage tritt. Dilsey hat den Anfang und 273das Ende gesehen, sie hat mehr gesehen als der Leser, dem es verwehrt bleibt, in das Arkanum dieser einen Person einzudringen, Teilhaber ihres Sehens zu werden, wie er es bei den anderen wurde. Nun erst wird der Wechsel der Erzähltechnik bedeutungsvoll: er läßt im Widerstand gegen den enthüllenden Zugriff der Beschreibung wissen, daß diese eine heil geblieben ist, unversehrt von der mythischen Götterdämmerung der Weißen. Indem der Erzähler sich als von dem Inneren dieser Gestalt abgewiesen bekennt, erhebt er sie über die Funktion der Zeugin hinaus und macht sie zur Hüterin der Wahrheit dessen, was geschehen ist. Damit hat Faulkner, sieben Jahre nach dem »Ulysses«, der Stilrevolution von James Joyce eine aufdeckende Bedeutung gegeben, die ihr Urheber kaum gesehen hatte: die epische Technik des Eindringens in das erlebende Subjekt hat ihre Voraussetzung im Zustand dieses Subjekts selbst; nicht der Autor bricht es erst auf, sondern weil es insgeheim schon versehrt, die Siegel seiner Hoheit schon erbrochen sind, liegt es der protokollierenden Introspektion bloß. In der Realisierung seines Stoffes stößt der Dichter auf eine Grenze seines raffinierten Analysierens. Diese Grenze wird im Wechsel der Erzähltechnik objektiviert. So bringt sich im Formalen Substantielles zur Geltung. Das »Kümmre dich nicht um mich« der alten Negerin weist den Autor wie den Leser in ihre Schranken – eine harte Zumutung im Zeitalter des sezierenden psychologischen Romans. Faulkner zeigt uns, daß Joyce nicht nur die radikale Konsequenz, sondern auch die Peripetie dieses Romans darstellt.
Unmittelbar nach »Schall und Wahn« schrieb Faulkner sein peinigendstes Buch, »Sanctuary«, das aber erst 1932 in einer geänderten Fassung erscheinen konnte. Ich muß versuchen zu erzählen, was geschieht. Tessie Drake, fast noch ein Kind, unerfahren und gutgläubig, macht mit einem leichtfertigen Burschen einen Autoausflug. Der Jüngling fährt das Auto zuschanden und läßt das Mädchen in einer höchst zweifelhaften abgelegenen Schnapsbude feig im Stich. Hier wird sie das Opfer eines Mannes von geradezu vollendeter Bosheit und Perversion. In der grausigen Nacht erschießt dieser Popeye einen der Zechkumpane, der sich zwischen ihn und das Mädchen stellt. Am anderen Tage schafft er Tessie in die Stadt, wo er die ihm stumm Verfallene in einem Bordell unterbringt. Die Polizei verhaftet wegen des Mordes in der Destille den 274an dieser Tat unschuldigen Lee Goodwin, der zum Tode verurteilt wird, weil die nach langem Suchen von dem Verteidiger Horace Benbow endlich aufgefundene Tessie, die einzige Zeugin des Mordes, einen Meineid leistet, um ihren Dämon Popeye zu decken. Dieser Unhold wird auf einer Reise zum Besuch seiner Mutter wegen eines Mordes verhaftet, den er nicht begangen hat, und am Galgen hingerichtet.
Dieses Buch bestärkt am meisten die Interpretationen Faulkners, die ihn auf einen gnostischen Dualismus festlegen wollen und die nur das Mythische herausfinden. Es scheint ja auch an diesem Popeye nichts zu fehlen, um in ihm das Böse hypostasiert zu sehen. Sein makabrer Ursprung wird uns erst im letzten Kapitel enthüllt. Seine Mutter hatte ihn mit einer Infektion zugleich empfangen. Er war mißgestaltet und zurückgeblieben von Anfang an, kränkelnd und impotent, ein Ungeheuer innen und außen, der blanke Mechanismus perverser Kompensationen. Popeye ist keine Person, er ist ein bloßes Produkt biologischer und sozialer Umstände. Kein Funke von Freiheit ist in ihm. »Sein Gesicht sah aus, als zerginge es gerade wie das Gesicht einer Wachspuppe, die man zu nahe an ein starkes Feuer gestellt und vergessen hatte.« Seine Untaten sind brillant wie seine Fertigkeit, ein Streichholz am Daumennagel zu entzünden. Daß er am Galgen nicht für die Verbrechen stirbt, die er begangen hat, sondern für das eine, das ihm zufällig nicht zur Last fällt, ist eine ironische Pointe, die dem Leser Kopfzerbrechen macht. Was bedeutet das? Soll es anzeigen, daß diese Ausgeburt des Bösen den Maßen irdischer Gerechtigkeit unzugänglich ist? Oder bekundet sich gerade eine immanente Gerechtigkeit darin, daß Popeye anstelle eines anderen sterben muß, wie Lee Goodwin an seiner Stelle hingerichtet worden war? Zieht man aber heran, daß für Faulkner das Leiden des Unschuldigen die hintergründigste Wahrheit und Möglichkeit des Menschen enthält, ein Stigma seines absoluten Bezuges, so etwas wie ein metaphysisches Sakrament bedeutet, dann wird man auch hier zu der Interpretation noch einen Schritt der Vermutung hinzuwagen: noch dieser Unhold ist nicht das Böse, da er in einem sich als unschuldig erwies und in rätselhafter Stummheit, ohne Widerspruch den einen Tod erduldete, den er nicht verdient hatte – das Zeichen der leidenden Unschuld in einer letzten, verzerrtesten Analogie, am äußersten Rand der Hoffnung, die nicht einmal ein Dichter auszusprechen wagen dürfte, und 275schon gar nicht dieser, der sich keine billigen Effekte auf Kosten der Gnade gönnt.
Der Rechtsanwalt Horace Benbow hat nicht das Volumen, um den Gegenspieler Popeyes abzugeben. Das mythische Ungeheuer läßt kein Gegenspiel aufkommen. Faulkner hat das kompositionell sehr bestimmt markiert: Benbow und Popeye begegnen sich nur einmal, gleich zu Beginn des Romans, an einer Quelle im Wald, nahe der Destille, wo alsbald das Mädchen Tessie von ihrem Schicksal ereilt wird. Der an der Quelle trinkende Benbow erblickt in der Spiegelung Popeye, der ihn beobachtet, und erfaßt sofort das Inhumane, Mechanische, Dimensionslose seines Gegenüber: »Sein Gesicht hatte eine unnatürliche, blutlose Färbung, als ob es im Schein elektrischen Lichts läge. Vor dem Hintergrund des sonnigen Schweigens … hatte er etwas erschreckend Flaches, wie ein ausgestanztes Stück Blech.« Zwei Stunden lang verharren die beiden Männer, über die Quelle hinweg einander stumm messend. Es ist ein Nachmittag im Mai, ein Vogel ruft. Da sagt Benbow zu dem anderen etwas, was diesen entblößt: »Und natürlich haben Sie keine Ahnung, was das für ein Vogel ist … Sie kennen wohl überhaupt keinen Vogel, es sei denn, er singt in 'nem Käfig in 'ner Hotelhalle oder auf einer Platte für vier Dollar.« Als eine Eule dicht an den beiden vorbeifliegt, packt den Naturwidrigen Angst, er krallt sich an Benbow fest (der ihn nun förmlich riecht: »He smells black …«). Nie sonst wieder wird man eine Spur von Unsicherheit an Popeye kennenlernen. Aber diese Szene exponiert ihn. Die beiden von der Quelle sehen sich nicht wieder; sie sind nicht Gegenspieler, sie sind Antipoden. Es ist eine Distanz zwischen ihnen, die keine Dialektik zuläßt, nicht einmal den physischen Kampf. Popeye, der phänomenale Pistolenschütze, würdigt den kleinmütigen Mann, der ihm auf den Fersen sitzt, keiner Kugel. Und doch ist Benbow der »Held« des Buches, der Platzhalter des Humanen; er hat keine Parole für das, was er tut, er ist ohne den Glanz des Idealen. Nur der Widerstand, den er gegen seine nächste Umwelt leistet, um zu tun, was er für recht hält, obwohl es die kleinbürgerliche »Gesellschaft« mißbilligt und verdächtigt, nur dieser verbissene Widerstand verrät die Kraft der ethischen Norm in ihm. Ja, er wird selbst von denen nicht verstanden, für die er einsteht. Lee Goodwins Frau bietet ihm an, was noch jeder von ihr genommen hat, wenn sie anders nicht zahlen 276konnte. »Können Sie denn nicht verstehen«, erwidert ihr Benbow, »daß ein Mann vielleicht etwas tut, einfach nur weil er weiß, daß es recht ist …?« Nein, Freiheit ist das immer schon Mißverstandene, das keiner Erfahrung aufgeht. Jeder bemüht sich, gewöhnliche Motive herbeizuschaffen, um das Ärgernis des Außergewöhnlichen zuzuschütten. Der Freie kann sich keinen Glauben verschaffen, weil man an die Freiheit glauben muß, bevor man sie erfahren kann. Wer durchbricht, was alle für das Gewisse halten, wird zermürbt, bis er ins Gewöhnliche zurückkehrt. Am Ende ist Horace Benbow wieder müde und resigniert in seiner Alltagswelt, um den schrecklichen Ausflug in das Wagnis der Freiheit zu vergessen und vergessen zu machen.
Zwanzig Jahre später hat Faulkner diesen Stoff noch einmal aufgegriffen in seinem Lesedrama »Requiem für eine Nonne« (1951). Das furchtbare Geschick von »Sanctuary« ist noch nicht ausgetragen. »Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen.« Das ist genau die Formel des Mythos! Zwar hat Stevens, jener leichtfertige Bursche, der vor Jahren Tessie Drake im Unheil sitzenließ, das Mädchen inzwischen geheiratet. Aber das hat dem Verhängnis nur eine neue Stätte bereitet; mit grausamer Konsequenz setzt es zur Wiederholung an, nichts und niemand scheint der mythischen Wiederkehr des Gleichen Einhalt gebieten zu können. Wenn nicht die Negerin Nancy wäre, die Kindermagd der Stevens', die zur Kindesmörderin wird, damit der Schrei laut genug sei, der die somnambul auf den Abgrund zugehende Tessie zur Besinnung bringen soll. Stumm und unbeirrt geht sie selbst zum Richtplatz. Ich gestehe, daß mir diese Version der Idee des unschuldigen Leidens und der Rolle des Negers widerstrebt, daß ich sie für verfehlt und unvollziehbar halte. Aber sie ist nur ein überfärbtes Präparat des zentralen Faulkner-Themas, seine spekulative Übersteigerung. Mehr noch als in »A Fable« hat Faulkner hier Mystik gegen den Mythos aufgeboten. Ans Mystische grenzt auch die untergründige Beziehung, die Faulkner zwischen den dramatischen Episoden um Tessie und Nancy und den eingeschobenen Stücken einer Geschichte des Gerichtsgebäudes und Gefängnisses der (fiktiven) Hauptstadt Jefferson des (fiktiven) Distrikts Yoknapatawpha herstellt: indem Gericht und Gefängnis Jeffersons zum Schauplatz des Opfers der Negerin Nancy werden, »erfüllt sich« in rational nicht mehr zugänglicher Weise die wildbewegte Urge277schichte dieser Gebäude, die als repräsentative Institutionen der Formwerdung der amerikanischen Welt erscheinen. Nur vom Ganzen des Faulknerschen Werkes her wird diese Kommunikation verständlich, aber zugleich auch eine mögliche, ja sich ankündigende Konsequenz sichtbar, von der Faulkner angezogen zu werden scheint: die bedenkliche Konsequenz einer Mystik Amerikas als Bewältigung des Antagonismus von Mythos und Ethos, als Versuch, der »hohen Bestimmung der Vereinigten Staaten« eine absolute Sanktion zu geben.
Wenn man von dem Amerika spricht, in dem unsere Zukunft schon begonnen hat, dann ist von einer Welt die Rede, deren Gesicht von der Technik bestimmt ist. Es ist beinahe zu erwarten, daß Faulkner auch diesem Element des amerikanischen Mythos Platz in seinem Werk gegeben hat. Der Roman »Pylon« (1935) spielt unter Kunstfliegern und Journalisten. Das sind zwei Welten, die aufs genaueste ineinandergreifen: die Flieger liefern der Zeitung ihre Schlagzeilen, die oft ein Leben gekostet haben, und die Zeitung formt die mechanischen Daten um in den erregenden Bewußtseinsstoff für die Massen, die zu den Flugtagen hinauspilgern. Es ist eine Symbiose von kalter Präzision, die das Naturhafte im Menschen erfrieren läßt. Ein tödlicher Absturz löst in dem Photographen nur die Reaktion aus: »Lieber Gott, weshalb habe ich nicht hier gestanden?« Vor allem aber wird der entstaltete Eros für Faulkner zum kennzeichnenden Phänomen: es ist, als sei er in der Sphäre der Mechanismen auch zu einer mechanischen Funktion geworden. Der Rennflieger Roger Shuman und der Fallschirmspringer Jack teilen sich in eine Frau, ein Wesen wortloser Kameraderie, das mit ihnen die Fron der Maschine teilt und alle Züge weiblichen Naturells ängstlich verhehlt wie ein störendes Rudiment. Diese Frau weiß nicht, welcher der beiden Männer der Vater ihres Kindes ist, als sei dies eine Frage, die wie ein Ballast abgeworfen werden mußte. Um fliegen zu können, muß der Mensch sich »leicht« machen in jedem Sinne, so leer sein wie seine Apparate, deren schnittig-elegante Umhüllungen nur eine Illusion von »Substanz« bergen: »Ohne Haube sah es (das Flugzeug) trostloser aus als der halb278ausgefressene Kadaver eines Tieres, dem man plötzlich im Walde begegnet.« So ist auch die Menschengestalt zur Illusion geworden, ausgezehrt an Innerlichkeit und Substanz: »Ja, so ist es, sie sind keine Menschen«, denkt der Reporter, der zu der Fliegergruppe stößt, auch er im Druck eines funktionalisierten Dienstes, aber mit der Melancholie eines Mannes, der etwas Entscheidendes vergessen hat und sich darauf zu besinnen sucht.
Der Reporter verhilft Shuman nach einer Bruchlandung zu einem neuen Flugzeug; aber der Apparat ist von zweifelhafter Zuverlässigkeit. Shuman startet trotzdem zum Luftrennen, weil für ihn alles an dem ausgesetzten Geldpreis hängt. Das Wagnis kostet ihn das Leben. Das bringt den Reporter in den Verdacht, er habe Shuman den unsicheren Apparat zugespielt, um die Frau für sich freizubekommen. Der Reporter spürt die Zweideutigkeit der Situation und zieht sich zurück. Er leiht einen größeren Geldbetrag, versteckt die Scheine in einem Spielflugzeug, das er dem Kind zustecken läßt. Die Frau bringt das Kind zu den Eltern des toten Fliegers; sie will bei dem Fallschirmspringer bleiben, aber das Kind ist ihnen im Wege. Die alten Shumans sind gütige Menschen, die ihren Frieden suchen, nachdem sie das Letzte für die ihnen unverständliche technische Passion des Sohnes hergegeben und schließlich ihn selbst verloren haben. Nun bricht mit dem Kind die unbeantwortbare Frage in ihr Leben ein: »Wenn ich nur wüßte, daß er Rogers Sohn ist. Wenn ich das nur wüßte. Können Sie mir das nicht sagen? Können Sie mir kein Zeichen, kein kleines Zeichen geben? Irgendein kleines Zeichen?« Aber die Frau gibt keine Antwort, sie steht fassungslos vor der aufbrechenden Gewalt einer Frage, die für sie gleichgültig geworden ist.
Jetzt folgt eine Szene, die zu Faulkners gewaltigsten gehört. Als die Frau für immer gegangen ist, beugt sich der alte Mann über das Bett des schlafenden Kindes. Er sucht nach dem Zeichen, nach der Gewißheit. Er rüttelt das Kind, weckt es. Da fällt das Spielflugzeug zu Boden. »Wo ist meine neue Maschine? Wo ist meine Kiste?« fragt das Kind ahnungslos im Jargon der Welt, in der es sprechen lernte. Den alten Mann erfaßt sinnlose Wut, er packt das Spielzeug, knallt es gegen die Wand, trampelt in manischer Raserei darauf herum, versucht, es in Stücke zu zerreißen. Der Junge sieht schweigend, erstaunt, fast neugierig auf den Akt der 279ohnmächtigen Rache des Alten, die nur das Abbild trifft, das bloße Zeichen der Welt, die ihm alles nahm, die er als mythische Dämonie über seinem Leben sieht. Hier, an diesem Kinderbett, wird durchlitten und ausgestanden, was die perfekte Welt der Mechanismen an Menschlichem beiseite geschoben hat. Wieder wird im Leiden des Unschuldigen die Last getragen, welche die anderen abgeworfen haben. Der alte Mann und das Kind, sie müssen miteinander – und ohne einander zu verstehen – mit dem Rest fertig werden, der ihnen zugefallen ist, dem nicht aufgegangenen Rest einer Welt des Fortschritts. Aber noch nicht genug: die Zertrümmerung des Phantoms bringt unversehens auch das Geld zutage, das der Reporter dem Kinde zugespielt hatte. Könnte dies nicht als ein Beleg des Humanen aus der Zone der mechanischen Vampire den alten Mann zur Besinnung bringen? Aber es gibt nur noch eine Steigerung des Hasses; die beiden alten Shumans reden sich schließlich in die Gewißheit hinein, das versteckte Geld sei der äußerste Beweis für die Verworfenheit der Frau, deren Kind ihnen anheimfiel: der vor den beiden Männern verhehlte Ertrag ihrer wahllosen Käuflichkeit. Als die Scheine im Kamin verflammt sind, schreit der Alte noch einmal verzweifelt auf: »Es ist unser Junge …« und bricht zusammen.
So vergeblich ist die Wirkung des Herzens in der mythischen Sphäre. Der Reporter hat sich ins Leere verschwendet, seine Hilfe ist zum Hurenlohn diffamiert. Dennoch ist dieser melancholische Reporter in seiner trostlosen Existenz die Gestalt des Romans, an der sich Faulkner engagiert, ja, gerade diese Vergeblichkeit seines ungeschickt-verstohlenen Guttunwollens ist das von ihm immer wieder gesuchte Stigma einer in der Zwangsläufigkeit der Realität verleugneten Wahrheit. Es ist dem Leser, als läge der Blick des Autors gebannt auf ihm, ob er noch im Zusammenschlagen der blinden Vergeblichkeit über der Regung des Humanen und Ethischen Stich hält oder vor dem fugenlosen Schein der Sinnlosigkeit kapituliert. Faulkners Werke ziehen den Leser ins Experiment. Sie schenken ihm nichts, keine Lösung, keine Entscheidung, keine Hoffnung. Sie treiben nur die Frage in ihn hinein: Hältst du auch jetzt noch, auch nach diesem noch, am Menschen fest? Glaubst du noch an das Fünkchen Hoheit, das kein Feuer zu entfachen, kein Licht zu entzünden vermochte?
Trotz der unbezweifelbaren Größe der Konzeption habe ich meine 280Zweifel, ob die Wirkung dieses Romans die zwanzig Jahre seit seiner Entstehung fraglos überdauern konnte. Sicher wird immer noch von der »Dämonie der Technik« in mythischen Kategorien geredet. Aber wirkt das nicht immer mehr rhetorisch gegen die Erfahrung zunehmender Vertraulichkeit mit den mechanischen Prozessen und Strukturen? Chaplins berühmter Film »Modern Times« ist ungefähr gleichzeitig mit Faulkners Buch entstanden – er wirkt heute wie ein historisches Dokument einer verfehlten Utopie, denn die schreckliche Vision des armen Roboters am Fließband ist ja nicht Wirklichkeit geworden (es sei denn für solche Zeitkritiker, die noch keine Zeit hatten, sich tatsächlich einmal eine moderne Fabrik anzusehen). Nicht die Entelechie der Technik, sondern die Karikatur eines frühen Stadiums neuer Formation ist bei Chaplin gesehen, und das gilt auch für Faulkner: seine mechanischen Vampire sind Larvenstadien der Entwicklung. Ich rede keinem technischen Optimismus das Wort – die Gefahren, die aus der Sphäre der Apparate drohen, sind wahrlich nicht geringer geworden, aber sie sind subtiler, als es uns der Flugtagrummel in »Pylon« wissen läßt. Es werden heimlichere Tode gestorben als die in auseinanderbrechenden Fehlkonstruktionen, und tiefere Konflikte entbunden als der zwischen mechanischer Dienstbarkeit und vulkanischer Sinnlichkeit. Der Bürger steht nicht mehr auf der Tribüne und starrt auf die blechernen Saurier; er sitzt selbst am Volant oder genießt die ihn tragende Kraft, und dies alles, ohne daß er in eine verhornte Spezies hätte mutieren müssen. Im Grunde sieht Faulkner das Problem der Technik noch biologistisch, als eine Sache der Anpassung, der entselbstenden Symbiose (wie es bei uns ungleich konsequenter Jünger im Begriff der »organischen Konstruktion« etwa gleichzeitig gesehen hatte). Das ist schon historisch; die Problematik der Technik ist genau so »menschlich«, wie es die Probleme des Menschen von jeher gewesen sind.
In »Die Unbesiegten« (1939) führt Faulkner sein amerikanisches Thema auf den Höhepunkt; darstellende Kraft und Durchsichtigkeit der Grundidee konvergieren hier aufs glücklichste. Dabei findet Faulkner 281den hellsten Ton seiner Sprache, bis hin zum Scherzo und zur Burleske. Der Knabe Bayard wächst inmitten des Bürgerkrieges mit seinem schwarzen Milchbruder Ringo auf der undeutlichen Grenze zwischen Spiel und blutigem Ernst, Abenteuer und Verhängnis heran. Zu töten und Rache zu üben übernehmen sie als die fraglose Regel der Welt, in die sie hineinwachsen. Als die pfiffige, alle Situationen souverän bewältigende Großmutter der marodierenden Unterwelt des Bürgerkrieges zum Opfer fällt, ruhen die beiden Jungen nicht, bis sie den Mörder zur Strecke gebracht haben. Das – und manches andere – ist von Faulkner zu Episoden von fast frisch-fröhlicher Abenteuerlichkeit verarbeitet; erst im letzten Fünftel des Buches bemerkt der Leser, daß Faulkner damit die Spiegelung im Bewußtsein der Jungen zu fassen sucht, um die Umwertung des Vergangenen in der Entscheidung des Mannes voll zu profilieren.
Der Bürgerkrieg ist zu Ende. Mit den geschlagenen Konföderierten kehrt Bayards Vater, der Oberst Sartoris, heim. Das niedergebrannte Haus wird wieder aufgebaut. Aber die Ordnung der Dinge ist zerfallen. Das Verhängnis des Getötethabens weicht nicht, es zeugt sich fort. Verhärtet bleiben vor allem die Frauen, welche die Vergeblichkeit ihrer Opfer nicht verwinden können. Bayards Kusine Drusilla steht für diese mythische Unerbittlichkeit: mögen die Männer kapituliert haben, sie ergibt sich nicht. Sie hat Vater und Verlobten verloren und in der Verkleidung des Soldaten an der Seite des Obersten Rache auf dem Schlachtfeld gesucht. Nach der Heimkehr muß Drusilla gezwungen werden, wieder Frauenkleider zu tragen, und als ihre Mutter erwirkt, daß der Oberst sie heiratet, vergißt sie über politischen Händeln ganz einfach, zur Trauung zu kommen. Auch für den Obersten sind der politische Kampf oder der Bau einer Eisenbahn nur Formen des Kriegerischen: immer noch kommt es darauf an, der erste zu sein, der auf den Abzug drückt. Finden sich die Feinde nicht von selbst, so macht er sich welche. In dem Sohn erwacht der Widerstand gegen die ins Innere gedrungenen Metastasen des Krieges. Der Oberst spürt die Entfremdung des Sohnes, und eines Abends – am nächsten Tag steht ein neuer Feind bevor – bekennt er ihm: »Ich habe es satt, Menschen zu töten, ganz gleich, aus welchem Zwang und mit welcher Absicht. Morgen, wenn ich in die Stadt gehe und Ben Redmond sehe, werde ich unbewaffnet sein.« Für diesen 282Entschluß stirbt Sartoris: diesmal ist es der andere, der zuerst abdrückt. Dieses Ereignis treibt das Geschehen zur Krisis. Drusilla begreift nicht, daß dieser Tod anders ist als die vielen Tode, die vor ihren Augen gestorben wurden, daß der Oberst sterben mußte, weil er nicht mehr töten wollte. Und sie begreift vor allem nicht, daß dies ein Vermächtnis ist, das zu wahren und zu vollstrecken ist. Der Geist der Rache, der mythische Wille zur Wiederkehr des Gleichen steigert sich in dieser Frau zu beschwörender Macht, nimmt die Gestalt des Eros an, um den jungen Bayard unter die Botmäßigkeit des archaischen Urgesetzes zurückzuholen. Es ist ein Akt vorzeitlicher Initiation, in dem Drusilla dem ihr verfallenen Jüngling die Waffe in die Hand zwingt: »… ihre Hand lag leicht auf meinem Handgelenk, aber jene dunkle und leidenschaftliche Gefräßigkeit strömte wie mit elektrischen Schlägen durch sie auf mich über … ›Nimm sie. Ich habe sie für dich aufgehoben. Ich gebe sie dir. Oh, du wirst mir danken, du wirst dich an mich erinnern, weil ich eine Macht, die angeblich nur Gott zusteht, in deine Hände gelegt – weil ich, was dem Himmel gehört, genommen und dir gegeben habe.‹« Aber die Beschwörung zerbricht an der Freiheit, die der junge Bayard in sich entdeckt hat in dem Augenblick, als ihn die Nachricht vom Tode des Vaters erreichte: »Wenigstens werde ich jetzt herausfinden können, ob ich der bin, der ich zu sein glaube, oder ob ich mich nur Hoffnungen hingebe; ob ich wirklich tun werde, was ich als recht erkannt habe, oder ob ich mich nur danach sehnen werde, es zu tun.« Nun ist die Entscheidung gekommen: als die rasende Drusilla sich über Bayards Hand beugt, welche die Waffe hält, um mit einem Kuß die Racheweihe zu besiegeln, befällt sie plötzlich fassungsloses Entsetzen – sie fühlt in animalischer Unmittelbarkeit ihr Versagen, ihr Scheitern an dem unbegreiflich Fremden des ihr begegnenden Nein. »Da spiegelte sich in ihren Augen das bittere, brennende Empfinden, verraten zu sein. ›Mein Gott, er will nicht …‹«
An diesem Tag geht Bayard zu dem Mann, der seinen Vater erschossen hat. Er muß öffentlich machen, was dieser Tod wirklich bedeutet. Vor dem Hause Redmonds stehen die alten Gefolgsleute des Vaters. Noch einmal weist Bayard eine Hand zurück, die ihm eine Waffe hinhält, geht vorbei an der Frage »Wer bist du denn? Trägst du den Namen Sartoris?« und tritt unbewaffnet in das Zimmer Redmonds, der ihn mit der Pistole in der Hand erwartet. Kein Wort fällt – »wir schienen beide zu wis283sen, welche Worte fallen und wie vergeblich sie sein würden«. Zweimal schießt der andere, zweimal fehlt er (unwahrscheinlich, daß er nicht hätte treffen können!), dann nimmt er seinen Hut, verläßt das Zimmer, das Haus, geht durch die Schar des Obersten hindurch und zum Bahnhof, besteigt den nächsten Zug und wird nie wieder gesehen. Als Bayard am Abend nach Haus zurückkehrt, ist auch Drusilla für immer gegangen.
Faulkner hat mit diesem Werk für sein Land etwas Einzigartiges getan: er hat den durch kein Dokument und kein historisches Datum fixierbaren, den anonymen Augenblick realisiert, in dem Amerika nach zwei Kriegen für die Freiheit wirklich begann, frei zu werden, indem einer den Anfang machte, den sich fortzeugenden Zwang mythischer Reaktionen abzuwerfen, auf das Töten als ultima ratio Verzicht zu leisten. Keine historische Methode erfaßt je, was doch wesentlicher über menschliche Geschichte entscheidet als alle Fakten und Akten, die der Historie erreichbar sind. Dies ist ein Stoff, in dem der Dichter keine Konkurrenz haben kann; dies ist ganz das Seinige. Es ist aber auch ein Stoff, dem die nationale Zuordnung nicht mehr wesentlich ist. Wo jene Augenblicke Gestalt gewinnen, in denen der Mensch seine Erschaffung zu rechtfertigen vermag, ist die menschheitliche Dimension einbegriffen. Es war daher nur von innerer Folgerichtigkeit, daß Faulkner nach dem Ausdruck für die universale Gültigkeit seines Grundthemas suchen würde. Neun Jahre hat er diesem höchsten Zugriff gewidmet.
»A Fable« (»Eine Legende« 1954) ist reine Konsequenz alles Vorhergehenden. Das ist Größe und Mangel zugleich. Im Frühling des letzten Kriegsjahres 1918 läßt Faulkner an der französischen Ostfront, wo Deutsche, Engländer, Franzosen und Amerikaner sich bis zur Erstarrung ineinander verbissen haben, die mirakulöse Episode einer durch Meuterei im französischen Abschnitt erzwungenen Waffenruhe ablaufen. Ein französischer Korporal, dreiunddreißigjährig (wie Ben Compson!), Analphabet, löst diesen Vorgang aus, der auf die ganze Front übergreift: eine Kompanie steigt aus den Gräben, und selbst der Feind 284respektiert diesen Akt. Da verschiebt sich blitzschnell die Frontlinie: die Generäle beider Seiten finden sich zusammen und erzwingen gegen die Front die Fortsetzung des Krieges, sie lassen die Artillerie den »Ausbruch« des Friedens zusammenschießen, den Kern der Meuterei füsilieren. Nicht dieses tendenziöse Handlungsgerüst hat die Auseinandersetzung um das Buch genährt, sondern die durchgehende Parallelität formaler und inhaltlicher Elemente zur biblischen Passionsgeschichte. Der Korporal ist mit unverwechselbaren Signaturen gezeichnet, er hat seine Zwölfe, seinen Petrus und seinen Judas mit den Silberlingen, seine Schächer und am Ende sein leeres Grab. Also ein »Leben Jesu anderswo«?
Man darf nicht unterlassen, dem Katalog der Bezüglichkeiten einen Katalog des Unbeziehbaren gegenüberzustellen. Dieser Korporal hat keine Verkündigung, kein Sendungsbewußtsein, keinen Machtanspruch. Indem er das für ihn Nächstliegende tut, entdeckt er gleichsam den anderen – was für sie genauso naheliegend war: aus dem Graben zu steigen und Schluß zu machen. Die Gestalt des Korporals ist keine Kondensation des Guten, Heiligen, Humanen und Überhumanen, sie ist im Gegenteil von einer erschreckenden Armut, ohne Gesicht, ohne Seele. Gerade diese innere Leere, die sture Motivlosigkeit dieser Gestalt läßt den Schritt aus dem Graben als das nackt Elementare erscheinen, die radikal reduzierte Form, in der dem Menschen das bewußt werden kann, was ihm not tut: »›genug damit‹ zu sagen und weiter nichts«. Demgegenüber sind die Heerführer die Weitschauenden, in großen Plänen Verfangenen, deren Maße in Zeit und Raum über den Menschen hinweggreifen; sie glauben, Schicksale von Generationen zu verwalten, und leiten daraus das Recht ab, die gegenwärtige zu opfern. Faulkners Allegorik – verschlungen wuchernd in diesem Buch bis zur Lichtundurchlässigkeit – verführt zu dualistischen Deutungen, aber zu Unrecht. In der alles überragenden Szene zwischen dem alten General und dem Meutererkorporal ist zwar unübersehbar auf die Versuchung Jesu angespielt; aber die vor dem Unwahrscheinlichen furchtlose Kunst Faulkners will, daß der General in dem Korporal seinen eigenen Sohn erkennen muß und so hilflos der Entscheidung ausgeliefert ist, diesen entweder zu »versuchen« oder dem »höheren Zweck« zu opfern. Faulkner läßt diese Entzweiung aus der einen Wurzel des einen Blutes herauswachsen, wie 285in seinen großen Familienepen. Nicht das Gute und das Böse stehen einander gegenüber, Gott und Satan, sondern im Grunde nur verschiedene Maßeinheiten für das Wirkliche und Notwendige, politisches und humanes Meridiannetz. Gegen die große Phrase des Vater-Generals »Nimm die Erde!« – wie könnte er anders sprechen, da er im Großen und Globalen, in Armeen und Generationen denkt! – steht die »kleine« Gegenfrage des Sohn-Korporals: »Und die anderen zehn?« Das ist die Proportion dieses Gegenspiels: die zehn Treugebliebenen gegen die Macht über die Erde, das kleine Leben gegen die Verwaltung der Jahrhunderte, das Humane gegen das Politische.
Faulkner macht es dem Leser nicht leicht, die Dinge auf diese Proportion zurückzuführen. Das Formale des Romans überwuchert seine Substanz, die Mittel gehen mit dem Ziel durch. Das Bedürfnis, dieses allegorische Menschheitsdrama, dessen Schauplatz zum ersten Mal nicht Amerika ist, durch eine Nabelschnur mit seinem Urquell, der Amerika-Mystik, zu verbinden, hat den Grundriß des Romans zu einer kaum noch entzifferbaren Hieroglyphe verschlungen. Dazu kommen die Analogien zur Passion, die dazu verleiten, nach Relationen zu suchen, wo es doch nur darum ging, die Handlung und ihre Figuren gleichsam zu stigmatisieren: wer je das einzige tut, was notwendig ist, gerät in den Abglanz und empfängt die Male des Ereignisses, das zum menschheitlichen Inbegriff des Einzig-Notwendigen wurde. Aber da das mit einem Zuviel an sprachlicher Angestrengtheit und verschlüsselter Bedeutungsfracht einhergeht, erscheint es kaum glaubhaft, daß Faulkner nicht mehr habe sagen wollen. So entläßt uns das Buch im Zwiespalt. Unter ungeahnten Zumutungen des Mitgehens, Entwirrens, Nachvollziehens appelliert es an unser Einverständnis mit der Simplizität des Korporals, der das übergroß gewordene Gebot, den Nächsten zu lieben, reduziert auf die Formel, das Nächste zu tun sei uns aufgegeben – der instrumentale Aufwand läßt uns nicht glauben, es könne dies nun wirklich das Einfache sein, das, was einer neben uns gleichfalls jeden Augenblick tun könnte (denn diesen Graben, aus dem man nur mit einem Schritt herauszusteigen braucht mit den Worten »Genug damit!«, gibt es natürlich überall, und wir stehen auch schon immer darin). Der Verzicht auf Motivation könnte sich als Faulkners stärkstes Stilmittel erweisen: Wozu, sollte der Leser denken, Motive, wenn es um dieses Nächste geht, zu 286dem man keiner Zwischenschritte bedarf? Aber eben diese Wirkung tritt hier nicht ein, eine Wirkung wie sie unvergeßlich etwa von der Gestalt des Sträflings in »Old Man« (»Der Strom« 1939) ausgeht, wo die leere Unendlichkeit des überschwemmten Mississippi wirklich eine letzte Einfachheit der Situationen gewahren läßt: jeder nächste Augenblick hält diesem Mann in dem winzigen Boot mit der fremden, eben jetzt gebärenden Frau nur eine Möglichkeit offen – dennoch ist alles, was er tut bis zu seiner Rückkehr ins Zuchthaus, von einer verborgenen Freiheit erfüllt. Anders in »A Fable«; hier ist es, als würden immer neue Blenden und Kulissen aufgestellt, um dem Geschehen einen Hintergrund des Nichterzählten, vielleicht Unfaßbaren, zu geben. Das Leiden des Schuldlosen, Faulkners großes Thema, wird aus seiner menschlichen Verwurzelung und Bedeutung herausgelöst und zum Menschheitsdrama verselbständigt. Die Versuchung, deren Abweisung Leiden und Tod ergreifen bedeutet, ist für diesen Korporal viel zu »groß«, als daß er verstanden haben könnte, was er überwindet. Überwindet? Geht er nicht eher blind vorbei an einem Angebot, für das er gar kein Organ haben kann? »Take the earth, Nimm die Erde!« – hat das überhaupt hier einen Adressaten, oder ist es nicht frei im Raume schwebendes Zitat?
Um hier Faulkner mit Faulkner zu konfrontieren: In dem Roman »Wilde Palmen« (1939) wird Harry Wilbourne, vom dämonischen Eros geschlagen, aus der Bahn geworfen und in die verlorenste Ausweglosigkeit getrieben, und als ihn der Strudel von Verhängnis und Schuld freigibt, findet er sich in der Kerkerzelle vor die Entscheidung gestellt, seinem Debet durch das angebotene Gift zu entfliehen oder es anzuerkennen und auszuleiden – und da bedarf es wirklich des ganzen Buches und des ganzen Faulkner, um den einen letzten Satz glaubwürdige Realität werden zu lassen, eben an der Grenze, die diese Gestalt noch erreichen kann, diesen letzten Satz, auf dessen Tragfähigkeit der Sinngehalt des ganzen Buches gelastet ist: »Yes, he thought, between grief and nothing I will take grief – Ja, dachte er: vor die Wahl gestellt zwischen dem Leid und dem Nichts, wähle ich das Leid.«287
[1] In deutscher Übersetzung liegen vor: »Schall und Wahn«, »Die Unbesiegten«, »Griff in den Staub«, »Das verworfene Erbe«, »Wilde Palmen und Der Strom«, »Eine Legende«, »Requiem für eine Nonne« (alle im Verlag Scherz & Goverts, Stuttgart); »Wendemarke«, »Absalom, Absalom!«, »Licht im August« (im Rowohlt Verlag, Hamburg); »Abendsonne« (Erzählungen) in der Piper-Bücherei; »Scheckige Mustangs« (Erzählung aus »The Hamlet«) in der Insel-Bücherei.