Hans Carossa
1938

 

 

Man soll dem Geheimnis der Kunst nachgehen, aber nicht zu weit. Das Letzte bleibt eben immer und überall ein Verschleiertes, das wir ahnen, aber nicht schauen sollen.
Theodor Fontane

»Seit wann bin ich?« – Der Mensch, der sich diese Frage stellt, meint nicht jenen Tag und jene Stunde der Geburt, die auf den Urkunden so klar und nüchtern verzeichnet stehen; er fragt über alle greifbaren Anfänge hinaus nach dem Ursprung des Ich, den er jenseits aller Zeit ahnt. Jenes Ewige, das er in sich weiß, es ist anfang- und endelos, es gehört nicht der Zeit und nicht der Welt, es wird von ihr nur übernommen und dereinst weitergegeben. Selten nur wird dieses Ewige in uns zur fühlbaren Gewissheit, »in den geistigsten, jugendlichsten Sekunden des Daseins, wenn uns die Lebenswoge so hoch erhebt, dass wir weiter schauen als sonst, ist aller Zeitentrug aufgehoben; einzig die ewige Seele lebt.«

Gültiges Gesetz im Reich der Dichter ist die Rückkehr zu den Anfängen, zu Kindheit und Jugend. Und mag der Abstand schon so groß geworden sein, wie beim alten Goethe, der für »Dichtung und Wahrheit« ein Quellenstudium beginnen mußte, einmal ergreift jeden Dichter das Sehnen, wieder in jenen Urbereich seines Lebens hinabzusteigen.

»Der Alltag ruft nur, was er nutzen kann, so läßt er die Kindheit ungerufen.« (Broder Christiansen) Die Dichter aber rufen jene Augenblicke des Lebens, da die Seele am reinsten erwacht; »die jugendlichsten Sekunden des Daseins« sind es aber, nach dem Wort Hans Carossas, das wir an den Beginn stellten, in denen die ewige Seele sich zum geistigsten 290Leben emporhebt. Ein Sich-Ausleben der Seele ist die Kindheit, reines Wachstum nach dem inneren Gesetz, das ihre Richtung vom Ursprung her bestimmt, unwiederbringliche Lebensgemeinschaft mit der Schöpfung, höchste Fähigkeit zum Ergriffensein – was der Dichter in den erhabensten Augenblicken geistigen Schauens nicht gewinnt, in der Kindheit hat er es einmal besessen.

Tiefe Sehnsucht nach einem verlorenen »Königreich der Seele« steht so hinter jeder Dichter-Rückkehr zur Kindheit. Rückeroberung, Neuerweckung der Kindhaftigkeit bleibt das Streben; kindhaft soll die Seele wieder werden, kindhaft die Sinne, das Staunen vor dem Ewig-Neuen der Dinge soll vor allem die Haltung zur Welt bestimmen. Wer spürt solche Rückkehr des ganzen Menschen zur Kindhaftigkeit nicht im Anfang von Carossas »Kindheit und Verwandlungen einer Jugend«? Da umgreift das Auge liebevoll jeden Gegenstand der kindlichen Welt und gibt ihm für einen Augenblick jene Bedeutung wieder, die er im Raum der Kindheit gehabt; allmählich verliert sich die Ferne, aus Erinnerung wird Mitleben, nach dem Auge erwacht das Ohr und die übrigen Sinne – ganz ist der Dichter nun zu den Anfängen hinabgetaucht.

Eine innige Gemeinschaft mit allem ringsum Gegebenen, verlorene Hingabe an die unzähligen Wunder der kleinen Welt – so ist das kindliche Weltgefühl. »Das Kind, das aus der Säuglingsdämmerung hervorwächst, weiß nicht, daß der allgemeinsame Weltstoff, dem es entnommen ist, sich längst gefährlich von ihm fortgewandelt hat; es lächelt jedem Wesen zu, es kennt weder Mitleid noch Furcht, es langt nach den strahlenden Augen von Menschen und Tieren, es würde den Tiger streicheln, die Flamme umarmen.«

So bestimmen freundliche Farben das kindliche Weltbild; was den Menschen sonst dunkel, abgründig, bedauernswert erscheint, ist dem Kinde nur seltsam, kostbares Steinchen in seinem Mosaik »Welt«. Ein alter Säufer hat ein »Gesicht wie Gott-Vater«, über die Gewalt des Blitzes klatscht das Kind vor Lust in die Hände, es jubelt vor der vernichtenden Wut des Feuers und ist entzückt in Erwartung des Weltuntergangs. »Alle Kinder freuen sich an letzten Dingen ‌…« Aus dem Fenster fällt der Blick des Kindes auf Kirche und Friedhof; »eine Stiege mit Geländern führte von der Straße zum Kirchhof hinauf, und auf diesen breiten Stufen ging das ganze Jahr ein wunderbarer menschlicher Wandel auf 291und nieder. Bald wars eine festlich gekleidete Frau, die behutsam etwas Weiß-Verpupptes im Arm nach oben trug, bald ging ein Mann mit einem grün bekränzten Weibe den gleichen Weg, bald wurde mit Lichtern und Rauch unter Glockengeläut ein verschlossenes blumenüberladenes Behältnis, gefolgt von Singenden und Weinenden, emporgehoben. Das letztere Ereignis tat es mir vor allem an; ich riß beide Fensterflügel auf, musizierte, sang und jauchzte, sovielt ich konnte ‌…«

Sorglos ist der Verkehr des Kindes mit allem, was läuft und kriecht. Die warme Nähe der schweren Leiber der Rinder auf der Weide weckt das Begehren, »im Bann der Kreatur selber nur Kreatur« zu sein. Als der Vater eine Kreuzotter erschlagen hat, ist das Kind auch dem verabscheuten Wesen zugetan; »vergessen waren die gebissenen Opfer, ich sah nur die sterbende Schlange, die mit der ganzen Notwendigkeit ihres Seins zum letzten Mal aufglänzte, und als ein Irrtum, ein Übergriff erschien mir die väterliche Tat.« Was Ernst Wiechert über seine Kindheit schreibt, daß alles Leid seines Lebens »nicht mit dem Leiden, sondern mit dem Mitleiden begann«, gilt auch für Carossas und wohl für jede echte Kindheit.

Letztlich kommt das Glück der Kindheit von der Namenlosigkeit der Dinge her, nichts wiederholt sich, alles erscheint zum »einzigen und ewigen Mal«. Darin liegt die höchste Fähigkeit des Dichters keimhaft beschlossen, auch das Unscheinbarste aufglänzen zu lassen im Lichte einer Idee; auch in der Welt des Dichters verlieren ja die Dinge ihre Wiederholbarkeit, auch hier ist alles zum »einzigen und ewigen Mal«.

Das innig-fromme Wesen der Mutter hat den bestimmenden Einfluß auf das geistige Werden des Kindes; es »spürte durch sie hindurch den sichern Gang der Welt«. Leise formend ist das Wesen der Mutter, ihre gesunde Frömmigkeit und Naturliebe; über das edle Wachs in ihrer Hand empfindet sie reine Freude, der Garten ist ihr Reich, in dem sie den Knaben anleitet zum Umgang mit Pflanzen und Blumen. So »gewöhnte mich die Meisterin, gewisse Blüten nur um ihrer schlichten Schönheit willen zu verehren. Im zweiten Jahre sah ich schon manches mit ihren Augen an, und schließlich erlebten wir immer dann unsere höchste Gartenfreude, wenn aller Formentaumel plötzlich aufgehoben schien und nach langem, strengem Knospentum der einfache Gedanke der Rose selig vor uns aufging.«292

Der Vater greift in die Erziehung nur ein, wenn er Gefahren sieht, die er durch eine »kräftige Kur« zu beheben pflegt. Doch wächst der Einfluß seiner Geisteshaltung auf den jungen Carossa immer stärker bis zu jenem Zeitpunkt, da er sein ärztliches Erbe in die Hände des Sohnes legen kann. Seine nüchterne Lebensanschauung zeigt sich ganz besonders in seiner religiösen Einstellung.

»Mein Vater war der einzige Mann in der Gemeinde, der selten zur Kirche ging und nicht gern vor einem Kreuze den Hut abnahm. Die Art aber, wie er seine Kranken behandelte, war so selbstlos und ganz dem Leiden zugewandt, so erfinderisch und glücklich, daß er doch überall für einen Gottesfürchtigen gehalten wurde.« Diese Geistesart des Vaters wird für den jungen Carossa bestimmend; doch hat er lange nach dem Tod der Eltern, selbst nahezu sechzigjährig, noch einmal in den »Geheimnissen des reifen Lebens« auf sie zurückgeblickt und sein Verhältnis zu ihnen gewandelt. »Nun aber hab ich wirklich schon die Jahre überschritten, die den beiden gegönnt waren, und langsam wandelt sich mein Verhältnis zu ihnen, besonders zum Vater. Ich vergesse zuweilen, daß ich ihm das Dasein verdanke, und empfinde ihn mehr wie einen jüngeren Bruder, den eher ich beraten könnte als er mich, weil ihm meine Erfahrungen und Einsichten, eben meine Jahre fehlen. Mit der Mutter steht es anders; ihr Wissen schwebt über der Zeit, und auf die großen Fragen des Herzens würde sie heute wie immer die rechte Antwort geben.«

In der Helle der Kindheit begegnet uns zum ersten Mal Zwielichthaftes, wenn wir vom religiösen Werden des Knaben erfahren. Die Umwelt, in der er aufwächst, zeigt ihm trotz der grellen Lautheit, mit der sie ihren Glauben zur Schau trägt, tiefe Schatten; schon das Kind merkt, daß diese Welt voll seelischer Unsicherheit ist, sobald man über den Raum der Kirche, der geheiligten Bilder und Feste, der alten Bräuche und Herkommen hinausblickt. Dissonanzen zwischen Glauben und Leben erschüttern früh das kindliche Herz. In dem kleinen Marktflecken steht zwar über jeder Tür ein Heiligenbild; daß aber das Leben der Menschen, die darunter aus und ein gehen, in nur zu krassem Widerspruch zur Würde der Gestalten steht, bleibt dem Knaben nicht verborgen. Ja, der Besitzer des wundersamsten Bildwerkes, der Heiligen Dreifaltigkeit, ist als ein übler Mensch berüchtigt. Was jedoch im Kindheitsbericht 293Carossas über die Fronleichnamszüge gesagt wird, ist erst dem Seelenblick des gereiften Mannes spürbar geworden: »Mit dem fast schmerzhaften Prunk einer Zeit, welche ihres Glaubens nicht mehr sicher ist, wurde dieses Fest begangen; es berauschte die Seele, ohne sie zu befruchten, wie es Oster- und Pfingstfest vermochten, bei denen die ganze Gott-Natur mitfeierte.«

Das Bild einer Osterfahrt in der Geborgenheit kindlicher Gläubigkeit, im Mitfeiern der ganzen Gott-Natur zeichnet uns eins der innigsten Gedichte Hans Carossas. Ein Hauch tiefster Seelensehnsucht nach einem unwiederbringlich verlorenen Gut des Herzens schwingt hindurch.

 

Fahrt.

Wir Kinder gingen, Paar um Paar,

Durch Wald und grünes Reut.

Mit bunten Eierschalen war

Der Saatenrand bestreut.

 

Am Ufer hing das neue Boot.

Wir saßen flugs darin.

Das Wimpel wehte weiß und rot.

Die Strömung trug uns hin.

 

Das Land verschob sich von uns fort.

Zu Felsen stieg der Strand.

Geschmückte Menschen gingen dort;

Die winkten mit der Hand.

 

Und langsam schwanden Turm und Flur.

Nah rückte das Gestein.

Manchmal aus finstrer Höhle fuhr

Ein heimlich starker Schein.

 

Die Zeit verschwebte wie ein Hauch.

Ein Korb ward ausgeleert

Und nach geweihtem alten Brauch

Das Ostermahl verzehrt.

 

294Wir aßen Brot, wir tranken Wein

Sturm schlug uns ins Gesicht.

Die Woge griff nach uns herein.

Wir fürchteten uns nicht.

 

Von weißen Vögeln weit umkreist,

Zur Heimat ging die Fahrt.

Wir glaubten selig an den Geist,

Der uns versprochen ward.

 

Noch in einem anderen Bilde wird uns die gläubige Gesichertheit des kindlichen Herzens offenbar, in den Begegnungen mit dem Antlitz des Todes. Letzte und tiefste menschliche Seelenhaltungen werden im Anblick der Toten offen schaubar; Urteil ist dem einen dieser Anblick, Umkehr für jenen, den reinen Seelen aber ist er Verklärung. »Festlich erregt und mit einem Schauder, der Tränen hervortrieb, sah ich im Schauhause die geschmückten Verstorbenen zwischen ihren Lichtern liegen und dachte nicht an Verwesung. Daß der unsichtbare, nur immer in Andeutungen sich gefallende Gott hier einmal Ernst gemacht und unmittelbar gewirkt habe, dieser kindliche Sinn beherrschte mich mit seinen stillen Schrecken und ließ kein tierisches Grauen überhandnehmen. Wunderlich getrost ging ich schließlich meiner Wege, und wer mir gleich darauf begegnete, kam mir schön und liebenswürdig vor.«

Die Schatten, die sich früh über die Seele des Kindes legten, kamen mächtiger als aus der Umwelt aus dem eigenen Wesen. Der Gegensatz zwischen der eigenen Wesensart, die bereits keimhaft die dichterische Welthaltung des Schauens in sich birgt, und dem übernatürlichen, mit den Sinnen unerspürbaren Reich der gnadenhaften Wirkungen, wie es im Raum der Kirche lebendig ist, bricht schon beim Erlebnis der ersten Beichte entscheidend auf. Ein Ringen um die rechte geistige Einstellung zur Beichte hebt in der Seele des Knaben an. »Von Andacht, von Erhebung des Herzens hatte ich Ahnungen; sie kamen ungewollt bei Spiel und Arbeit, beim Kirchen-Chorgesang, beim Anschauen der Toten oder wenn ich im Sturm über Feld lief, dann plötzlich still stand und das Rauschen meines Blutes noch stärker hörte als das Flattern der Luft.« Daß die Reue, die er erstrebte, nicht eine diesen Seelenstimmun295gen ähnliche Gefühlserhebung, sondern eine Seelenhaltung ist, die von Erkenntnis und Einsicht ausgeht, wurde dem Knaben nicht offenbar, ja konnte ihm vielleicht nicht offenbar werden, weil die Sinne schon die einzigen Organe der Seele geworden waren, weil alle Herzensmacht nur noch von der Schau ausging. Das wird uns vollends offen erkennbar darin, daß die ersehnte Reue des Knaben überkommt, als er das Bild eines Mädchens von wunderbarer Schönheit betrachtet. Diese selbe Wesensart wird von neuem erkennbar, wenn Carossa vom Erlebnis der Beichte selbst berichtet. Wieder ist es dem Knaben nicht verständlich, daß es sich bei der Sündenbefreiung um einen gnadenhaften, übersinnlichen Akt handelt, wieder verlangt er nach Seelenstimmungen. »… und wieder war es der Bann eines menschlichen Antlitzes, welcher der schwachen Seele zu Hilfe kam.« Diesmal ist es der nie gesehene Priester im Beichtstuhl, der das Herz bannt und erhebt. »Daß ich mich unverhofft dem seraphgleichen Fremden gegenüber befand, gab mir eine nie geahnte Sicherheit und Freiheit. Kein kleinliches Wissen um das Persönliche störte. Geheimnis wob, es war wirklich ein Abgesandter Gottes, vor dem ich kniete und bekannte ‌… selig stand ich in glühender Mitte des Symbols ‌… Wie gern wäre ich immer bei dem fremden Priester geblieben! Alles Böse, Ziehende war hin, das ganze Wesen Freiheit, Schwung und gute Tat, solang ich vor ihm kniete.« Von diesem ersten Beichterlebnis an ging der Knabe der Beichte aus dem Wege, um den Zauber der Begegnung nicht wieder zu zerstören. »Vielleicht ahnte mir, daß mich der Strahl der Gnade nicht ein zweites Mal so mächtig treffen würde ‌…«

Aus solchem Erlebnis nur etwa die religiöse Entwicklung heraus zu analysieren, würde dem ganzen Gehalt nicht gerecht; es wird in geheimnisvoller Weise der ganze Mensch sichtbar, der sich bei allem wahrhaft seelenbestimmten Tun einsetzt. Aus so schlichtem Geschehen die ganze Wesensgestalt hervortreten zu lassen, ist ja die größte Gabe, die der Dichter haben kann, und zugleich das Maß für die Erkenntnis echten Dichtertums.

Wo beginnt sich dichterisches Wesen zu formen? In keiner Phase des Lebensberichtes Carossas können wir sagen: Hier ist der Dichter noch nicht, oder: Hier ist schon der Dichter! Goethe hat gesagt, daß »der Poet geboren werden müsse!«. Und von den frühesten Stufen der Gei296stesentfaltung an ist seine Welthaltung von dichterischer Wesensart bestimmt: die Verkündung des Geschauten im Wort ist ja erst letzte Erfüllung des Rufs, den der Dichter in sich trägt. Bevor er zu allen spricht, muß er seine Schau läutern und vergeistigen, seinen Blick in das Herz der Wesen dringen lassen und sich jener höchsten Gewalt versichern, die ihn befähigt, die Idee aus dem sklavischen Bann der grauen Dinge zu erlösen. Wie in der Kindheit schon dichterisches Wesen keimt, hat Goethe uns in einem Gedichte ahnbar gemacht.

 

An den Fürsten Karl Lamoral v. Ligne (1804)

 

In früher Zeit, noch froh und frei,

Spielt ich und sang zu meinen Spielen.

Dann fing's im Herzen an zu wühlen:

Ich fragte nicht, ob ich ein Dichter sei –

Doch, daß ich liebte, konnt' ich fühlen.

 

In immer neuen Bildern spiegelt sich das Werden der Seele; doch hinter der Fülle und Buntheit wird dem rückschauenden Dichterauge die eine klare Linie des Reifens und Hinaufwachsens sichtbar. Den Glauben an das Immer-Werden des Geistes sieht Carossa in diesem Wachstum bestätigt. »Wir glauben an den immer werdenden, immer sich erbauenden, immer erscheinenden Geist. Er schlüpft in manches Gespinst und belebt es nach seiner eigenen Figur, um unbeirrt eine Strecke zu wachsen. Ist dies geschehen, ist der neue Stand erreicht, so zieht er sich aus dem Sinnbilde seiner letzten Entwicklung zurück, zerstört es wohl auch und verwandelt sich in das nächste.« Durch dieses Wachstumsgesetz erhalten die vielfältigen, scheinbar beziehungslosen Erscheinungsformen des Geistes Transparenz: es erscheint hinter ihnen die unbeirrbar folgerichtige und notwendige Entwicklungslinie der Persönlichkeit. Es gibt Sprünge in diesem Wachstum, denn »das Wachstum ist nicht bloß Entwicklung; die verschiedenen organischen Systeme, die den einen Menschen ausmachen, entspringen auseinander, folgen einander, verwandeln sich ineinander, verdrängen einander, ja zehren einander auf ‌…« (Goethe) Im Dämmern und Traumgespannten der Fieber hebt die Natur die Seele auf höhere Stufen. Es kommt die Ahnung von der Gefähr297detheit all unseres geistigen Besitzes und, im Bewußtsein, »daß uns im Allerletzten, Allertiefsten niemand helfen kann«, erwacht ein gewaltiges Sehnen im Herzen. »Und auf einmal sehnt sich der Knabe nach einer Gestalt, vielleicht nach einem Gefährten, vielleicht nach einem Führer oder Verführer; weder Mann noch Weib schwebt ihm dabei vor, doch muß es ein Wesen sein, das ihm ein unvergleichlich mächtigeres Leben auftut als das bisher gelebte ‌…«

»Ein Kind, ein junger Mensch, die auf ihrem eigenen Wege irregehen, sind mir lieber als manche, die auf fremdem Wege recht wandeln. Finden jene, entweder durch sich selbst oder durch Anleitung den rechten Weg, das ist den, der ihrer Natur gemäß ist, so werden sie ihn nie verlassen, anstatt daß diese jeden Augenblick in Gefahr sind, ein fremdes Joch abzuschütteln und sich einer unbedingten Freiheit zu übergeben.« Dieses Goethewort aus »Wilhelm Meisters Lehrjahren« enthält das Lebensgesetz des jungen Carossa. Einsam und selbständig mußte erwachsen, abseitiger Wandel, freies Irren ist die Form seines Werdens. Aus der Ferne leuchtet die Verheißung der Zukunft hell und lockend; er aber kann nicht ihr allein dienen, auch der Vergangenheit ist er verpflichtet. »Söhne des Zwielichtes« – das ist sein und seiner Generation Schicksal, lebend und wirkend im Raum zwischen Gestern und Morgen, Nacht und Tag.

Als der Knabe aus der vertrauten Umgebung nach Landshut in das Internat verpflanzt wurde, begann die Enteignung seiner kindlichen Welt. Es hebt ein Kampf an um den Herzensbesitz der Kindheit, und er »mußte viele Blätter, viele Stengel abwerfen, mußte sogar etliche Blattanlagen zu Stacheln entwickeln, um das innere Dauergewebe zu retten«. Doch »vielleicht war die Seele schon einer Ahnung fähig, daß ihr nichts verloren gehen könne, was sie nicht selbst aufgibt«. Ein »trauriges entfärbtes Dasein« ist dem Knaben das Leben in der klösterlichen Enge des Internats; auf seine Art bäumt er sich dagegen auf, sein Lebenstrieb führt ihn zu ungestümen und trotzigen Auflehnungen gegen die Ordnung. »Diese gerinnenden Zeiten des Einerleis, wo wir gar keinen Zusammenhang mit flutenden Kreisen des Lebens mehr fühlen, wer kennt sie nicht? […] Seltsam zwecklose, ja widersinnige Taten, die wir in solcher Lage begehen, was bedeuten sie anderes als gewaltsame Erkundungen beim Schicksal? Ob Mann oder Knabe: die Seele will das ganz ver298stummte Leben zwingen, daß es ein Zeichen gebe, daß es die Verbindung mit ihr wieder aufnehme.« Doch entspringt die lebensbedrohende Atmosphäre des Internats keineswegs einer Verfehltheit des Erziehungsprinzips; das nur die, die das Instrument führen, den jugendlichen, lebensquellenden Seelen entfremdet sind, wird Carossa offenbar, als ein neuer Leiter die Anstalt übernimmt. Da wurde auf einmal alles milder, lichter, gelöst und entkrampft; »und nun erst empfand ich den Segen der kleinen Hierarchie, der ich eingepflanzt war. Ja etwas Freundliches kam durch den geistlichen Herrn in unser Leben; es war öfter schön Wetter, und wir hatten seltener Verheimlichungen nötig als sonst. Immer wußte er uns weise von uns selbst hinwegzuführen, und anstatt, wie manche seiner Kollegen, die Phantasie zu befeinden, suchte er sie schön zu beschäftigen.« Soch [sic!] ist das Wirken dieses Lichtspenders nur kurz; in tragische Verwirrung gerät bald die junge Seele und vermag sich daraus, von verbohrten und »seelenblinden« Menschen immer wieder zurückgestoßen, nicht zu lösen. »In der Jugend ist ja manches noch flüssig oder gasförmig, was bereits nach fester Gestalt aussieht, und wer da sehr kräftig zupacken will, tappt oft ins Bewußtlose«. Zudem erfährt eben jetzt die Seele die ersten Erschütterungen von der Macht des Dichtersanges. Wort um Wort aus dem schlichten Gedichtbuch senkt sich in das junge Herz und wird dort lebensmächtig. »Und mochten die Geister selig oder traurig aus dem grauen Buche singen, eines war allen gemeinsam: alle wußten um ein Reich unermeßlicher Freiheit, worin Lehrer, Schüler, Rügen und Strafen unwichtig wurden und keinerlei Auflehnung notwendig war.« In einem Reich des Traumes scheint der Knabe zu wandeln, jeder Blick für das Wirkliche und Notwendige scheint verloren zu sein, als gerade das am meisten von ihm gefordert wurde. So kommt die Tragik des Geschicks, das ihn aus der Gemeinschaft stößt, nicht nur aus der Umwelt, sondern auch aus dem eigenen Herzen.

Es ist ein tiefer Zug im Wesen Hans Carossas, daß er keine Phase seines Werdens ablehnt oder auslöschen möchte, auch die dunkelsten und verwirrtesten Stunden rechnet er zu kostbaren Keimen des Lebens. Diese Haltung entspringt jenem Glauben an das Immer-Werden des Geistes; die Tage und Nächte sind Stufen, auf die sich der Geist erheben muß, wenn er sich zuletzt über sie erheben will. So zeigt sich überall ein ver299söhnlicher Zug, der Schuld ist die Erlösung nahe, der Verwirrung die Klarheit. Das Tragische ist Carossas Welthaltung fremd. So sieht er auch in den tiefen Schatten, die ihn trafen, Kräfte neuer Erhellungen. »Der Knabe schäumt über von jedem Trieb der Erde und ist doch Geist und Feuer. War er je vorher verschattet, konnte ihn der erwachende Erdgeist zu vorzeitigen Abgaben drängen, so bedeutet das nun nichts mehr als die paar leichten Blüten, die dem gewaltigen Frühling verloren gehen. Frei ist er, seit ihn die Schönheit bewacht; aller trüb-schwere Stoff, der sonst die Werdensflamme zu ersticken drohte, wird brennbare Nahrung.«

Die Zeit der Genesung, die der junge Carossa, nach dem Ausschluß aus dem Internat, im Elternhaus verbringt, befruchtet sein Wesen von einer neuen Seite. Es keimt in ihm der Arztberuf auf, den er nun auf einmal bei seinem Vater in seelendurchdrungenem Wirken erfüllt erkennt. »Als Kind hatte ich ihn ja eher gemieden. Schon der scharfe Drogen- und Essenzengeruch, den er verbreitete, konnte mir ihn verleiden; jetzt aber ging ich diesem Anhauch gereinigter Kräfte witternd nach, schien er doch dem höchst verdichteten Wesen des Mannes selber zu entströmen, dieses sonderbaren, der immer auf Heilung sann. Ihm nämlich war das Wirken des Arztes der Inbegriff des reinen Tuns, das wir im größten Sinne nur Künstlern, Dichtern und Naturdämonen zuerkennen. Was immer sonst Menschen schwächt oder fälscht, vermied er, gab sich auch nicht mit Worten aus, sondern hielt schweigsam seine Energien zum Handeln bereit ‌… Als ich schon älter war, fiel mir auf, daß es eigentlich kein Leiden gab, das er von vornherein als unheilbar anerkannte. Ja, er machte sich gelegentlich blind und behandelte Fälle, deren traurige Prognose jeder Laie zu stellen fähig war, getrost wie heilbare. Diesen frommen Starrsinn finden wir nicht selten bei solchen Ärzten, die weniger nach dem Buch als aus ihrem eigenen Wesen heraus zu heilen suchen, und in der Tat ist es manchmal so, als ob gewisse Mittel unter ihren Händen erst wahrhaft wirksam würden.« Dieses Wesen des Vaters mußte auf die für alle seelischen Kräfte so empfängliche junge Seele tiefste Wirkung haben. Eine der tiefsten Einsichten in Carossas Werk finden wir hier zum ersten Mal verwirklicht; daß nämlich der Wirkbereich der Seele an den Grenzen des Individuums nicht beendet ist, sondern sich entsprechend der befruchtenden Macht der Seele in Zeit und Raum aus300weitet. Es entspricht dem Wesen Carossas, wenn die Berufserkenntnis sich nicht in plötzlichen Einsichten und Bekenntnissen äußert, sondern in stillem Reifen aufkeimt. Er verfertigt die Reinschrift einer Untersuchung des Vaters über sein neues Heilverfahren. Zu Anfang ist ihm diese ganze Welt fremd und gleichgültig; als er aber liest, daß es sich um die Abwehr eines Feindes der Daseinskraft und Lebensfreude der ganzen Menschheit handelt, ja daß man mit dem Verfahren Schillers Leben hätte erhalten können, da brannte ihm das Herz. »Eine glückliche Zeit begann; der neue Zweck war mir genug für mein Leben, […] sogar auf meine Dichter vergaß ich. Denn sie, die feurigen Vorzeichen der Zukunft geben der Jugend wohl eine Richtung, und alle großen Wiederherstellungen stehen unter ihrem Schutz, doch fehlt uns viel, wenn wir nicht auch von Zeit zu Zeit einen einfachen irdischen Auftrag empfangen, der uns eine Straße unter die Füße schiebt. Etwas wundersames geschieht sodann mit der werdenden Natur; sie ähnelt einem jungen Stern, der aus anfänglicher übergroßer Dunstgestalt langsam in seine kleinere, aber festere Dauerform übergeht und seine Wärme dabei aufs höchste steigert, bevor die endliche Abkühlung erfolgt ‌… Was etwa sonst in Haus und Welt geschah, berührte mich nicht. Regen und Schnee durchwetterten die Woche vor Ostern; aber was galt mir das? Die Seele wuchs in ihrer eigenen Jahreszeit, und jede Witterung tat ihr gut.«

In der kindlichen Weltschau erkannten wir den Keim der dichterischen Schau. Es muß aber für den werdenden Dichter der Augenblick kommen, wo diese Schaukraft sich aus dem Unbewußten zu bewußter Tätigkeit erhebt. Als Carossa schon nach Landshut zurückgekehrt ist und dort außerhalb des Internats einen freundlich geordneten arglosen Tag lebt, erschüttert ihn eines Tages die Gewalt der Musik, die er bei einem Freunde hört, bis ins Tiefste. Er eilt aus Haus und Stadt hinaus in die Landschaft; »aber auch diese sprach nun geisterhafter zu den Sinnen«. Er rastet bei einer weidenden Herde und erinnert sich der Nähe der Kreatur, wie er sie in der Kindheit empfand; doch diesmal ist es anders – »Im Blut ist Unruhe des Lebens, doch darüber versucht sich ein Schauen; die helle Wolke, die den Nachmittag erfüllt, Hüter und Hund, Erdbeerenreife glühend in gläsernem Krug und weisse Sternblumen im Schattensaum der Wälder. – dies alles wird nun den Augen ein himmels301stilles Bild, und zum ersten Mal bemühen sie sich, die grasrupfenden Rinder so zu sehen im Gemüte, wie vielleicht Homer sie geschaut hat.« In diesem Augenblick, in dem die Seele durch die Macht der Klänge zu höchster Empfänglichkeit gesteigert ist, vollzieht sich zum ersten Male eine bewußte dichterische Schau. Was der junge Carossa sonst in dieser Zeit schafft, sind nur Nachahmungen der großen Dichter des Vaterlandes, die sich »mit erschütterndem Ruf an die Grundenergien des Herzens« wenden. »Es genügte mir einstweilen, Goethes Verse fleißig nachzuahmen; aber schon daher erfuhr ich eine Wirkung. Es war, als hätte ich ein feines nachhaltiges Heilgift in mich aufgenommen, und dieses verlieh mir eine Leichtheit, einen Drang nach oben, die unserem schwerblütigen Stamme sonst fehlen.«

Unmerklich wächst die Jugend in die Zeit hinein, und sie muß eines Tages Stellung nehmen zu dem Geschick, in das sie hineingeboren ist. Mit programmatischen Worten hat Carossa das Gesetz aufgezeigt, nach dem allzeit die Jugend ihr Zeitverhältnis findet. »Ein junger Mann mag noch so gesondert, noch so naturbeglückt heranwachsen; das ungeduldige Auge der Zeit richtet sich doch auf ihn. Alles Öffentliche, meint er, gehe ihn nichts an; dabei wird er Stund um Stunde heimlich von ihm geprägt. […] In fertigem Staat und fertiger Kirche lebten wir wohlgeborgen, und doch war uns nicht immer wohl dabei; denn war es denn dies, was wir wollten: geborgen sein? Was edlere Jugend, ob reich oder arm, sich im stillen wünscht, ist entweder dämonisches Eigengeschick oder die Mitwirkung an etwas gewaltigem, das außerhalb ihrer liegt. Aufbauen möchte sie oder ein Gefährdetes retten; in jedem Falle will sie Opfer bringen. Von uns wurde nichts dergleichen verlangt; wir lebten mitten in Erfüllungen … So war es unsere Gefahr, aus Mangel an wahrer gemeinsamer Not genießerisch hinzukümmern oder ins Phantastische zu flüchten. Aber auch in stockenden Zeiten ist Jugend jung und schaut nach Beginnlichem aus.« Die Jugend ist es auch, die in aller Sicherheit der Zeit die Zeichen kommender Bedrohungen zuerst wahrnimmt. »Wir lebten wenig anders, als man hundert Jahre früher gelebt hatte, und nur manchmal, bei jähem, nächtlichem Erwachen, konnte einem zumute sein, als hörte man draußen die Dämonen, die Steine aus den Mauern unserer Häuser brachen.«

Und noch einmal wird das Schicksal dieser Jugend, im Zwielicht zu le302ben und zu wirken, offenbar, wenn sie ihre Stellung zur Kirche bestimmen will. Alles Große, was die Zeit hervorbringt, scheint aus protestantischem Geiste zu kommen, und viele verkünden die Erschöpfung des katholischen Geistes, der zum Glück der Menschheit nichts mehr beizutragen imstande sei. Schwer lastet dieses Fatum auf einer Jugend, die katholischem Stamm entsprossen ist und die all dem nichts entgegenzusetzen vermag. »Daß die Reformation doch noch gar nicht weit zurücklag, daß Laufte glühenden katholischen Lebens vorausgegangen sein mußten, damit Wesenheiten wie Goethe oder Schiller überhaupt erscheinen konnten, dies und vieles andere, wer bedachte es? Als echte Kinder der Zeit hatten wir wenig Witterung für heimliche Ströme; nur das aufdringlich Sichtbare galt uns.« In solcher geistiger Bedrängnis geht das Sehnen nach höherer Erfüllung: »in feierlichen Domstunden, bei Orgelsturm und hymnus angelicus, wenn hundertfach auf bekränzten Altären das lautere Wachs der seelenhaften Bienen brannte, sah ich wohl eine firmamentweite Kirche, die auch einen freischwingenden Geist wie Goethe leicht in sich einschloß […]«. Die Gestalt des Heilands bleibt zwar heiligstes unveräußerliches Gut des Herzens: »Jesus, die große Sonne, kommt keinem abhanden, den sein Strahl einmal durchleuchtet hat. Man kann ihn vergessen, man kann ihm abschwören, das ändert nichts; er ist vergraben im umwölktesten Herzen, und es kann stündlich geschehen, daß er aufersteht. Gegen die Kirche aber wirkte das Gift jener Totsagungen doch. Wir wurden scharfsichtig für die Schwächen einzelner Priester und scheinfrommer Laien, Unsicherheit schuf Erkaltung, und während wir uns bereits vor manchem Götzen der Zeit zu beugen begannen, entzogen wir uns der ehrwürdigen Norm, der wir den schönsten innigsten, gültigsten Bestand unserer Kindheit verdankten. Zwar blieb das große, rundwandelnde Kirchenjahr für immer die Himmelsuhr unseres Daseins; aber öfters, wenn ich nun durch die farbenreiche Durchsichtigkeit biblischer Geschichten frei zum Ewigen hinwollte, fühlte ich mich angehalten wie die Schwalbe, die gegen ein herrlich bemaltes Glasfenster stößt.«

In einer mystischen Turmbesteigung klingt das Buch »Verwandlungen einer Jugend« aus. Hier eine Deutung bis ins einzelne zu versuchen würde heißen: an Geheimnisse rühren, die nur von Herz zu Herz wirksam und fruchtbar werden. Turmbesteigung – an entscheidenden Punk303ten des Lebens einmal sich über den Alltag hinausheben, von höherer Warte, gleichsam sub specie aeternitatis das Vergangene überschauen und daraus klare Mahnungen und Weisungen für die Zukunft empfangen, sich von neuem besinnen auf die Grundrichtung unseres Seins, die im Welttreiben allzu oft verloren geht. Solange es eine Jugend gibt, die sich noch in solchen Turmbesteigungen zu tiefer Besinnung durchzuringen vermag, ist das Vermächtnis der Dichter geheiligt – die Zukunft ist dem Geist geweiht!

In der Bewährung des Feuers offenbart sich der Wesen reinster Kern; ins Nichts verbrennt die Schlacke, und klar fließt die Lauterkeit des edlen Metalls. In letzter Gefährdung und Not bestimmt nur noch die Seele die Grundhaltung unseres Lebens. Der Krieg führt den Menschen zu solcher letzter Bewährung; er treibt die Wesen bis an den Rand des Abgrunds, und wer nicht hinabstürzt, der wird durch das Feuer dieses »Vortodes« mächtigste Läuterungen erfahren. Der echte Dichter aber wird die schwerste Bewältigung zu leisten haben; muß er doch aus dem nur zerstörenden und nur verneinenden geistfeindlichen Würger heilende und emporhebende Kräfte schöpfen – nicht nur für sich, sondern für all die, die seine dichterische Verkündung empfangen.

In »Führung und Geleit« berichtet Carossa, wie er zu Beginn des Krieges kurz Rückschau hält auf das bisherige Leben; zu Turmbesteigung und langer Prüfung ist keine Zeit, nur für Augenblicke vermag er im großen Aufbruch in das eigene Herz sich zu versenken. »Der Vormittag des Lebens war vorbei, vieles verfehlt, viel Kraft verbraucht und keine Leistung aufweisbar, die mich zu einer neuen Daseinsform berechtigte. Das wenige, was ich neben meiner ärztlichen Arbeit geschrieben, hatte wohl einige Kenner angesprochen; aber für diese war es auch ausgemacht, daß mich niemals viele lesen würden ‌…« Ohne das Volk, an das seine Verkündigung gerichtet ist, kann der Dichter keine Kraft ausspenden; denn was er der Gemeinschaft gibt, fließt ihm zuvor aus der Gemeinschaft zu. Im Großen Erleben aller ruhen die Seelenkräfte, doch nur der Dichter macht sie frei und wirksam. Dieses große gemeinsame 304Erlebnis aber war den »Söhnen des Zwielichts« nie zuteil geworden; abseitiger Wandel war ihr Schicksal. So bringt der Krieg eine grundstürzend neue Daseinsform; »… ich fühlte einen großen Aufbruch der Geister und sehnte mich, dabei zu sein, ohne mir freilich im geringsten denken zu können, was ich dazu mitbrächte. Die Zeit war drohend geworden; die alten Maßstäbe genügten auch für die Kunst nicht mehr, am wenigsten für den Dichter. Dieser sollte endlich aufhören, seine kleinen Sonder-Erlebnisse wichtig zu nehmen und in Stimmungen zu schwelgen; wußte er sich nicht berufen, Seher, Sprecher, Bote, Warner, Mahner und Berater seines ganzen Volkes zu sein, so war es besser, er schwieg. Nicht eine dieser Missionen durfte ich von mir erwarten ‌…«

Von hier aus erkennen wir das Entscheidende in Carossas Kriegserlebnis; das Zusammenwachsen mit der großen Gemeinschaft des Volkes und die Verpflichtung seiner Kraft an diese Gemeinschaft, ihren inneren Bestand (denn diesem dient der Dichter zuerst) und ihre Zukunft. Eine neue Sinngebung seines Werkes empfängt der Dichter aus diesem Erleben, und wir werden überall erkennen, daß er in seinem ganzen Schaffen dieser Richtung treu geblieben ist.

Langsam nur durchdringt das Kriegserlebnis das Wesen, und zuerst wird diese Durchdringung mit Schrecken empfunden: »Das gemeinsam Erlebte so vieler Monate, Aufbrüche, Nachtmärsche, Kampf, Wut, Todesangst, – man merkt mit einer Art Schrecken, daß es Eigentum und innerster Bestand geworden ist, daß man es, ohne von sich selber abzufallen, nicht mehr wegwerfen kann.« In den »Geheimnissen des reifen Lebens« hat Carossa in wenigen Worten ein gewaltiges Bild dieser Gemeinschaft gegeben: »alle trugen das nämliche kameradschaftliche Kleid; wie Millionen kleine graue Federn fanden wir uns einer furchtbaren finsteren Schwinge eingefügt ‌…« Der unzerstörbare Glaube Carossas an den »immer werdenden, immer sich erbauenden, immer erscheinenden Geist« überwindet auch diese große Bedrohung des Krieges, ja findet in ihm tiefste Stärkung und Bestätigung. Ohne den tragenden Geist wäre die große Gemeinschaft der Krieger nichts. In einer Fülle von Bildern sieht er diese Einsicht bestätigt. Nur eines sei hier herausgegriffen, das uns zugleich einen ersten Einblick gibt in die erzieherischen Werte, die Carossas Dichtung dem Volkscharakter zuzuführen vermag. Beim Frühstück findet der Major eine tote Maus in der Marme305lade; grenzenloser Ekel spiegelt sich auf seinem Gesicht, doch im Gedanken an den Hunger, der das ganze Volk quält, überwindet er den Widerwillen und verzehrt das Brot, das er mit der Marmelade bestrichen hatte. »Im stillen mochte sich jeder sagen, daß ein Volk, worin alle dächten und handelten wie er, ewig unüberwindbar bliebe.«

Immer-erscheinend ist der Geist; seine Stunde ist oft dann, wenn er vernichtet, begraben oder in weiteste Fernen entschwunden erscheint. So ist er ganz eigengesetzlich und keiner Schranke und keinem Gebot dieser Welt untertan. Er lebt im einzelnen Menschen und bildet ein großes Reich, in dem jeder König sein darf, in dem es keine Sklaven gibt. Dem Dichter aber ist besondere Macht in diesem Reich gegeben; er ruft den Geist aus jedem grauen Stein und aus jeder nächtlichen Stunde. – Bahnfahrt, alle rauchen und spielen, Stunde um Stunde zieht die Landschaft vorüber; »diesen Tag will ich keine Bezeichnungen der Bahnhöfe, keine Plakate, keine Dorfnamen lesen, auch nicht hinhören, wenn sich die anderen darüber unterhalten. Auf die namenlose Landschaft will ich achten, wie sie sich leise ändert, und die Tönung des Himmels über ihr.« – Bei einer Marschpause im Gebirge geht er ein Stück voraus, setzt sich auf einen Stein inmitten aufwallender Nebel; »wie seltsam das ist, von der ferngewohnten geistigen Wolke berührt und aufgenommen zu werden wie von einem blütigen Wesen! Alle Heimatgestalten glänzen auf, und zugleich erschwingt ein grenzenloses Vertrauen in die strömenden und untergrabenen Kräfte der Welt.« – Bei Zerstörungen und Plünderungen in einem rumänischen Dorf bewahrt Carossa ein einzelnes Haus vor dem Zugriff der Soldaten; »wie gut weiß ich, daß es im gemeinen Sinne gar nichts bedeutet, ob unter tausend geschädigten Wohnungen eine einzelne unversehrt bleibt! Aber solcher halberträumter Schutzstätten bedarf der Geist; sie sind ihm Horst und Beute zugleich, darum bewacht er sie. Weiß er denn selbst, für wen er wacht? Vielleicht für einen, der schon in der Wiege liegt, einen, der alle schrecklichen Schreie der Wut und der Schmerzen umstimmen wird in Lieder und Hymnen ‌…«

Die Lebensform des geistigen Menschen ist eine eigene; er muß sich befreien von allem, was ihn dauernd dem Irdischen, Alltäglichen, Notwendigen verhaften könnte, immer muß er so frei sein, daß er sich zu kurzen Turmbesteigungen erheben kann. »Seit ich mein Gepäck immer so klein 306und nah beisammenhalte, bin ich stets zum Aufbruch bereit und kann mir in den Minuten, wo ich mich sonst in der Sorge, nicht fertig zu werden, abhetzte, das eben Erlebte ein wenig zu erklären suchen.« Solcher Besinnung dient überhaupt das ganze Tagebuch: »Früher wußte ich je nicht, wozu man Aufzeichnungen schreibt; jetzt aber sind sie mir wie die Brotkrümchen, welche Hänsel und Gretel im Walde ausstreuten, um gewiß wieder nach Hause zu finden.« Wie wenig Verständnis seine ganz im Alltag aufgehende Umgebung dafür hat, zeigt sich in einer kleinen Anekdote: »Der Adjutant wünscht guten Morgen und fragte, ob es mich nicht sehr ermüde, immer soviel in mein Heftchen zu kritzeln; er zerbreche sich den Kopf darüber, was ich denn so Merkwürdiges zu verzeichnen habe, im Grunde sei der ganze Feldzug doch ein gräßlich langweiliges Einerlei.«

Doch solche Daseinsform bewahrt gerade in den bewegtesten Zeiten nicht vor schweren Zwiespältigkeiten und inneren Konflikten. An einem Erlebnis zeigt Carossa dies klar auf. Zufällig sieht er eines Tages im Scherenfernrohr eine schanzende feindliche Kolonne, die dem Artilleriebeobachter entgangen ist. Er »wollte schon den Beobachter aufmerksam machen, fühlte mich aber gehemmt und schwieg. Zum ersten Male stand ich gewissermaßen vor der Pflicht, den Tod auf Menschen zu lenken; denn der verschonte Gegner kann im nächsten Augenblick die eigenen Landsleute gefährden. Anderseits waren die arbeitenden Leute von drüben hier in dem kleinen Glase gleichsam in meine Hand gegeben ‌… – ein seltsamer Fall für einen Menschen, der nicht Soldat ist und mit sich selber in leidlichem Frieden lebt.« Sonst genießt Carossa als Arzt den Vorzug, niemand töten zu müssen, »was auch meinen heimlichen Geweben sehr zugute kam«. – »Der Kristall der Seele konnte ungetrübt bleiben, sie horchte auf Rufe der Zukunft ‌…«

Die erste Frucht der neuen Ausrichtung seines dichterischen Wirkens reift schon im Kriege. Der Gemeinschaft, der er nun verpflichtet war, wollte er Weiser des Weges, Mahner und Künder sein; was aber konnte er ihr Klareres geben als die Wege, die er selbst gegangen war, sei es als Vorbild, sei es als Warnung. So entstehen im Kriege die ersten Teile seines großen Lebensbekenntnisses. »Mitten im ersten Kriegstumult waren mir die frühesten Erlebnisse meiner Kindheit wieder eingefallen, und im Felde schrieb ich einiges davon auf ‌…« Im Werden dieser 307Dichtung offenbart sich von neuem die Eigengesetzlichkeit des Geistigen. In Nordfrankreich, mitten im wütenden Feuer des Feindes, im freien feuchten Gelände liegend, »klopften wieder einmal die luftigen Geister der Kindheit bei mir an. Die begonnene Erzählung mahnte; klare Einzelheiten sprangen ergänzend in die Phantasie; ich tat wie der Unteroffizier, zog Meldezettel heraus und schrieb. Es war die allererste Lebensfrühe, die mir in jenen Minuten nahe kam ‌…«

Auch jenes Netz feinster Seelenwirkungen, das sich zwischen gebenden und empfangenden Herzen spannt, konnte der Krieg nicht zerstören. Die Begegnung mit Max Mell und die Gestalt des jungen Glavina wie die des Mädchens von Dobrowlany sind schönste Zeugnisse dafür. – Im Angesicht der gewaltigsten Kriegsmaschinen verwirklicht sich in der Begegnung Carossas mit dem Dichter Max Mell etwas von jenem unsichtbaren Reich, das die Geister umspannt und zueinander führt. Zufällig ist diese Begegnung zweier Menschen, die sich nie vorher sahen; und doch war sie schon vorbereitet in jenen Wirkungen, die ein Geistwesen durch das Wort vom anderen empfängt. So ist es, als seien die Seelen lange miteinander bekannt und wären auf diesen Augenblick zu gewachsen. Die beiden Dichter drehen den großen Mörsern den Rükken, und schnell wendet sich das Gespräch den Dingen des Herzens zu. »Daß eine neue Zeit begann, daß aus dem Taumel der Zusammenbrüche sich etwas wie ein dunkler Fels erhob, ein schwarzer Prüfstein, an welchem alles Geschriebene sich würde beweisen müssen, das fühlte wohl jeder von uns beiden, auch wenn wirs nicht aussprachen; doch bestätigten wir uns das tröstliche Phänomen, daß ein zartes lyrisches Gebilde Mörikes mitten im Kriegsgetose seinen Klang behielt, während manche sehr laute oder sehr geistreiche Dichtung darin unhörbar wurde.« Zum ersten Mal vermag Carossa an diesem jungen Dichter zu erkennen, wie die Mächte des Krieges auf ein gleichgeartetes Wesen wirken. »Beide befanden wir uns in langsamer Entwicklung; aber wenn der Krieg ein Fegefeuer war, das alle Geister der Zeit zu durchleiden hatten, so näherte er sich sicherlich schon der Entlassung ‌… Ich dagegen, obwohl der Ältere, ging erst am Fuß des Berges der Läuterung; die grauen Pioniere der Verwesungswelt warfen mir noch immer ihre Schatten nach; ich sah noch viele Spiralenwege über mir, die nicht erkennen ließen, ob sie wirklich zu dem einzigen Paradiese hinüberführten, 308das ich mir schon auf Erden wünschte, zu einer tieferen, klareren Anschauung des Daseins.«

Als die Gestalt aber, die wahrhaft symbolisch Bestand, Herrlichkeit, Sieg und Zukunftskraft des Geistes inmitten von Tod und Verwesung verkörperte, steht der junge Glavina im Mittelpunkt des »Tagebuchs im Kriege«, ja von der Intuition dieses Wesens, das nichts anderes ist als das bis zum Kern geläuterte Spiegelbild des eigenen Herzens, hat die ganze Kriegsdichtung Carossas ihren Ursprung. – Bei der Zensierung der Post hat Carossa die erste Begegnung mit dem Geist Glavinas. »Fast unwillkürlich suchte ich nach der steilen, klaren Handschrift des jungen Glavina, der oft an seine Freunde so wunderliche Sätze schreibt. »›Was wäre das für eine geistige Einheit, die wegen der Explosion einer dummen Granate gleich auseinanderspränge?‹ las ich diesmal.« Und an einer anderen Stelle: »Die Welt, die rauhe, rohe, ungeheure, ich lebe jetzt in ihr wie in dem Innern einer feinen, heftig schillernden Seifenblase und halte den Atem an, um sie nicht zu zersprengen.« Ist hier das Lesen in den Briefen Glavinas noch etwas anderes als ein Lesen im Spiegel des eigenen Wesens? – Doch im Tode erst gewinnt Glavina seine höchste Seelenmacht; ist es doch ein erhabenes Gesetz in den Dichtungen Hans Carossas, daß alles große Wirken in die Zukunft hinein von den Toten ausgeht. Der gefallene Krieger und die Magd Emerenz im »Arzt Gion«, das sterbende Kind in der »Flucht« oder das blinde Mädchen aus dem Strom in den »Geheimnissen des reifen Lebens«, sie alle gewinnen vom Tode her ihre höchste Lebensmacht. – Carossa findet bei dem gefallenen Glavina auf Meldezetteln jene gewaltigen und zukunftstarken Sprüche, die er an den Schluß des Kriegstagebuches gestellt hat. Wie aus einer anderen Welt klingen diese Mahnungen und Gesichte, und stark ist darum ihre Macht über die Seelen. Durch das ganze Kriegserleben schwingt der Ruf des Toten in Carossa fort. »Oft ist mir, als ob mich seine Sprüche leicht und stark in die Zukunft hinüberzögen.« Allmählich »hab ich mir manches vereignet und verinnigt«; da einiges verlorengegangen ist, muß es aus Eigenem ergänzt werden. »Was tuts! Genügen vom Kalium pemanganicum doch zwei, drei Körnchen, um ganze Krüge Wassers rot zu färben.« Und immer stärker wird das innere Tönen der Worte Glavinas, bis sie, wie es echter Dichtung wesenhaft ist, zur Verkündung drängen. Vom Tode überdroht ist 309die Stunde, da sie im kleinen Kreis harter Soldaten von Herz zu Herz getragen werden. »Ja, die gepreßte Stunde, wo Tod und Leben dicht beisammen sind, es ist, als festige und läutere sie den Grundstoff der Naturen, und wie eine schlechte Bleiglocke, getaucht in reinen Sauerstoff, auf einmal klingt wie eine silberne, so beginnt jeder in seinem eigensten Wesen zu tönen.« Und nach langem Schweigen spricht einer für alle: er habe zwar von Glavinas Worten nur weniges verstanden, doch er sei ganz fröhlich davon geworden.

»Raube das Licht aus dem Rachen der Schlange!« Dieses Wort Glavinas stellt Carossa vor sein Kriegstagebuch. Doch hat es wohl seine reinste Bezeugung gefunden in der Dichtung »Das Mädchen von Dobrowlany«, einer Epistel an einen Freund, der sich von der Klarheit geisterhellten Weges, geängstigt von den Drohungen der Zeit, in Verworrenheit und Dunkel verloren hat. Aus einem gemeinsamen Kriegserlebnis möchte ihm der Dichter ein Licht auf den Weg senden: Brennendes Dorf in Galizien, am Dorfrand neben den toten Kriegern die Leichen eines Greises und einer Frau, die die Flucht aus den Zerstörungen verschmähten; daß aus solcher Finsternis ein lichter Strahl aufglänzen kann, muß der Seele für alle Zeit den Glauben an den Sinn und den lichten Kern jeder Stunde einsenken. Die Seelenkraft dieses Erlebnisses beschwört der Dichter aufs neue vor die verschattete Seele.

 

Und nun entsinne dich, wie uns Licht aus Düstrem kam,

Als längs den Bränden, hoch von Funken überweht,

Kornhelles Haar vorsinkend unter Scharlachtuch,

Mühsam das Mädchen ging und weißer Linnen Last

Auf schmächtigen Schultern schleppte nach der Leichenflur.

Entkleidet sind, unfaßbar eilig, Weib und Mann

Und lind gehüllt in blumendurchwirktes Totenhemd.

Aus Lüften zischt es, Warnungsrufe hallen rauh.

Doch sie, ganz Arbeit, ganz Gesetzgeist, Liebende,

Die keiner Scham bedarf, hat Gurt und Sturmhelm schon

Dem nächsten Krieger abgeschnallt, den Waffenrock,

Das Hemd entstreift, und gönnt sich nicht die kleinste Rast,

Bis alle, alle festlich eingekleidet sind,

Wie sichs für Tote ziemt im Land Galizien.

 

310Lichtes Sinnbild jener reinen Wohltaten, die die Seelen sich erweisen, wenn sie sich opferwillig zueinander neigen, sieht der Dichter hier im heiligen Tun des Mädchens.

 

Oh, hätten wir Seelen, einander als Lebendige

So schön zu nahn wie jenes holdentrückte Kind

Verlassenen Toten, so mit weihendem Gebrauch

Einander zu gewanden neu von Zeit zu Zeit

In Lichtgeweb, lang aufgespartes, geistiges,

Das keine Strahlen durchläßt als die freudigen

Der innern Sterne, – wären wir nicht reich genug

In unsrer Welt? Wärs not, in andere zu spähn?

Zu schleichen um unflügger Geister bleichen Kreis

Der auch nur harren will, ob ihn die Liebe nicht

Erweckt und hebt und in unendliche Dienste zieht?

 

Wenn wir an dieser Stelle auf eine kritische Würdigung der Kriegsdichtung Hans Carossas näher eingehen, so geschieht es nur deshalb, weil uns daraus neue und tiefe Erkenntnisse über das Wesen der dichterischen Welthaltung zuströmen können. Leonhard Beriger schreibt in seinem Buch »Die literarische Wertung« (Halle 1938) über die Bewältigung des Kriegsthemas in Carossas Tagebuch: »Daß solchen Gegenständen gegenüber die dichterische Darstellungsweise nicht ganz angemessen ist, spürt man an Carossas Kriegstagebuch. Die dichterische Bewältigung und Verklärung geht hier weiter, als sie diesem Gegenstand gegenüber erlaubt scheint, Carossa muß, um Dichter zu bleiben, den Gegenstand verkleinern.« (S. 76) Es wird hier also mit anderen Worten gesagt, daß der Dichter der Wirklichkeit des Krieges nicht gerecht werden kann; die letzte Konsequenz daraus ist aber die, daß einer der gewaltigsten und schicksalhaftesten Gegenstände für immer der dichterischen Gestaltung unzugänglich ist. Schon aus dieser Folgerung muß es klar werden, dass Berigers Kritik der Dichtung einen Bereich nimmt, der seit Homers Zeiten immer von neuem die großen Gestalter zur Bewältigung aufgerufen hat. Doch wollen wir nach solchen negativen Einwänden nun in Carossas Werk selbst untersuchen, wieviel es von der Wirklichkeit des Krieges enthält. Dabei muß uns freilich bewußt 311sein, daß Wirklichkeit nicht mit Oberfläche oder Materie identisch ist; im Reich des Wirklichen gibt es viele Ebenen, und die Wirklichkeit der Oberflächen liegt gewiß nicht auf der höchsten Ebene.

Der Dichter hat eine eigenste Schau des Geschehens. Er stenographiert nicht sein Erleben, so wie der bildende Künstler nicht seine Schau photographiert; zwischen den Gegebenheiten und dem Gedicht erprobt die Seele jedes Bild und jedes Wort auf ihren Ideegehalt. So kann die Dichtung niemals Tatsachenbericht sein; und jede Betrachtung ist dem Dichtwerk unangemessen, die zuerst nach der Oberflächentreue der Darstellung fragt. – Es ist für die Haltung Carossas zum Kriegsgeschehen charakteristisch, daß die erste Eintragung im Tagebuch vom Zerbrechen eines kleinen Waschtischspiegels berichtet. Hat das im großen Zerbrechen höchster Güter Bedeutung, Gehalt? Es ist nur ein Bild vom Erbeben des Herzens, das zarteste und zerbrechlichste Werte treu in sich bewahren möchte, vor dem Ansturm des unsagbar Gewaltigen; aber birgt das Bild nicht letzte Wirklichkeit, mehr Wirklichkeit als die tausend Worte, die in Tatsachenberichten stehen und uns doch nichts sagen können vom Schlag des Herzens. Denn von den Schicksalen des Herzens künden eben doch nur die Dichter, und wer wird bestreiten können, daß diese Schicksale tiefere Wirklichkeit und Gültigkeit haben als äußeres Geschehen.

Die Dichtung trägt allen Wirklichkeitsgehalt in der Sprache; nicht so, daß jeden Gegenstand, jedes Fühlen mit Worten zu treffen versucht ist, sondern in Bild und Klang eines jeden Wortes, nicht nur in seinem begrifflichen Inhalt ist die dichterische Aussage enthalten. Einige Beispiele aus Carossas Kriegsdichtung sollen zeigen, wieviel von der Wirklichkeit des Geschehens das Wort ausdrückt. Wie oft haben Berichte versucht, uns eine Vorstellung zu geben von jenem herzbedrängenden Tönen der Schlachtfelder. Mit Hilfe langer Buchstabenreihen, der Anordnung wie der Druckstärke wollen sie etwas von der urwelthaften Lautfülle wieder zum Erklingen wecken. Doch wie übermächtig ist hier das Dichterwort! »…es klang, als würde unendliches Korn auf unendlicher Tenne gedroschen« oder: »Von der Sonne her tost es wie Weltuntergang; von tausend Mündungsblitzen und Leuchtraketen fiebert der Himmel.« Hier wird kein Lautbild von außen herangetragen, das nur das Ohr trifft; es wird von innen her ein Tönen erweckt, und es 312schwingt aus dem Wort das Erbeben der Seele, die hinter dem tödlichen Klang Zerstörungen und Untergänge spürt. Und wieviel Wirklichkeit entsteht aus diesem Bild: »Es ist ein Berg der Blindnis und des Todes ‌… Wie Hornisse zerstechen Granaten das Gefelse, Fleisch reißend aus Lebendigen und Toten.« Und der sonst so belebende Duft des Waldes wird zum Künder tausendfachen Todes der Natur, die mit dem Menschen leiden muß: »Die Luft ist voll Harzgeruch des tausendfach verletzten Waldes.«

Es ist tiefste dichterische Haltung, die wir gerade an Carossa in einer wesenbeherrschenden Ausprägung erfassen können, wenn auch das bedrohendste und dunkelste Geschehen durch die Erfüllung mit einem Sinn Erhellung, Versöhnung, ja Notwendigkeit erhält. Gerade in der Haltung zum Krieg können wir diesen Zug mit Klarheit erkennen. Der Glaube an den Sinn jedes Geschickes läßt Carossa auch an eine Sendung des Krieges glauben: »Wer aber seinem eigenen Leben auf den Grund zu sehen beginnt, der wird gelassen seine Arbeit tun und dabei der schöpferischen Seele unseres Planeten vertrauen. Sie weiß, was in der Tiefe mit uns vorgeht; sie wird auch den Kriegsgenius in sich zurücknehmen, wenn seine Sendung erfüllt ist. Und solange sie des Menschen bedarf, wird sie ihm die heiligen Gefahren und Züchtigungen schicken, die seiner Erhaltung dienen.« Wohl glaubt Carossa, daß der Krieg zu entarten begonnen habe, daß ihm jene »poetische Wirkung«, von der noch Novalis spricht, verloren sei; und doch hält er an seiner Berechtigung fest: »Die menschliche Gesamtheit aber, was wäre aus ihr geworden ohne kriegerischen Geist? Wie oft hat ein Krieg die schwülen, genießerisch-fauligen Stimmungen verjagt, die fast jeder jahrelang dauernde Friede begünstigte! Welche Rettung war es für manchen, aus abstumpfender Häuslichkeit in heilsame Todesnähe entrückt zu werden, wie viele leidenschaftlich-unergiebige Verstrickungen wurden mit einem Schlage gelöst! Nicht wenige brauchen den Ausnahmezustand der Seele, um ihr Bestes in sich aufzufinden ‌…« Immer wieder spürt man hinter solchen Worten die Erfahrungen des Dichters, der aus dem Zwielicht kam und erst durch das Kriegserlebnis die Richtung seines Strebens fand; ganz aus dem eigenen Schicksal entspringt so die Sinngebung des Krieges, wie es in dem Gedicht »Ausklang« ausgesprochen ist:

 

313Wir deuteten aus Fiebern eignen Wahnes

Den Krieg der Welt. Er war uns mehr als Trug,

War etwas vom Gestirn uns Angetanes

Und ließ uns Raum zu freier Tat genug.

 

Im Vertrauen auf die durch alle Zeiten schöpferische »Seele unseres Planeten«, die die Wesen durch Zerstörungen zu neuer und höherer Form führt, legt Carossa den letzten Sinn des Krieges in das Zukünftige, für das Ganze wie für den einzelnen. Als er einmal von der Höhe einen Blick über den langen Heereszug hat, ersteht ihm der Gedanke dieses Dienstes an der Zukunft. »Düster, schicksalhaft anzuschauen ist solch ein Dahinziehen Tausender, die wie auf Speichen des nämlichen Rades einer unsichtbaren glühenden Achse zustreben. Gäbe es doch ein groß vorleuchtendes Zeichen, das allen ihre Mühsal süß macht! Aber ihr Bestes ist verwahrt in einem Traum der Menschheit, den sie vielleicht nie erfahren, und nur manchmal mag es einen gemahnen, daß er einem unbekannten Herrn der Zukunft dient.« – »Opfern wir uns bewußt und freudig dem unbekannten Geiste der Zukunft, bevor uns ein armseliger Zufall ereilt und sinnlos zerfleischt.« Für den einzelnen aber ist der kriegerische Dienst Bereitung für ein höheres Dienen. »O Freund, ich selber würbe gern ein Heer, zu wunderbarem, nie gewagtem Feldzug; aber es ist noch zu früh, der Feind, den wir überall spüren, hütet sich zu erscheinen, in keiner Sprache noch läßt sich die Parole ausgeben, und die ich wecken soll, die schlafen noch zu tief. Ists da unklug, wenn ich so, wie früher Königsöhne taten, einstweilen in einer anderen Armee diene, damit ich mich schon jetzt an kriegerisches Treiben gewöhne? Ja, suchen wir Gefahr und Mühsal, wie sie sich gerade bieten, so bereiten wir uns für höhere Mühsal, wahrere Gefahr. Mir ist wie einem Täter, der seine Tat noch nicht kennt.« So wird der ganze Feldzug für Carossa »nicht viel mehr und nicht viel weniger als ein großes Abenteuer. Damit gewinne ich viel; der unfreie Dienst wird mir leichter und läßt einen freieren ahnen, der vielleicht aus ihm hervorwachsen wird.«

So weist der Sinn des Krieges über den Krieg hinaus; das Leben, das aus ihm herauswächst, das aus Todesnähe zur höchsten Erfüllung erhoben wird, gibt ihm diesen Sinn.

Carossa war dem dunklen Ruf »Raube das Licht aus dem Rachen der 314Schlange!« gefolgt, als er ins Feld zog; er hatte gehofft, »draußen irgend einen tieferen Wert in sich zu finden«. Als er heimkehrt, hat alles ein neues Licht bekommen. »Die alte enge Form des Daseins erwartete mich; aber dies hatte nichts bedrückendes mehr. Das Leben fließt nie zu den alten Ufern zurück, und wenn ich auch künftig das nämliche Geschäft betrieb, so konnte es doch nicht mehr das nämliche bedeuten. Was mein dichterisches Bemühen anging, so wußte ich nun, daß mir um so eher etwas geraten konnte, je williger ich mich dem allgemeinen Los der Menschen unterwarf, je weniger ich mir ein Ausnahmeschicksal wünschte. Dem ärztlichen Wesen wollte ich verbunden bleiben und, falls ich etwas schriebe, mit der Sprache kaum anders umgehen als mit den Heilgiften, auf deren genaue Dosierung ich eingeübt war.«

»Raube das Licht aus dem Rachen der Schlange!« Das Glavina-Wort war der Leitstern des Dichters im Dunkel der Todesnähe. An der Schwelle des neuen Lebens klingt ein anderes Wort des Gefallenen auf: »Bald ist alles Vorspiel nur.«

Die Weltaufgabe und Sendung Hans Carossas ist mit diesem Wort umrissen; Heilung des Menschen. Doch nur in ihrem vollsten Sinn gefaßt, schließen uns die Worte »Mensch« und »Heilung« den Lebensberuf des Dichters und Arztes auf. Mensch ‌… nicht nur in seiner physischen Wirklichkeit, sondern mit all seinen Seelenmächten und seinen innersten und geheimsten Verzweigungen; Heilung – als wahrhafte Heil-Bringung, weit über das im Bereich des Ärztlichen Liegende hinaus. Die letzte und tiefste Verschmelzung des Arzttums und des Dichtertums wird auch die vollste Erfüllung dieser Weltsendung Carossas bedeuten – das ist die Einsicht, die nach langem Ringen als gültige Lebensform verwirklicht wird.

In den »Schicksalen Doktor Bürgers« schildert Carossa, wie ein junger Arzt an den inneren Spannungen zwischen ärztlicher Lebensform und seelenhaftem Streben zerbricht. Daß dieses Lebensgeschick nichts anderes als das Zu-Ende-Führen der eigenen Situation des jungen Carossa ist, zeigen uns die Bekenntnisse aus seinem Lebensgedenkbuch »Füh315rung und Geleit«. Als er nach beendetem Studium als frei verantwortlicher Arzt den Leidenden von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat, da mußte er bald bemerken, daß hier der Einsatz des ganzen Wesens gefordert wurde, »der Mensch rief den Menschen«, ohne Einschränkungen und Vorbehalte. Doch davon hatte er sich eine andere Vorstellung gemacht: »Ich gedachte das Heilgeschäft nur so nebenher zu betreiben, im Hauptamt aber den Beruf des Dichters zu erfüllen ‌… Wie sehr hatte ich bei solchen Absichten die eigene Natur, wie vollkommen die magischen Anziehungskräfte des Leidens verkannt.« Mehr denn alles erweist sich das Reich des Leidens und der Todesnähe als Machtbezirk der Seelen; aus hilflos zerfallendem Körper wirken gewaltige Kräfte der gottahnenden Seele und unbewußt verfällt ihnen der junge Arzt. Am Bilde einer jungen todgeweihten Patientin wird uns dies offenbar: »Gelassen und heiter führte mich diese klagenlos Zerfallende in das trübe Reich des Duldens und Vergehens ein, so daß ich es als solches lange nicht empfand; unversehens war ich eingewurzelt und wirkte mit allen Kräften darin ‌… es war, als hätte mich das zarte Mädchen für immer dem großen Orden der Verlorenen verpflichtet.« Doch mit dieser endgültigen Einwurzelung im Ärztlichen ist auch jener innere Zwiespalt zum Wesenselement geworden; zwei Reiche fordern den einen Menschen ganz für sich, daß sie ihn gemeinsam erfüllen könnten, um voneinander Kraft und Tiefe zu empfangen, ist dem jugendlichen Ganzheitsstreben noch verborgen. »Solang ich mich meinen ärztlichen Aufgaben gewachsen sah, beunruhigte sie mich nicht sehr; bei jedem Versagen aber mahnte mich das verborgene Dichtertum, und ich warf mir vor, den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Den Künstler macht seine Tätigkeit einsam und frei; sie gibt ihm das Recht, zu fliehen, sobald er sich in allzu ungemäße Verhältnisse hineinwachsen fühlt. Mit dem Arzt steht es anders. Ihn sondert seine Kunst nicht von den Menschen ab, und Flucht wäre für ihn Verrat an den Leidenden, die ihm vertrauen.«

Ein immer bedrohtes Ausgesetztsein der Seele fordert den Arzt zu höchster Wachsamkeit, zur Festigung seines Wesenskernes. Schon der Vater hatte den jungen Carossa auf diese Nähe des Arztes zu den Abgründen hingewiesen: »Die Wesen werden gläsern vor ihm. Er muß die Scham verlernen, die das Antlitz der Völker jung erhält; ungestraft legt er die empfindlichen Einrichtungen des Leibes bloß. Er öffnet die 316Adern, in denen die Ströme des Lebens wechseln, und die fromm zugedrückten Augenlider der Toten hebt er noch einmal auf.« So naht der Arzt sich auch dem Letzten und Heiligsten, und in der »Flucht« glaubt er sich deshalb von Gott verfolgt: »Wie kann mir Gott verzeihen, daß ich so viel von ihm erfuhr?« – Jedem Zugriff niederziehender Kräfte ist der Arzt ausgesetzt; wie viele, die als Heilungssuchende erscheinen, enthüllen sich als Versucher! »Und wenn er nun eine Natur ist, zart und arglos, entzündlich, und, wie die meisten, seinen Beruf unter vier Augen ausübt, – o so setzt er sich jedem Ansinnen der Welt, jedem Zudrang trüber Kräfte aus. Viele kommen zu ihm, die es weniger auf seine Kunst als auf seine Menschlichkeit abgesehen haben, es gibt überall saugende niederziehende Geister, und immer sind sie am liebsten zu denen gekommen, die allein, in verschlossenen Zimmern anzutreffen sind ‌… Weißt du denn, Kind, wieviel ein Arzt erfährt und wie er schon durch das Anhörenmüssen gewisser Berichte an den äußersten Rand des Lebens gedrängt wird?« – »Könnt ich doch alle Frauen meiner Sprechstunde fernhalten! Sie rauschen leise herein, klagen und seufzen ein Weilchen und streifen dann ihre Gewänder herab, als ob das wenig bedeute; ja, was manche vor ihrem Gatten verhüllen würde, meinen Blicken gibt sie es ohne Bedenken preis.« Von jedem, der sich ihm hilfesuchend naht, erfährt der Arzt eine innere Bedrohung; so ruft er in der »Flucht«, dem seelischen Zerbrechen nahe, aus:

 

Wer sucht mich wieder? Endigt nie die Stunde denn,

Wo jeder mich ergreifen darf?

 

Ja, die Krankheit, die er anderen nimmt, scheint »irgendwie vergeistigt« in ihm zurückzubleiben, »ein dumpf zusetzender Hauch, der mein Leben trübt und niederhält«.

 

Und alles Bittre, alles Böse,

Wovon ich fremden Leib erlöse,

Längst ists durch Augen, Ohren, Lungen

Mir bis ins innre Blut gedrungen.

Die Sünde schießt aus altem Samen.

Die starken Segnungen erlahmen.

 

317Doktor Bürger zerbricht unter dem Ansturm dieser seelenbedrohenden Mächte des Abgrundes. Einst hatte er sich einem jeden, der ihn suchte, ganz hingegeben, hatte sich an ihn verloren, mit ihm gelitten. »Vom kühnsten Mitleiden lebte ich Tag und Nacht«, schreibt er in sein Tagebuch. »Wenn ich mich innig in andern verlor, wie viel glaubte ich zu gewinnen! Seit mich aber Unzählige suchen, bin ich wie einer, der sich lustlos ausgießt, und wenn ich im Wartezimmer Bank und Stühle bis auf den letzten Platz besetzt sehe, wird jeder Kranke zu einem Schatten, der mein Blut will.« Jetzt, wo viele und viele seinen Einsatz verlangen und doch nicht empfangen können, da wird der ärztliche Beruf zum Feind des eigenen Wesens, des seelenhaften Tuns. Die einzigen, die ihm noch stärkende Kräfte zuführen können, sind die Todnahen, die Unrettbaren. »Ja, meinem Herzen am nächsten sind jetzt die Verlorenen, die, von denen ich weiß, daß ich sie nicht retten werde.« Bezeichnend für den Bruch, der nun schon zwischen Arztsein und Menschsein entstanden ist, erscheint Bürgers Liebe zu einem kranken Mädchen, deren Behandlung er vernachlässigt und die durch seine Schuld stirbt; nun hält ihn nichts mehr unter den Lebenden, freudig will er sich fallen lassen – »Kann doch keiner tiefer stürzen als zurück in sein eigenes Herz.« Allmählich entwächst er der Welt, alles braust ihn an: »Deine Zeit ist um!«, und endlich gibt er sich dem Geist zurück, der ihn geschaffen hat. »Du wirst mich zurücknehmen, tödlich formender Geist! Ich fühls an der unendlichen Stille, die jetzt bei mir einkehrt, an den Blicken, die du mir manchmal öffnest ‌… Die Masken des körperlichen Geschehens, die mich Eingeschüchterten oft schreckten, du lässest sie langsam fallen, mir ahnt durch tausend Wandlungen dein wahres Gesicht ‌… Du hast Seelen, Unerschöpflicher, um dich deiner zu freuen. Vernichte mich, ich vertraue!«

Das Erleben des Krieges scheint auch am ärztlichen Wesen Carossas die entscheidenden Umprägungen und Heilungen gewirkt zu haben. Die »Schicksale Doktor Bürgers« erschienen im Jahre 1913; mitten aus dem Kriegserlebnis heraus kam 1916 das Gedicht »die Flucht« zur Veröffentlichung. Man kann es als eine Korrektur des »Doktor Bürger« bezeichnen; als sich hier der Arzt dem Ursprung zurückgeben will, ruft ihn die Erscheinung eines sterbenden Kindes zur Tat. »Laß mich schlafen!« wehrt er sich gegen den flehenden Anruf; doch in Seelentiefen dringt die Mahnung.

 

318Weh, wie saugt mich

Kraft der Qual an!

Kind, ich höre!

Brennend werden

Unterm Fuß mir

Die Granite ‌…

Kind, ich komme!

 

Zwar schwindet die Erscheinung, das Kind stirbt; doch hat es den am Rande des Nichts Stehenden zum Leben, zur Tat zurückgerufen. Sein Tod hat den Müden für immer dem Leben verpflichtet.

 

Und wer je mich wieder

Bittet, o ich fühls, der wird mit deiner
Stimme zu mir reden. Und ich werde
Schaudern, werde folgen –

Ihr Toten alle, denen ich gedient,
Als noch die Fieberwogen euch durchrüttet,
Wie glänzt ihr in mir auf! Wie war ich blind!
Wie leuchtet Licht aus Gruften längst verschüttet!
Mir schien so leicht, mich von euch loszusagen.
Nun muß ich tiefsten Liebesbann erkennen.
Ein strenger Gott ist über meinen Tagen,
Der Treue fordert, ohne sich zu nennen.
Er hat mich längst an euch dahingegeben.
Was in mir gut ist, hat in euch sein Leben.
Das andre mag zerfallen Stück um Stück!

 

Ist nicht dieser Gedanke unserer heiligsten Verpflichtung durch die Toten zuletzt erwachsen aus dem Kriegserleben? Carossa hat auch hier Licht aus dem Rachen der Schlange getragen, tiefste Erhellung seines Wesens und leuchtende Erkenntnisse mitten in Finsternissen erfahren. Als er aus dem Kriege heimkehrt, ist »Doktor Bürger« überwunden: »Ich begann zu lesen, hörte aber gleich wieder auf; so unerheblich und so sehr vergangen erschienen mir die Sorgen und Beängstigungen 319der alten Zeit.« Es ist die Erfüllung des Wortes, das schon Doktor Bürger für kurze Augenblicke lichtvoll emporhob: »Nein, ich fliehe nicht; ich will bleiben, bis ich so hoch glühe, daß das Erz meiner Ketten von selbst abschmilzt.«

War die »Flucht« eine Überwindung des »Doktor Bürgers«, so ist der »Arzt Gion« die Schau eines neuen Daseinsgesetzes, einer neuen und gültigen Weltsendung. Arzt und Mensch sind hier zu einer Einheit verschmolzen, aus der alle Kraft zur Bewältigung der Berufsaufgabe kommt, die mit dem Wort »Heilung des Menschen« in ihrer Weite und Tiefe umrissen wurde. Gion ist nicht mehr dem Zugriff Unzähliger preisgegeben, wie es Doktor Bürger war; wenigen wendet er die Kräfte seiner Seele zu, in engem Kreis wirkt er wahrhafte Heilungen des Menschen mit ganzem Wesenseinsatz, denn es ist »leichter sich um Tausende zu ängstigen, als für einen Einzigen das Rechte zu tun«. Die Richtung dieses neuen Arztseins hat Carossa in ein Wort gefaßt, das der Schlüssel zum inneren Reich des »Arzt Gion« ist: »Kommt es denn wirklich nur auf das Erraten eines bestimmten Mittels an oder auf ein paar armselig hingeschleppte Jahre mehr? Nein, die Seele will sich einsetzen zu ihrer Stunde ‌…«

Zwei weibliche Seelen begegnen sich im Kraftfelde Gions: die arme Magd Emerenz und die Künstlerin Cynthia. Fremd und andersartig kommt Emerenz in die Welt des Arztes und der Künstlerin, »steil aufrecht, etwas riesenhaft«, und »dies ist ihr Wunderbares: sie hat immer guten Mut«. Bedroht ist ihr Leben von dem anderen Leben, das aus ihr zum Licht drängt; aber sie wird es nicht preisgeben, um sich zu retten, wie Gion riet und bald bereute, denn »unter dem demütigen Alltagsgebaren des armen gehorsamgewohnten Weibes mochte er etwas Unüberredbares gespürt haben«. Die Cynthia wird uns gleich aus dem ersten Bilde lebendig; wie viele dieser Wesen sind uns doch schon begegnet! »Frost liegt auf der weiblichen Seele; sie schaudert vor neuer Befruchtung« – dieses Geschick der Zeit nach dem Kriege trägt auch Cynthia; äußerlich so unwahrscheinlich sicher scheinen all diese Frauen, doch die Seele ist noch in eisiger Umklammerung der Finsternisse, die sie ergriffen haben. Emerenz ist anders: unaufhaltsam zwar zerfällt der Leib, doch sieghaft ist die Seele, unbeirrbar und selbstverständlich bewegt zum einen Ziele hin, »unter tausend Entmutigten die erste, die 320wieder auf Erhaltung des Menschengeschlechtes bedacht war«, »ist unter tausend Weibern eine, die wieder guten Glaubens, guten Willens ein Menschenkind zur Welt gebären will. Sie weiß, wohin sie vermutlich gehen wird, und doch hat ihre breite Hand nicht einen Augenblick nach dem Rettungstau gezuckt, das ihr geboten wurde.«

Eins der wunderbarsten Prosastücke im Werk Carossas und wohl in unserer ganzen Literatur ist der »Heimweg der Magd« aus dem »Arzt Gion«. Aus der Unsicherheit und Bedrohung der Welt kehrt Emerenz heim in die Geborgenheit der Heimat. Zwar hat sie nun ihr Wirken in jener Welt begonnen und kann nicht mehr zurück, aber aus der Heimat holt sie die Kraft der Seele. Ein Verschworensein allem Lebendigen ist in der Todgeweihten; als sie an der Kapelle vorbeikommt, wo die beschrifteten Totenschädel aneinandergereiht sind, möchte sie die umdrehen und die »falsch-unfreundliche Moderweisheit« verschwinden lassen; sie weiß es wieder und weiß es für immer, daß jede Blume, jede Hummel, jeder Lichtstrahl Wahreres, Frommeres, Gültigeres verkündet als ein grabgrauer Schädel, und wenn es der eigene wäre«. Und es begegnet die Versucherin und spricht von der Greuel der Zukunft, verneint das Werdende; aber Emerenz ist unbeirrt. »Solch ein Kindlein ist doch schon jemand und hat ein Herzchen […]. Man muß es doch beenden, was man begonnen hat, darf es nicht am Wege liegen lassen zwischen Finsternis und Licht […].« Gegen die dunkle Gestalt der Wanderhändlerin hebt sich die lebensbejahende Güte des Pfarrers erst recht ans Licht; nicht »kanzelstreng« ist der sonst »Unerbittliche« zu der Magd. »Unsere Kirche ist großmütig und gastfreundlich; ihre Tore stehen offen bei Tag und bei Nacht, sie schließt kein keimendes Leben aus. Jeder Seele, die einmal geweckt wurde, gönnt sie den Weg ins irdische Licht und zur Erlösung.« Die wundersamste Tröstung wird der Magd von der Natur selbst zuteil; aus den Wunden der Natur fließt ihren Wunden heilender Segen zu. Im Schnee sieht sie die Spuren eines Rehs, da »glüht es ihr zu Füßen wie rote Blumen im Schnee, Tropfen frischen Blutes ‌… alles Mütterlich-Barmherzige steigt aus der Wärme ihres lebensbehütenden Schoßes auf … sie wittert die Blutsverwandtschaft aller Kreaturen, und vielleicht, weil sie selber schon zum Schattenreiche schaut, wird sie jetzt von dem Purpur im Schnee so fieberhaft angezogen. Als wäre dort Genesung bereitet und großes Verstehen, kniet sie in der Öde nie321der, um wie man eine Blume mit ihrem Wurzelstock ausgräbt, so hebt sie den roten Stern samt umgebendem weißen Flaum aus dem Grund, schüttet sich die Kühlung wie ein heilendes Pulver in den lechzenden Mund und weiht sie trinkend ihrem Kinde zu.« Und bald ist sie daheim.

Erlösungsharrend ist die Welt der Cynthia. Sie fühlt eine Sendung an die Welt in sich; doch nicht die ewige Sendung der Frau ist es, sie sendet »statt kleiner todgeweihter Kinder lieber gleich vollkommene Geschöpfe in Ton, Holz oder Marmor zu den Menschen«. Im künstlerischen Schaffen glaubt sie, der Welt ihre Schuld abtragen zu können, glaubt sie, den »Dämon der Zeit« zu besiegen. »Mögen andere Kinder gebären, wenn schon der Jüngste Tag anbricht! Ich – wozu brauch ich Kinder? Dort sind meine Kinder!« Die Gestalten ihres Schaffens aber, die sie damit meint, sind ein »graues Schemenvolk«; es fehlt jedem dieser Gebilde etwas, »eine feine letzte Entwicklung, die Möglichkeit eines Lächelns«; sie haben die »Haltung weithergekommener Wanderer« und es ist, »als hätten sie einmal ein schönes Reiseziel gewußt und könnten sich nicht mehr daran erinnern«. So tragen auch Cynthias Werke die Zeichen der Unerlöstheit an sich, die sie selbst in sich spürt: »… zu viel Schuld liegt noch auf uns, wir sind noch weit vom Eingang entfernt.« Noch ist die Künstlerin zu weit von allem Weiblichen und Mütterlichen geschieden, noch sucht ihr Blick in nebelhaften Fernen. »Wer Gesichte hat und Erleuchtungen, der braucht nicht vergängliches Leben zu wecken.«

Zwischen diesen beiden Wesenswelten der Künstlerin und der Magd steht der Arzt Gion; er zieht um beide seinen schützenden Kreis und empfängt dafür unendliche Segnungen aus ihnen. Im Umgang mit Emerenz spürt er die Stärke und Festigkeit eines gläubigen Herzens, den Hauch eines innig weiblichen und mütterlichen Wesens; einen neuen Blick für Cynthia gewinnt er dadurch. »Die arme Knechtin vom Berg hatte seine Augen geschärft; nie glaubte er Cynthias Natur, nie ihre Gefahr, freilich auch nie ihre Wunderbarkeit so deutlich erkannt zu haben ‌… Er sah die feinen elastischen Röhren, die den dynamischen Strom aus dem Schoß empor zu den Werkzeugen der Seele leiten, krampfartig zusammengezogen […].«

Als eine »in sich selbst verbaute Natur« erkennt er Cynthia; doch »[e]r 322glaubt an sie, und für den Gläubigen gibt es nichts Unheilbares«. Zwar weiß er keine sichere Hilfe für beide, Magd und Künstlerin, doch er spürt von innen her, daß sie einander viel bedeuten könnten. Cynthia wittert sofort heilende Mächte, als sie von Emerenz hört, möchte sie für sich gewinnen, sich ihrer bemächtigen. »Die arme Magd verstünde mich vielleicht; aber die andern, was wissen die?« – »Sie ist heilig, heilig, Herrin der Heerscharen in ihrer Welt. Wenn sie wiederkäme, wenn sie mich ansähe, schwesterlich, oder gar, da sie doch sterben muß, mir ihr Kind schenkte, – siehst du, das wäre gut, das könnte uns alle erlösen.«

Auch in Gion erwachen neue Lebensmächte. Zwar bleibt er immer heilender in seinem Kreis; aber es ist nicht mehr Heilen des kühl prüfenden Beobachters, des erwägenden und berechnenden Praktikers, der aus Wissen und Erfahrung handelt – es ist ein Heilen im höheren Sinn, bei dem der ganze Mensch zuinnerst beteiligt ist und das in der Erkenntnis gipfelt, »daß dies eine von den Kranken war, die nur einer heilen kann, der sie liebt«. Denn diese Heilung kann nur in einer Hinführung zur einzigen und ewigen Erwähltheit und Sendung des Weibes gewirkt werden; und wer anders vermag das zu vollenden als der Liebende? Gion erkennt, daß nur ein ganz Reiner und Geläuterter die zarte Seele an sich binden dürfe; so wird die Heilung Cynthias zunächst ein Werk der Läuterung des eigenen Wesens. »… sie muß erhalten bleiben, und es käme nur darauf an, sich selber so stark, so rein zu bewahren, daß man sie zu binden vermöchte, ohne ihren heimlichen Kristall zu trüben.«

Stunden der Genesungen kommen. Cynthia legt alles Absonderliche ab; echt Weibliches, Mütterliches bricht in ihr auf. Wie viel innere Stärkung sie schon empfangen hat, offenbart sich, als sie mit dem Knaben Toni vor dem toten Häher steht: »Als die Malerin Tonis Grauen wahrnahm, da merkte sie, wie gut sie doch von Doktor Gion schon erzogen war; sie blieb gelassen und fand begütigende Worte, die der Arzt selbst hätte sprechen können: ›Diese Insekten‹, sagte sie, ›führen das Verwesende schnell in den Umlauf des Lebens zurück, eine fromme Handlung im Grunde!‹« Jetzt dürstet ihr ganzes Wesen nur noch nach dem Muttergeist der Emerenz; alle Erfüllung kann ihr nur von der Magd kommen. Als Toni ihr einen herrlichen Schmetterling zeigt, sie solle ihn nachbilden, da wird ihm die überraschende Antwort: »…noch bin ich nicht 323soweit. Emerenz, die große Mutter, die möchte ich nachbilden mit Stift und Meißel, das wäre jetzt meine Aufgabe – o wenn mir dies gelänge, dürfte ich wohl auch eines Tages einen Schmetterling malen.« Und auf Tonis zweifelnde Frage antwortet sie: »Ob leicht oder schwer, darum dreht sichs nicht, mein Kind! Was die Seele braucht, was sie ergänzt, nur darauf kommt es an!« So harrt das Wesen dem heiligen Augenblick der Erfüllung entgegen, am Bilde des gefallenen Kriegers in der Krypte, dessen Züge denen der Emerenz so geschwisterlich ähnlich sind, bereitet sich das Auge. Es mußte die junge Künstlerin »all ihr Beginnen und Bemühen für ewig ungesegnet halten, wenn die arme todgeweihte Magd vom Berge ausblieb«.

Und Emerenz kommt; und mit dem lichten Auge der Todnahen sieht sie die Veränderungen, die Cynthias Wesen ergriffen haben. »Also war sie der Braunkittel mit der großen Brille und der Tabakspfeife. Und ist so fein und so sauber geworden seither. Was könnte ich tun für sie? Ich bin doch nichts und habe nichts.« Gion offenbart ihr einen Blick in Cynthias Natur: »Sie ist ein wenig mit sich selber geschlagen, mußt du wissen. Die böse Zeit geht in ihr um ‌… Ich glaube, das Weib in ihr schläft noch und fürchtet sich vor dem Erwachen.« Sie selber aber spürte, daß Arzt und Künstlerin sich lieben, daß aber noch manche innere Schwierigkeit sie vom Einswerden fernhielt; und auf einmal wußte sie: »hier bin ich notwendig; hier gehöre ich her. Unaufhaltsam hinschwindend erriet sie sich als ein Element, ohne welches zwischen jenen rätselhaften beiden keine genaue Verbindung zustande kam, und auch dies verlieh ihr eine Geltung, die das Leben überdauerte.«

»Naturseher melden uns, dass gewisse irdische Körper nie mächtiger seien als in statu nascendi, dem Augenblick ihrer Entstehung wogegen doch der Mensch als ein gar schwaches verlöschliches Weslein ins Dasein gelangt. Höchste Wirkungen aber sind oftmals die unsichtbaren, und wer sich in die Personen hineinversetzt hätte, die bei der Entbindung der Emerenz zugegen waren, der wäre doch an jenes chemische Gesetz erinnert worden.« – »Doktor Gion, äußerlich am ruhigsten, konnte sich doch nicht verhehlen, daß das Ereignis ihn mit einem Ruck der Mittagsstunde seines Lebens näher brachte. Das Kind, dem er den Weg zum irdischen Lichte hatte verlegen wollen, jetzt war es da, atmete, versprach, groß zu werden und klopfte bescheidentlich bei ihm um Hil324fe an. Und nicht nur weil etwas an ihm zu sühnen war, sagte er sich, daß es zu ihm gehöre; auch sonst hatte es eine Bedeutung für ihn. Seit Jahren lebte er gleichsam auf der Schattenseite des Planeten; täglich versuchten ihn entmutigte jedem Anfang abholde Naturen; er sah die Lust am Dasein in allen Schichten der Bevölkerung langsam abnehmen, die Zahl der sich Wegstehlenden jährlich steigen […]. Hier aber lag nun ein Neugeborenes, das wieder mit herzlicher Bereitschaft, ja mit Hingabe des eigenen Lebens, von einer glücklosen Mutter in die Welt geschickt war, und froh begrüßte er es als ein Zeichen neuer Gläubigkeit.« Auch Cynthia ist ganz im Banne dieser Stunde. Das Kind hat gesundes Blut, unversehrt vom Zerfall des mütterlichen; als man eine natürliche Erklärung dafür sucht, wehrt Cynthia ab: »Die Natur, ist sie wirklich so wundertätig? Und was für die Pflanze gilt, genügt es für den Menschen? O nein! Da muß noch etwas anderes zu Hilfe kommen, ein Herzenswille, der alle Lebensröte aus sich selber hinaus verweist und in das Werdende hinein beschwört.«

Cynthia hält die Totenwache bei Emerenz. In dieser Nacht muß alles Erfüllung finden; die segnenden Kräfte aus dem Opfer der Magd sind nun frei und wirksam. Als aber eine ihrer Tongestalten, lange nicht mehr angefeuchtet und vergessen, zusammenfällt, packt Cynthia Furcht des Alleinseins, sie eilt zu Gion und legt sich neben ihm nieder. In diesem aber erwacht noch einmal der Zwiespalt zwischen Arzt und Mann. Da kommt ihm ein Bild vor den Sinn von den Glutsonnen des Alls, in denen die Elemente durch die Gewalt des Urfeuers ihre Differenzierung verlieren und so noch allen Anfang in sich tragen. »Ein Licht auf die Geheimnisse der Menschenwelt« fällt dem Arzt aus diesem Bild: »Jenem Zustand heißer Sterne, so träumte er, näherten sich liebende Menschen in den Stunden ihres äußersten Erglühens und Sich-Vereinens ‌…« Und er wendet den Gedanken auf Cynthia; sie »muß in den kosmischen Feuerwirbel der irdischen Liebe tauchen, der die ineinander verstrittenen Grundstoffe löst, umschmilzt und zu einem neuen Wachstum befreit«. So gibt er sich in die Vereinigung; da trifft Cynthia blitzartiger Schlag und tiefer Schlaf befällt sie. »Wenn es Wiedergeburten gab, gingen ihnen vielleicht solche Schlafe voraus.«

Dem Manne aber wird nicht im Schlafe Erlösung, von ihm werden Bewährungen und Entscheidungen gefordert. Gion berührt in dieser 325Nacht die Abgründe des Lebens; als er geläutert heimkehrt, schläft Cynthia noch immer. – »Welche Aufgaben stellst du meinem Leben, seltsame Cynthia? … Alles muß wieder mühsam werden, – wie war dir dies Wort aus der Seele gesprochen!« […] Dir wird bei deinem besten Freunde schwer, was andere sich so leicht machen, was Millionen so ohne Wahl gelingt […]. Vielleicht ist es lohnender, mit dir zu entsagen, als mit einer anderen zu genießen. Ja, schlaf nur, Geliebte! Ich berühre dich nicht und besitze dich doch […]. Wenig hast du erfahren, scheinst aber doch ins Innerste des Lebens eingeweiht. Den Mutterstand fürchtest du; aber auch ewig im Vorhof der Liebe wohnen willst du nicht. Die ist bang um die heiligen Bilder, die noch ungeformt in deiner Seele ruhen; aber vertraue nur: ich werde kein Licht in dir anzünden, das sie verbrennt, anstatt sie zu durchleuchten.«

Am Morgen ist alles neu. Gestürzt ist das »graue Schemenvolk« der Tonfiguren und das Bildnis der Emerenz fast vollendet. »Noch gestern hätte ich es nicht gekonnt«, bekennt sie Gion. In der Vereinigung mit dem Manne sind alle Quellen weiblichen und mütterlichen Geistes in ihr aufgesprungen; nun kann sie sich dem Bilde der Magd nahen und es aus verwandtem Wesensgrund zur gültigen Form erstehen lassen.

Den ganzen Gehalt des »Arztes Gion« schon in diesem Abschnitt auszuschöpfen ist nicht möglich. Doch sollten diese Ausführungen auch mehr enthalten als eine bloße Inhaltsangabe; es ist für das tiefere Eindringen in diese Dichtung unerläßlich, das innere Gewebe der Handlung einmal ans Licht zu heben. Das ist im Vorstehenden unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung der ärztlichen Sendung geschehen; es sollte offenbar werden, wie die Sehnsucht Doktor Bürgers nach seelischem Einsatz und Wirken des Arztes im gesamtmenschlichen Bereich hier eine Erfüllung gefunden hat. Ist Doktor Bürger an der Spannung Arzt–Mensch zerbrochen, so findet Gion die Erfüllung seines Wesens in der Einheit von Arzttum und Menschsein. Daß der Arzt in seiner höchsten Form, eben in der letzten Einheit von Leben und Beruf, dem Künstler ebenbürtig sein kann, ist wohl die entscheidende Einsicht aus dem »Arzt Gion«, die wir für das Wesensgefüge Hans Carossas gewinnen.326

Der Eisenwagen rollt. An gelben Lampen

Saugt Morgenschein. Die Reisenden erwachen

Und schaun sich an, frostnüchtern und noch müde.

Und wie nun in dem weißen Reif des Fensters

Ein Wald wächst, pflanzenhafte Vögel schlafen

Auf bläulichen Geweihen, das sieht keiner.

Ich aber wache gern und schau zuweilen

In die vergängliche verworrne Blindnis.

 

Wachen und Schauen – ewiger Beruf des Dichters, hier in diesen wenigen Versen, in einem unscheinbaren Bild aus modernem Alltag ist er uns offenbart. Blind ist der Erdgeist; der Seher, der Schöpfer ist es, der ihm Augen gab (»An das Ungeborene«), unter uns lebt er immer, teilt unseren Alltag und Festtag, geht die Wege, die alle gehen, ißt das Brot, das alle essen – und doch ist er es allein, der sieht, was wir alle nicht sehen, der zum Gedicht macht, was uns dunkel und unsagbar im Herzen ruht.

In »Führung und Geleit« erzählt Hans Carossa, wie ihm im Kriege in todüberdrohtem Haus ein Erlebnis mit seinem neunjährigen Söhnchen ins Feld der Erinnerung aufsteigt. Er hatte das Kind auf einen Granitfelsen hingewiesen und ihm erzählt, daß der Ursprung des Gesteins vor dem alles irdischen Lebens liege; da wollte der Kleine um jeden Preis ein Stück aus dem grauen Fels herausschlagen, und als er den Splitter, der an den Bruchflächen wundersam schimmert, in der Hand hielt, sagte er: »Da hab ich also nun etwas, das ist so alt wie die ganze Welt, und das Blaue ist immer im Dunkeln gewesen; ich bin der aller-aller-erste Mensch, der es sieht.« Ist so nicht der Dichter? Aus dem Unscheinbarsten, Grauen des Lebens schlägt er ein Stück heraus, und siehe, was für Ewigkeiten im Finstern zu ruhen bestimmt war, glänzt nun wundersam auf, er ist der aller-aller-erste der Menschen, der es ans Licht getragen.

Schon im ersten Abschnitt hatten wir die Erkenntnis gewonnen, daß die Seele des Dichters in vielem Betracht der des Kindes wesensverwandt 327ist. Dichterische und kindhafte Welthaltung haben einen gemeinsamen Seelengrund; jenes Ursprünglich-Einssein mit allem rings Gegebenen, jenes Sich-In-Der-Weltmitte-Fühlen, das innige Einvernehmen mit der Schöpfung und das Staunen vor dem ewigen Neu-Sein der Dinge ist hier wie dort Grundgefühl des Lebens. Letztlich sind dem Dichter wie dem Kinde jene sanften Schranken, in denen sie das Leben heranführt, zu eng, und es ist die Sehnsucht ihres Herzens, über sie hinauszustoßen; bei dem alten Zauberer fand der Knabe Erfüllung dieses Sehnens, und zukunftshell ist das Wort, das er von ihm als letztes hörte: »Kann sein, du wirst auch einmal ein Zauberer, wills Gott, ein stärkerer als ich!«

Doch die Augenblicke des Dasein, da dem Dichter die Gnade der Rückkehr zum kindhaften Weltgefühl geschenkt wird, sind selten; nicht erfleht und errungen wird diese Gnade, unerwartet strahlt sie in die dunkelsten Stunden. Hinweg von allen Nöten drängt es Doktor Bürger hinauf auf die Höhen, von denen der Blick schweift über herbstliches Land, Dörfer, Strom und Stadt. »… und wie dies alles so sicher gegründet schwimmt in seinem sanften Tage, o dann bin ich wieder liebend verbreitet wie als Kind, ein Schauer übergibt mich dem andern, ich wittre die ewige Freiheit.« Im Kriegstagebuch erzählt Carossa vom Schicksal einer jungen Katze, die zusammen mit anderen getötet werden soll, dabei aber nur betäubt wird und sich für kurze Frist wieder erholt. In der Daseinsspanne, die ihr noch gegönnt ist, übt sie tiefste seelische Wirkungen aus. Ihr Wiedererscheinen greift dem jungen Burschen, der mit roher Abgestumpftheit das Tötungsgeschäft ausgeführt hatte, gewaltig ans Herz. »Schön ist es immer anzuschauen, wenn den rohen Menschen das Ewige anfällt, – ehren wir jede Erleuchtung, jeden verwandelnden Schrecken! – ich möchte dafür einstehen, daß der Knabe nie wieder seine Hand gegen die Kreatur erheben wird, – gebe Gott jedem sein Tier und seine Sünde, die ihn erwecken! Es muß aber noch andere Erleuchtungen geben, wo aus noch viel reinerem Schrecken eine Tat aufsteigt wie ein Stern.« Auch auf den Dichter selbst hat das Tier, das schließlich zu seinen Füßen verendet, seine Macht: »Durch das kleine Tier zur Ruhe gezwungen, bemerkte ich übrigens bald eine Veränderung an mir, eine seltsame innere Stille und Gesammeltheit, wie sie, glaub ich, die Mönche als Einkehr bezeichnen. Der Körper empfand sich leichter, 328das Denken geschah freier und sicherer als sonst … und nie vielleicht bin ich mehr davon überzeugt gewesen, daß wir nicht nur von Menschen, Geistern und Sternen, sondern oft auch von Tieren, Pflanzen, ja sogar von unbelebten Stoffen unmerklich zu uns selber geführt werden, worauf am Ende doch alles hinausgeht, was wir Gnade nennen.« – Weshalb stellt der Dichter dieses Bild mitten zwischen die Bilder von menschlicher Not, von Schmerz, Blut und Tod? Er selbst sagt, es sei eine »Szene, die, für sich betrachtet, vielleicht nichts bedeutet«, und fährt fort: »und doch ist mir, als ginge sie mich und manchen anderen an«. »Etwas Geistiges ist hier verbürgt ‌…« – deshalb hat die Begebenheit ihren Platz in der Dichtung; dieses kurze Wort ist grundlegend für die Erkenntnis des dichterischen Wesens Carossas. Das Auge des Dichters ruht dort, wo etwas Geistiges verbürgt ist; nicht das Gewaltige, Großartige, Seltsame oder Furchtbare der Welt zieht den Blick des Dichters an, sondern mit einem höheren, seelenhaften Sinn spürt er die Dinge und Schicksale auf, die dieses Geistige verbürgen. Ein Maßstab für alle Dichtung ist uns hier gegeben: je größer und sicherer diese Spürkraft nach dem Geistigen in Geistferne und Nacht und Schein und Überfülle in einer Dichtung erfühlbar wird, um so klarer und reiner ist das Wesen des Dichterischen darin verwirklicht.

Zu den schönsten Stellen der »Geheimnisse des reifen Lebens« gehört der Abschnitt über die Besichtigung der Porzellanfabrik. Kann man eine Fabrikbesichtigung zum Gegenstand der Dichtung machen? Es gilt auch hier das Gesetz, dass der Dichter das Geistige, das in den Erscheinungen verbürgt ist, aufspürt und gestaltet. Als eine »lebendige Schöpfung« fühlt der Dichter das technische Werk; als Bild und Gleichnis tritt ihm jeder Vorgang entgegen. So der Gärungsprozess des Rohstoffs: »Ohne den dunklen Grund von Zersetzung und Gärung scheinen auch die reinen geistigen Eigenschaften des Porzellans nicht vollkommen zu werden.« Daß der Einsatz des Menschlichen in diesem Werk entscheidend ist, kommt dem Dichter so nahe, daß er die Angestellten um ihren »stillen mitschöpferischen Platz« beneidet.

Selbst hinter den oberflächenverhafteten Berichten der Tageszeitung erspürt der Dichter etwas Geistiges; wenige Berichte fügt er zu einer gewaltigen Schau in Höhen und Tiefen der Welt, als innere Einheit erhebt sich das Geschick der Welt. »Einsam im Flugzeug eilt ein einsames jun329ges Weib Tag und Nacht über Weltgegenden hin, die noch kein Forscher betreten hat, und ihr Volk begleitet im Geist ihre Bahn wie die eines hellen glückbringenden Sterns. Ungefähr zur gleichen Zeit geht ein alter Mann von Dorf zu Dorf und lädt mit freundlichen Worten Kinder zur Begleitung ein. Bald aber werden diese als Leichen aufgefunden; weder Wunde noch Vergiftung ist sichtbar; lächelnd liegen sie in Stellungen des tiefen sanften Schlafs … Welcher Künstler vermöchte ein solches Nebeneinander des Zeitgeschehens aus sich selber zu ersinnen!« In einem Laboratorium »sitzen ernste Männer, auch sie vertieft in stilles Forschen; durch unermüdlich treuen Fleiß hoffen sie ein Gas zu finden, ein farb- und geruchloses, das innerhalb weniger Stunden alles Leben einer mittelgroßen Stadt vernichten kann. Zur nähmlichen Zeit erscheint, hoch über dem Portal des größten Doms, von schweigenden Menschenmassen erwartet, ein zarter Greis in weißem Gewand; er verfügt über keine Waffen und Krieger; er erhebt nur seine feine welke Hand und segnet alle Bewohner des Erdkreises, Freunde und Feinde. Und Hunderttausende beugen ihre Kniee; fassungslos weinen Männer und Frauen in seliger Erschütterung und geloben sich, von dieser Stunde an nur noch das Gute zu tun ‌… Eine solche Segnung, man mag sie annehmen oder abweisen, erinnert uns auf jeden Fall daran, daß es eine unsichtbare Welt gibt, eine zeitlose, die tief in unsere sichtbare Zeitwelt hineinwirkt.«

»Ja, es ist eine namenlose Gnade, sehen zu dürfen, was ist.« Vom höchsten Beruf des Dichters sagt dies Wort der Cynthia aus; ihm sind die Oberflächen der Menschen und Dinge, die Bilder und Geschehen nur Umhüllungen dessen, »was ist«. Dem Dichter allein ist das Organ geschenkt, das diese Hüllen und Verschleierungen des wahrhaft Seienden durchdringt. Carossa spricht verschiedene Male von zweierlei Sinnen des Dichters, vom äußeren und inneren Gesicht, äußeren und inneren Ohr oder Auge. Als ihm im Kriege eine Bäuerin begegnet, die das Gesicht einer verstorbenen Oberin hat, schreibt er ins Tagebuch: »So gibt es auch da kein Ende, und immer schaut gleiche Seele mit gleichen Augen durch die Schichten der Zeit.« So ist jenes innere Auge im Letzten ein Organ der Seele, die allein die Kraft besitzt, die verwandten Geister zu erspüren. Durch diese Kraft erst ist »der Mensch das einzige Geschöpf der Erde, das den Willen hat, in ein anderes hineinzuschauen«. 330Und dieser Wille ist doch im Grunde der Antrieb jedes dichterischen Bemühens.

Über Werden und Wesen seiner dichterischen Anschauung hat Carossa in den »Geheimnissen des reifen Lebens« bekenntnishafte Worte niedergeschrieben: »Wie sahen wir die Welt in unserer Jugend? Laßt uns ehrlich sein! Zuweilen war es gewiß ein heller, eindringlicher Traumblick, und wer Goethe kannte, der bediente sich manchmal seines großen Auges. Im ganzen aber blieb alles doch uneigen und ungenau; Gefühlsdrang spülte die Ruhe der Anschauung fort, und über ein Betasten und Abwandeln des Überlieferten kamen wir selten hinaus. Um die Grundfigur eines Geschöpfes zu erkennen, dazu müßte man lange leben, müßte sich auf weniges beschränken, müßte dieses wenige immer wieder wie in einem Tode tief vergessen, um sich eines Tages um so tiefer daran zu erinnern. Der große Eichbaum vor dem Garten ist heute nicht viel anders als zur Zeit meiner Kindheit; man freute sich alljährlich am ersten Winterfrostmorgen der weißen verästelten Blitzgestalt, im Sommer aber der herrlichen Belaubung und der festen gedrungenen Früchte. Später dann, als mir die Haare schon grau wurden, da war das mächtige Gewächs auf einmal mehr als nur erfreulich; es schien in die Sphäre des Geistes gerückt, sein Wesen erfüllte sich von Jahr zu Jahr; ich wußte, daß zu irgend einer Stunde das Urbild der Eiche in mir aufglänzen wird. So gibt es in jedem langen Dasein, das beruhigt nach außen blickt, eine Vermehrung der Zeit. Wir werden reif und fangen zu welken an; aber der Tod bleibt noch aus, und nun kann, über alle Erfahrung hin, etwas geschehen: ein höheres Wachstum, eine reinere Schau kann beginnen. Ja, ein Zustand scheint möglich – ich bin weit entfernt, ihn zu kennen, er deutet sich nur an –, ein Zustand, vergleichbar den seltenen Abendminuten, wo schon ein Stern im Osten flimmert, während noch die Sonne nicht ganz versunken ist. In der ersten Kindheit ging etwas ähnliches vor: damals war das Außen von dem Innen noch nicht streng geschieden und das Gestirn der Ewigkeit leuchtete noch eine Weile herüber, während schon der irdische Lebensmorgen aufstieg.«

Wäre auch der Name Goethes in diesem Abschnitt nicht ausdrücklich erwähnt, sein Bild würde doch schon nach den ersten Worten vor uns aufsteigen, denn goethisches Wesen klingt aus jedem Satz. »Ruhe der Anschauung«, »Grundfigur«, »Urbild«, »reinere Schau« – wer spürte 331nicht den Anhauch seines Geistes aus jedem dieser Worte? Erst kürzlich hat Hans Carossa in seiner Rede »Wirkungen Goethes in der Gegenwart« sich zur Nachfolge Goethes bekannt; auch überall in seinem Werk ist die Lebensmacht des Goethe-Geistes spürbar. In »Führung und Geleit« erzählt Carossa, wie er sich als eingeschlossener Zögling des Internats bald den jungen, bald den alten Goethe als Freund und Führer gewählt hatte. »Ihm kann man folgen, ohne ihm zu verfallen, und wer ihm verfällt, bleibt immer noch frei genug. Er beleuchtet jedem seine Bahn und weiß um den Wert der Irrwege. Durch seine Heiterkeit und Unbefangenheit scheint ers jedem leicht zu machen, und doch ist sein Anspruch an den gestaltenden Künstler nicht weniger hoch als der aller andern und sein Geheimnis das tiefste. Nicht immer merkt man dies im Augenblick; denn meistens, wenn er das Große ausspricht, klingt es so, als hätte man es in einer guten Stunde selbst sagen können.« Doch nicht nur in solchen ausdrücklichen Bekenntnissen offenbart sich die Goethe-Nachfolge Carossas; überzeugender noch sind die zahlreichen Wesenszüge seiner Dichtung, die wir als von Goethes Geisteskraft geprägt erkennen; und nicht in blindem Unterliegen, sondern in lebenslanger Begegnung hat sich diese Prägung vollzogen. Ein Goethisches Lebensgesetz ist das »Wachen und Schauen«, das uns mitten zwischen dem Reich des Göttlichen und dem des Elementarischen bleibt, wie es in Angermanns Aufzeichnungen steht und wie es Lynceus der Türmer im »Faust« singt. Die Betrachtung des ausgegrabenen Knabenkrauts in den »Geheimnissen des reifen Lebens« trägt die Prägung des Goethe-Blicks: »… keine Einzelheit mir allzu wichtig ist, nicht einmal der tiefe Purpur der Blütenflügelchen, den ich ja kenne, daß ich der zarten Kreatur gern in ihrer Ganzheit nahe kommen und vor allem die Zwiebel ein wenig verstehen möchte, die ich, nicht ohne Schauder, zum ersten Mal sehe. Denn sie gleicht einem Händchen […], und wenn ich bedenke, was alles darin vorbereitet und geleistet wird, so will mir die eigene Hand recht unbegabt vorkommen … träumend bildet es in seinem Kern die Form des Ganzen vor […].« Goethehaft will mir auch der Abschluß der Besichtigung der Porzellanfabrik in den »Geheimnissen des reifen Lebens« erscheinen: »Dicht neben dem Ausgang, in gewölbter Nische, steht ein Tischchen; darauf liegen unscheinbar drei faustgroße Steine, ein weißer kreidiger, ein alabasterheller fettglänzender und ein rötlich332brauner. ›Das sind die Grundstoffe des Porzellans‹, erklärte mir Hilger, ›Kaolin, Quarz und Feldspat. Ohne sie bestünde keines von den hübschen Dingen, die Sie heute gesehen haben.‹« Symbolisch ist hier die Hinwendung zu den Urstoffen aller Erscheinungen, wie wir sie überall in Goethes Naturschilderungen – erwachsen aus einem wesenhaft forscherischen Geist – finden. Schließlich sei noch auf die Strophen aus der »Flucht« hingewiesen, in denen der Mensch in der Natur Urbild und Gleichnis seines eigenen Daseins erkennt:

 

Ihr Felsen, feuerbürtig echt und alt,

Seid ihr nicht selbst die kränksten aller Kranken,

Vergängnis nährend jeglicher Gestalt?

Was im Lebendigen frißt, nagt auch an euch dort oben,

Ein Urgezücht dämonischer Mikroben,

Ihr pures Gift löst heimlich Korn um Korn.

Und Frost und Glut vertiefen zarte Wunden,

Das Wasser sickert in die feinen Schrunden

Und ruht nicht, eh sichs ganz hinabgefunden, –

Was bleibt, ist Staub. Der Lauf beginnt von vorn.

Notwendige und doch verwitterliche

Säulen des Lebens, Mitleid zuckt in mir!

Der Mensch, der brüchige, der erschütterliche,

Ist er denn ewiger als ihr?

 

Die Nähe des Menschen zum Ursprung oder zum Tod – mit einem Wort: zum Ewigen – erkennt Carossa (in dem oben wiedergegebenen Abschnitt aus den »Geheimnissen des reifen Lebens«) als Quellgrund der höchsten dichterischen Anschauung. Es sind die Zeiten des Lebens, in denen seelenhafter und erdhafter Trieb zum vollkommensten Zusammenklingen gelangen; in der Kindheit vermag sich die Seele ungetrübt auszuleben, aber bald schon wird sie bedrängt von allen Mächten der Erde, und nur in den geistigsten Sekunden des Lebens ist ihr noch Raum zu freiem Wirken gegeben; endlich jedoch klärt sich die Gärung des Lebens, die Sonne ist im Sinken und schon steigt das Gestirn der Ewigkeit empor – da erhebt sich die Seele noch einmal zu reiner Schau. Seelenweckend ist ja immer die Nähe des Ewigen; deshalb gewinnt der Dich333ter höchste Schaukraft aus Todesberührung und dem Geheimnis der Zeugung. In Carossas Gedicht »An einen Schmetterling« ist die wesenerhebende Macht der Todesberührung als allgültiges Gesetz geschaut:

 

Während Sonne sich rings des Waldes Weihrauch entzündet,

Trauerst du, Schmetterling, noch – die bindet eisige Nässe

Dein zu leichtes Gefieder, im Taumel gefährlicher Schwäche

Möchtest du dich der Vernichtung ergeben, – o wache und dulde!

Nahe flammt dein Retter, der Strahl! Ein Weilchen, dann trocknet

Deiner Fittiche seidenes Mehl, und tiefer erwarmend

Als ein andres Geschöpf, an welchem der Tod noch nicht naschte,

Lüftest du dich in den Tag, der deine Seele vollendet.

 

Heiligstes der Geheimnisse aber ist dem Dichter das der Zeugung. Ein Brennpunkt des Weltsinns scheint ihm hier zu sein, wo Leben und Tod, Rausch und Heiliges, Finster und Licht so nahe beieinander sind; seine Weltsendung vereinigt er hier mit der allgemein-menschlichen. In einem seiner schönsten Gedichte hat Carossa dieses Geheimnis in seiner letzten Erfüllung gefeiert.

 

Von Lust zu Lust

 

Liebe fordert letzte Beugung,

Und ich trau dem dunklen Rufe.

Noch im tiefen Graun der Zeugung

Fühl ich Sehnsucht, ahn ich Stufe.

 

Einmal muß ich Welle werden,

Muß im Rausch des Tiers zerfließen.

Erst aus ganz gelösten Erden

Kann der Stern zusammenschießen.

 

Seele rast hinab zum Schoße.

Dort wird sie von Lust verschlungen.

Auf den Geistern liegen große

Glühende Verfinsterungen.

 

334Dann verebnen unsre Schauer,

Und ich darf zur Welt genesen.

Wer gezeugt hat, fällt in Trauer,

Aus der Trauer steigt das Wesen.

 

Diesem stehn die Sphären offen.

Es zieht Leuchtkraft aus dem Trüben.

Mit Pleromas reinsten Stoffen

Wird es neue Zeugung üben.

 

Goldne Schlange, schnell vermodert

An der Wollust nacktem Strande,

fliegt als Vogel, hell umlodert,

Über morgendlichem Lande.

 

Liebend lös' ich mich vom Weibe,

Laß die Freudenflut verrinnen.

Den kristallnen Leib im Leibe

Laß ich langsam Glanz gewinnen.

 

Tief ins Leben hinein greift bei Carossa die Welt seiner Träume. In den beengtesten Zeiten der Jugend ist sie ihm ein Reich unendlicher Freiheit: »Wo aber ein ganz aussichtsloser Zustand eintritt, so daß das liebreich deutende des Lebens in unsere Wachheit keinen Eingang mehr findet, da sucht es sich uns wenigstens im Traum zu nähern.« Die Welt ist von Beginn an dichterisch, jedes Bild wird zum Klang, Rhythmus und Gedicht: »So plastisch nämlich die Vorgänge sich auch abspielten, ich empfand sie doch nicht als Begebenheiten, vielmehr als ein herrliches, in kurzen Strophen leicht hineinklingendes Gedicht, und so tief aus innen kamen Sinn und Melodie des Traumgetöns, daß ich, schon halb erwacht, es noch immer weiter empfing ‌…« Im Kriegstagebuch ist eine Fülle von Traumbildern verzeichnet; wo das Wachen erfüllt ist von grauem und notvollem Alltag, da sind die Träume um so lichtvoller. In den »Geheimnissen des reifen Lebens« gewinnt der Dichter zu dem gewaltigen Stauwerk ein inneres Verhältnis erst im Traum: »unsereinem kommen ja auch solche Dinge erst wahrhaft nahe, wenn man von Ihnen zu träumen beginnt«.335

Verführt durch sein Reimtalent, wollte schon der Knabe sich der Sprache der Dichter bemächtigen; aber die Worte klangen leer und eintönig. Aus diesen fruchtlosen Anfängen ist allmählich die Erkenntnis erwachsen, »daß der heilige Strahl an sich unfruchtbar ist, daß erst in den Brechungen, die er durch das trübe Medium des Lebens erleidet, etwas aufleuchten kann, was möglicherweise Gedicht wird […]« Zu den Klarheiten, die Carossa im Kriege über das eigene Wesen und die eigene Bestimmung gewann, gehörte auch die über den künftigen Weg seines Dichtens: »Als Schreibender, dies war mir nicht unklar, würde ich voraussichtlich immer den Verzweigungen des eigenen Lebens nachgehen; welches andere Medium hätte ich gehabt, um das gemeinsame Schicksal wahrzunehmen? Große Seher und Gestalter dürfen diesen Weg verschmähen; getadelt aber haben ihn stets nur jene, denen ihr eigener Tag nichts Denkwürdiges zutrug. Auf wie vielen und wie fruchtbaren Ebenen sich ein Ich bewährt, nur darauf wird es ankommen, und ein Segen ist es für den Künstlergeist, wenn er sich in eine tiefbewegte Zeit hineinentwickeln muß; nur eine solche kann auch aus ihm das Tiefste herausholen.«

Unsern Blick in niegeahnte Sphären zu lenken, uns das Wesen der Dinge und Menschen aufzuschließen, uns die Urgründe unseres Daseins fühlbar zu machen – das alles ist wohl Beruf des Dichters, der dem blinden Erdgeist Augen gibt; wohl sind uns die Dichtungen »weltliche Auslegungen des ewigen Lichtes«, »Fenster in die Ewigkeit hinaus«, wohl lassen sie uns staunend spüren, »wie frei wir im Grunde sind« – ihre höchste Weltsendung aber ist die Verwandlung der Wesen, zu sein »die Flamme, die aus dem Leben emporschlägt, um es dann selber zu ergreifen, zu läutern und umzuschmelzen«. Die Kraft der Verwandlung ist der letzte Maßstab für die Lebensmacht einer Dichtung. Im »Doktor Bürger« sagt Carossa, daß die größte Verwandlungskraft in der Anschauung liegt. »Wenn uns gegeben wäre, immerdar ein Wesen zu schauen und zu denken, so würden wir uns langsam in dasselbe verwandeln. So glaubten Heilige, und so verbürgt es die Form der Sonnenblume.« Und deshalb verlangt er danach, immer zum Vollkommensten hinzuschauen, um sich allmählich zu diesem hin zu verwandeln. »Wozu das Unvollkommene betrachten? Es hält uns ewig in traurigem Halblicht. Schauen wir frei in die Sonne! Fürchten wir nicht die erste schmerzen336de Blendung des ungebrochenen Strahls, und wir werden einst Gottes echteste Kinder! Wie sich vor Zeiten als matter Hauch auf weißem Schmetterlingsfittich an erstes Farbenaug ankündigte, so wird uns leis das Merkmal des ewigen aufgeprägt.«

Wir haben versucht, das Wesen des Dichterischen, wie es sich im Werke Hans Carossas spiegelt und verwirklicht, zu erkennen. Wir ergründeten als letzte und tiefste Sendung des Dichterischen in der Welt: Verwandlung der Wesen zum vollkommenen hin durch Anschauung. Durch das Wort vermittelt uns der Dichter seine Schau in die Höhen und Tiefen der Welt. »Und so erfüllt er seinen Beruf, indem er uns mit neuen, großen Schauern des Unendlichen beglückt, mit Wachträumen, Deutungen und heldischen Gesichten, die uns wie in kreisenden Spiegeln ahnen lassen, wie herrlich dieser Planet Erde sein kann, sobald ihn das Auge des reinen Geistes beschaut.«

 

Hüte dein altes Geheimnis, o Welt, vor den menschlichen Augen!

Töten würdest du den, dem du zu früh dich verrietest.

Manchmal aber gedenke des Bunds! Gib einem der Unsern

Ein dem unendlichen Sinn ebenbürtiges Herz!

Kurz nachdem ich Carossas »Arzt Gion« zum ersten Mal gelesen hatte, sah ich in der Hamburger Kunsthalle Lovis Corinths Selbstbildnis in der Rüstung. Seitdem tritt mir Carossas geistige Gestalt im Bilde des »Menschen in Rüstung« entgegen, und auch die besten Photographien des ausdrucksstarken Kopfes des Dichters haben dieses »innere Bild« nicht wieder verdrängen können.

In den »Geheimnissen des reifen Lebens« hat Carossa selbst seine geistige Gestalt in einem Bilde darzustellen versucht; als der Künstler in der Porzellanfabrik das große Kachelwerk vollendet hat, erkennt der Dichter in einer der Figuren sich selbst: »Der Maler, der so ahnungsreich in unser Leben blickte, hat mir aber auch die Begegnung mit mir selber nicht erspart. Warum er mir einen altertümlichen grauen Waffenrock anlegte und einen so zur Ferne hin gespannten Gesichtsausdruck 337verlieh, darüber möchte ich wohl einmal unter vier Augen mit ihm reden. Eine flache Landschaft vor meinem Ebenbild ist noch von der Sonne beleuchtet; aber schon fällt ein Schatten herein, und vor diesem fliehen Menschen und Tiere in rasender Angst […]. Mich aber läßt er dem Dunkel und allen, die sich vor ihm retten wollen, stracks entgegengehen – warum? Und warum hat er mir eine Fackel in die Hand gegeben?«

Schutzlos preisgegeben allen Mächten der Welt und der Finsternis mußte Doktor Bürger schließlich erliegen. Als er die Erkenntnis gewann, daß der Mensch nur gerüstet dem Zugriff der feindlichen Kräfte widerstehen kann, ist das zerstörende Gift schon zu tief gedrungen. Doch die Einsichten aus diesem Schicksal geben von da an dem Dichter die Richtung seines Strebens: »… und dann möchte ich meinem Geist einen uneinnehmbaren Turm bauen …« und »wie der Walnußbaum im Bereich seines Atems kein Gewürm und Geziefer aufkommen läßt, so will ich unduldsam gegen jeden sein, der nicht im eigenen Feuer verbrennt«. Der Mensch in Rüstung, das Bild der geistigen Festung haben hier ihre Wurzel.

Im Kriege erst fand dieses neue Lebensgesetz Verwirklichung. Der Mensch, der seinen geistigen Kern durch die Jahre solcher Bedrohung rein bewahrt, wird keinem Zugriff des Dunkels mehr erliegen, ja mehr noch, er gewinnt die Kraft, anderen ihren dunklen Weg zu erhellen und zu beleuchten. Seine innere Welt aber wächst im Schutz der Rüstung nach eigenen Gesetzen zu eigener Gestalt. Als die Front rings bedroht ist von den Ideen der russischen Revolution, wendet sich der Dichter ganz dem Wachstum seiner inneren Gestalt zu: »Die träumerische kleine Welt, die ich zu beleben suchte, wuchs wie ein angebrütetes Ei nach ihren Gesetzen, und je mehr sie wuchs, um so leichter war sie zu tragen. Es ging zart und arglos zu in ihr doch war sie keineswegs empfindlich, und wie ihr der Krieg nicht schadete so schien ihr auch der Flammenatem der Weltempörung gut zu tun.«

Im »Arzt Gion« ist das Bild des Menschen in Rüstung zum Bild der geistigen Festung ausgeweitet. – »Eine Psyche hat jeder heutzutage; Seelen aber gibt es weniger als je, und über diese müssen Stürme kommen.« In diesem kurzen Wort hat Carossa die »innere Situation« der Nachkriegsjahre zusammengefaßt; selten sind die Seelen, die noch Kraft und Willen 338zu eigener Behauptung im Strom der niederziehenden Gewalten haben, und diese werden immer Stürmen ausgesetzt sein. Sammlung und Bewahrung der Kräfte ist darum das Gesetz der Zeit; der Mensch in Rüstung darf nicht allein stehen bleiben, Seelen, die seines Schutzes bedürfen, nimmt er in seinen Kreis, den er abgrenzt und schützt – so entsteht die geistige Festung, die ein Bollwerk des Geistes in feindlicher Zeit ist.

Aus der Masse kommen nicht die Wachstumskräfte der Völker nach schwerem Niedergang; diese wird zum Genuß oder zur Verzweiflung, zur Auflehnung oder zur Kraftlosigkeit, zur Anklage oder zum Fluch getrieben. Nur wenige erkennen die »Vorteile der Niederlage«, und das sind die »besonnen-tätigen Geister«; während die Masse laut ist, während Demagogen »der Menschheit vorschreiben, wie sie sich von nun an zu entwickeln habe, bereiten jene still die Zukunft vor«. Sie haben die unmittelbare Nähe des Untergangs lebendig gespürt und dadurch eine neue Freiheit allem Bestehenden gegenüber gewonnen. Das Ahnen einer neuen Verantwortlichkeit ist in Ihnen, einer Verantwortlichkeit unmittelbar vor Gott, den sie nahe fühlen, da »der Gewitterwind der Weltgerichte« ihre Stirnen streift. Frei von allen Bindungen an die Masse werden sie durch diese Gottnähe; es ist Ihnen, »als wären sie die letzten Menschen und müßten das Leben, gleich einer beschädigten Leihgabe, in möglichst wiederhergestellter Form dem Schöpfer zurückliefern«. »Verwirklichen wollen sie, was ihnen die innere Stimme rät, wärs auch das kleinste Ding« – das ist der Weg, auf dem sie zu großen Neuschaffungen gelangen wollen, nicht der Weg der lauten Worte und großen Gesten, sondern der Verwirklichung im kleinsten Bereich. Denn auch für sie ist ja Alltag, doch nicht der graue und sinnentleerte der Masse, sondern in ihm erscheint ihnen noch »die höhere Welt«.

Von diesem Zeitgrunde erhebt sich das Bild der Festung und des geistigen Reiches. »Das geistige Sein eines tätigen, bewußten Mannes in dieser Zeit, was ist es anderes als eine belagerte Festung, die er mit aller Umsicht, Sparsamkeit, Ausfallbereitschaft zu halten hat gegen einen immer vorhandenen, oft schwer erkennbaren, oft mit dem eigenen Blute verbündeten Feind? Je mehr aber solche Festungen stehen, um so besser für das Ganze! Ist von einer großen Fläche des menschlichen Leibes die Haut abgeschunden, wie ersetzen wir den Verlust? Etwa dadurch, daß 339wir ihn mit einem gleichgroßen Lappen fremder gesunder Haut überdecken? O nein! Dieser würde nicht anwachsen, sondern verfaulen und seine Fäulnis auf das Blut übertragen. Viele ganz kleine, ganz dünne Fleckchen nur streuen wir da und dort auf und befestigen sie; von diesen heilen die meisten an, bald verbreitern sie sich und senden strahlenartig Zellenzüge aus, die sich ineinander verweben; so stellt sich von lauter kleinen Inseln aus das Ganze wieder her. Auf ähnliche Weise dienen jene vielen kleinen Festungen der Seele dem ganzen Reich, auch wenn sie einander nicht kennen; der heilige Geist der Menschheit weiß von ihnen und bedient sich ihrer wie er will.«

Die Verwirklichung einer solchen kleinen Zelle des werdenden Reiches des Geistes vollzieht sich im »Arzt Gion«. Gion, einer der Menschen, die wirklich nie völlig abgerüstet haben, die Soldat geblieben sind, zieht seinen schützenden Kreis um eine kleine Gruppe von Menschen; um die Künstlerin Cynthia, die Magd Emerenz, den Knaben Toni und den Kriegsinvaliden. Wie er in diesem Kreis Werke der Seelenheilung vollbringt, haben wir früher schon eingehend betrachtet, diesmal geht es uns um Werden, Bestand, Wirken und Bedeutung dieses Lebenskreises. Nicht die Notwendigkeit des Daseins hat diese Menschen zusammengeführt, einem stillen Gebot des Herzens scheinen sie zu folgen, der »heilige Geist der Menschheit« scheint sie zu lenken, um sich einmal ihrer zu bedienen. Kraft des Eros führt Arzt und Künstlerin zueinander, und wie bei bestimmten chemischen Verbindungen ein scheinbar unbeteiligter Stoff gegenwärtig sein muß, um die Elemente zueinander zu führen, so ist auch der »tumpe, unbeschädigte Knabe« Toni ein seelennotwendiger Mitgründer der Festung. »Diese drei bürgen für alle andern; wenn sie ihr Wesen verwirklichen, dann ist unser kleiner Bereich uneinnehmbar ‌…«, sagt Gion. Er, der Mann, aber muß das Gesetz des Kampfes zu jeder Zeit erfüllen. In der Nacht, in der Cynthia der endgültigen Genesung entgegenschläft, greift nach ihm das Dunkel, um ihn zur Aufgabe seines Lebenssinnes zu verlocken; diese niederziehenden Mächte sind in der Gestalt der Diorna verkörpert, die Gion in der Nacht der Entscheidung begegnet. Gion erkennt klar den Unterschied zwischen den beiden Frauen, er weiß, daß er sich nur zu einer entscheiden kann, weil sie zwei entgegengesetzten Welten angehören. »… ein Leib, der von uns Rettung erhofft, ist etwas anderes als einer, der nur 340auf Umarmung wartet ‌…« So muß er die Dunkle von der Peripherie seines Lebenskreises abweisen: »Wenn der Kreis, in dem ich lebe, nur ein klein wenig anders wäre, so müßte ich dir unbedingt recht geben ‌…«

Man würde den Sinn der Lebensform in der Rüstung und in der Festung, wie sie Carossa uns darstellt, verkennen, wenn man sie als Absonderung von dem allgemeinen Geschick des Volkes ansehen wollte. Wäre Carossa nur Denker, so würde er vielleicht ein Ausnahmeschicksal für sich gewünscht haben; der Dichter aber ist immer der Gemeinschaft zugewandt, sein Lebenssinn ist Verkündung und Verwandlung. Doch muß er sich hüten, in der Erfüllung dieses Lebenssinnes der Masse zu verfallen, denn als Seher und Mahner, als Erwecker und geistiger Führer muß er immer über ihr stehen, allzeit dem Göttlichen näher als dem Erdhaften. »Die große gottglühende Morgenzeit, wo ein Pindar Hunderte von Hymnen aus der griechischen Seele hervorsang, die ist vorüber; und als Hölderlin unter Deutschen etwas Verwandtes begann, wurde er mit Wahnsinn geschlagen. Von wenigen Freunden begleitet, geht heute der Dichter durch überwache Tage und Nächte; es gibt kein Zwielicht mehr, das seinen Traum beschützt, überall stellen ihm Geister nach, die ihn übersteigern, ihn aus einem Hellseher zum Grellseher machen möchten. Er bedarf nicht nur einer heroischen Geduld, sondern auch einer heiligen List, um das Gebot seiner Seele zu erfüllen, und es könnte dazu kommen, daß er mit einer Geheimsprache beginnen muß, um nicht zu früh erkannt zu werden.«

Als Carossa aus dem Krieg heimkehrte, hatte er die Erkenntnis gewonnen, daß der Dichter Erfüllung seiner Sendung nur im Wirken an der Gemeinschaft des Volkes findet, ja daß er gerade in den Zeiten des Niederbruchs dieser Gemeinschaft am tiefsten verpflichtet ist. »In den Jahren der Prüfung und Erniedrigung, wenn das Volk trauernd zur Erde schaut, wird ihm der Dichter stets am allernächsten sein. Flammenzeichen und heilige Bildtafeln reiht er an den steilen Straßen auf; große Weissagungen der Urzeit beschwört er. Jedem echten Gründer und Beweger fühlt er sich verbündet; aber die Streite, die er in sich auszutragen hat, gehören sehr oft einer anderen Sphäre an als die Kämpfe der irdischen Gewalten. Es kann wohl einmal sein, daß die beiden Ebenen zusammenfallen und der allgemeine Sieg auch zu dem seinigen wird. Ist aber dies geschehen, so wird er erst fühlen, wie sehr er dennoch ein Ein341samer bleibt, und mehr als jemals muß er auf die Seelen derer achten, die zum Schweigen und Entsagen verwiesen sind.«

In der Niederlage sehnt sich das Volk nach den lichtverheißenden Verkündigungen der Dichter, die Fackel in seiner Hand wird denen, die der Schatten ereilt hat, Hoffnung und Wegweisung, die alles verloren haben, was irdischen Wert besitzt, schauen nach höherem Besitz aus. Diesen allen ist der Dichter nahe, ihr Sehen kommt seiner Sendung entgegen. Die Siege der Welt aber sind häufig seine Niederlagen:

 

Wenn im Erfüllungsjubel sich das Volk vereint,

Wenn jeder pflückt vom Lorbeer und sich selbst bekränzt,

Wird uns der Hort am ehesten aus der Hand gespielt.

[…]

Drum senke du den Sinn zum alten Quellengrund

und binde Nesseln um die Stirn am Freudentag!

(An das Ungeborene) 

 

Nicht eine Welt, die sich erfüllt und vollendet glaubt, sucht der Dichter; er wünscht: »Möchte es doch eine noch verwandelbare Welt sein und könnte ich sie aus meinem reifen Traum heraus erneuern!« Je verwandelbarer sich die Gemeinschaft erweist, in der der Dichter wirkt, um so bereitwilliger und freudiger wird er seine Kraft einsetzen.

So ist das Leben der »besonnen-tätigen Geister« in der Zeit, wie es im Werk Carossas gesehen ist: Kampf ist ihr Daseinsgesetz, niemals dürfen sie abrüsten, ihr Lebenskreis gleicht der Festung; kein Sieg bedeutet für sie Erfüllung und Ruhe, und das höchste Glück der Völker ist ihnen Ruf zu äußerster Wachsamkeit. Und doch sind Rüstung und Festung das Letzte nicht, ihr Sinn weist über sich selbst hinaus zu einem Größeren hin; Stufe und Weg nur sollen sie sein, einmal muß sich aus allen Kreisen und Grenzen, aus allen Einzeleroberungen ein Ganzes erheben, das alle Träume und alles Sehnen nach unendlicher Freiheit erfüllt. Der Dichter weiß, daß diese Erfüllung im irdischen Raum nicht möglich ist; deshalb glaubt er, daß wir auf eine höhere Welt der Vollendungen zuwachsen. In dem Gedicht »Stella mystica« hat Carossa ein Traumbild vom Übergang in jenes ewige Reich gegeben:

 

342Oh, wie wird dir sein,

Schwester, wenn unser Morgen sich erfüllt,

Wenn das Gefild, um das wir freudig litten,

Vor uns aufgraut in österlicher Kühle,

Wenn unsre Brüder, die geläuterten,

Die stillen, seelenglühenden Pilger alle

Dem Frührot unsrer Überkunft frohlocken!

Von harten Lippen grüßt das neue Lied,

Das uns verwandelt! Was wir dann noch schauen,

Hoch überm bunten Trugnetz aller Scheine,

Glänzt uns mit Urglanz an, –

Die Sehnsucht schweigt, ins Ewige gerettet,

Doch wo sie klang, da gärt aufkreisende Welt!

Finsternisse fallen dichter

Auf Gebirge, Stadt und Tal.

Doch schon flimmern kleine Lichter

Tief aus Fenstern ohne Zahl.

 

Immer klarer, immer milder,

Längs des Stroms gebognem Lauf,

Blinken irdische Sternenbilder

Nun zu himmlischen hinauf.

 

Himmel und Erde grüßen sich in diesem Bilde geschwisterlich, keine Spaltung trennt die Welten, in innigem Einvernehmen steht das ganze All. In schlichten Worten ist hier eine Schau von kosmischer Weite geöffnet; nirgends scheint eine Grenze gesetzt, läßt sich ein Ende ahnen – vom schwachen Licht irdischer Fenster blickt das Auge bis zum Glanz der Sterne, und von da lockt das Bild in weitere Tiefen, die uns kein Sinn mehr erschließen kann, die nur das Ahnen der Seele erspürt, bis an die Grenzen der Ewigkeit. –

Auf dem Schild, den Hephaistos für Achilles fertigt, hat Homer die 343Mitte seiner Welt im Bilde dargestellt; Vergil ist diesem Vorbild gefolgt in der Darstellung des Schildes, den Vulkan für Äneas schmiedet. Der griechische Sänger gibt in seinen Bildern einen Spiegel des menschlichen Lebens, der römische Nationaldichter faßt die Geschichte seines Volkes zu einem gewaltigen Vor-Bilde zusammen. Was macht der Dichter unserer Zeit zur Mitte seiner Welt? Die Zeit der Schilde ist versunken; die Kachel-Wandbekleidung eines modernen Ozeandampfers wird bei Carossa zum Träger des Schaubildes. Unendlich geweitet ist hier der Blick; nicht der Einzelmensch, auch nicht das Einzelvolk ist hier Mitte der Welt, das Bild umspannt das ganze All zu einer gewaltigen Einheit, ein »wahres Weltbilderbuch« nennt es der Dichter, Berge und Meere, Gewalten und Schicksale, das Mühen einer ganzen Menschheit, Pflanzen und Sterne umspannt der Blick. Über dem Ganzen aber schwebt ein Luftschiff, in dessen Gondel, auf der Wurzel eines Weinstockes liegend, ein Kind schläft; und »man weiß auf einmal: diese ganze halb sichtbare, halb unsichtbare Welt samt Himmel und Erde, dies alles ist nur ein Traum des im Schlafe lächelnden Kindes«.

So ist also die Welthaltung des Dichters: Das All – der Traum eines im Schlafe lächelnden Kindes. Alles, was uns Carossa von der Hingegebenheit des Kindes an die lebendige und die leblose Schöpfung in seinen Erinnerungen aufgezeichnet hat, gewinnt von hier neuen und tiefsten Sinn; jenes Einssein mit allem rings Gegebenen, das der Dichter sich ersehnt, in der Kindheit hat er es besessen, und aus der Erneuerung der kindhaften Haltung kann er es wiedergewinnen. Carossas Weltbild trägt die Züge solch kindhaften Schauens und Träumens. Da besteht kein Bruch zwischen Mensch und Welt, noch hat sich der »allgemeinsame Weltstoff« nicht gefährlich vom Menschen fortgewandelt. »Ich, mit welchem Entzücken empfand ich in meinen klarsten Stunden, daß wir Stoff sind wie jeder schönste Stern! Und dann freute ich mich der Gestirne und des Todes.« – »Die bange dämonische Freude, die wir an einfachsten irdischen Stoffen, Mineralien, Metallen und dergleichen empfinden, sollte sie am Ende daher entspringen, daß wir selbst aus solchen Kräften bestehen und heimlich, ohne es zu wissen, immerfort wünschen, wieder in sie zu zerfallen?« (Doktor Bürger) Doch ist diese stoffliche Einheit noch nicht das Letzte; in dem Gedicht »Erlebnis« schildert der Dichter, wie ihm bei einem Waldspaziergang vor der Seltsamkeit 344eines Farnkrauttriebs das tiefe Gefühl einer höheren, geistigen Verbundenheit mit den Wesen aufbricht:

 

Draußen lockts aus hellen Weiten,

Doch gebannt mußt du dich bücken,

Diesen Irrwuchs dir zu deuten, –

Da erkennst du zum Entzücken

 

Klar, wie hier ein neues Leben

Seiner Unform sich entwindet,

Eines Farnstocks Trieb, der eben

Leis den künftigen Fittich kündet.

 

Und du fühlst, wie du auf Erden

Kaum als Kind so warm empfunden,

Fühlst ein fremdes, niedres Werden

Dir ganz nah, dir blutverbunden.

 

Schuppen fallen von dir nieder,

Du begreifst den Muttergeist,

Der den dumpfsten deiner Brüder

Heilig wie dich selbst durchkreist.

 

Und du stehst, und all dein Schauen

Kehrt in stolze Demut sich,

Ein unendliches Vertrauen,

Erdensohn, durchschüttert dich.

 

Die Einheit des Menschen mit der Schöpfung erfüllt sich in seiner Unterordnung unter das allbeherrschende Gesetz. Nur von diesem Gedanken her können wir Carossas »Sternglauben« verstehen. Wohl sieht er in der ewigen Ordnung des Kosmos ein Symbol der Gesetzlichkeit, die über dem All steht und der jedes Wirken unterworfen ist; der Mensch aber, das einzig frei-willige Geschöpf, steht nicht blind und gefesselt unter dieser Ordnung. Und das ist nun der »Sternglaube« Carossas: Alles hohe, sinnerfüllte, heiligende Wirken geschieht nur im 345Einklang mit der Ordnung des Alls, nur im Sich-Bekennen zu seiner Gesetzlichkeit. Im Kriegstagebuch hat dieser Gedanke Ausdruck gefunden: »Im Grunde fühlt wohl jeder einen Sinn in sich, der mit und über allen Planeten weiß und wirkt. Bleiben wir im engsten Kreise wachsam! Wenn einer vom eigenen Mittelpunkt aus das Nächste, Notwendige erkennt und löst, wie kann ein wandelnder Stern gegen ihn sein? Er hat sich dem Geist aller Sonnen verbunden, immer dient er den Gängen des ewigen Spiels.«

In der Richtung dieses Gedankens wird dem Dichter die Sonne zur Mitte des Weltsinns. Ihr Wirken ist unter allen Gestirnen das erhabenste, lebenerweckende, kraftspendende und erhellende; zu ihrem Gesetz sich bekennen, heißt Gewaltiges auf sich nehmen, heißt am Werk der Erhellung, der Lebenweckung und Kraftspendung teilhaben. Der Dichter wagt dieses Bekenntnis, im »Gesang zur Sonne« gibt er sich ganz dem Gestirn hin, fühlt sich übermächtig getroffen von der Gewalt des Strahls, daß ihn Furcht erfüllt:

 

Sieh, mich ängstigt,

Daß ich dein bin!

 

und er zuletzt ausruft:

 

Sinke, sinke,

Sonnen-Seele!

Hast geleuchtet.

Ruh in uns nun!

 

Höchste Einung mit dem Sinn der Sonne vollzieht der Mensch im Schlaf der Zeugung. »… was die weisesten Erkenntnisse, die genauesten Berechnungen, die heiligsten Psalmen, die überzeugendsten Reden, die beschwörendsten Zaubersprüche nicht vermögen, – seinem tierblinden Rausche gelingt es: durch ihn tritt eine neue Seele in die Welt.« Das Geheimnis der Zeugung ist die wahre Mitte der Welt Carossas, ein Brennpunkt des Sinnes unseres Seins. Die heiligste Macht, die dem Menschen gegeben ist, setzt er hier ein, gelangt zu einer letzten Einheit seines Wesens, erfüllt die höchste Aufgabe, die den besonnen-tätigen Geistern 346in der Zeit gestellt ist, die Vergangenheit mit der Zukunft zu verknüpfen.

Wir stellen die Frage, ob Gott im Bild des Alls bei Carossa noch einen Platz habe. Daß es jenseits alles Stofflichen noch eine »höhere Welt« gibt, die keinem Gesetz und Gebot des Stoffes untertan ist, haben wir als tragende Überzeugung in Carossas Bekenntnissen ergründet. Daß der Mensch etwas Ewiges in sich trägt, das nicht der irdischen Welt angehört, das von ihr nur »übernommen« wird und das sie einmal »weitergibt«, ist ihm stärkste Gewißheit. Der Name Gottes aber fällt selten in seinem Werk, wohl aber begegnete uns das Wort »Gott-Natur«; dieses Wort, das der Schlüssel zu der Religiosität Goethes ist, scheint mir auch bei Carossa entscheidend für die Erkenntnis seines Gottglaubens. Dem Dichter, dessen Zugang zu allem Sein die Anschauung ist, wird ein Gott, der nur in Begriffen faßbar ist, immer fremd bleiben. Denn ihm ist das Göttliche nicht »fest verhaftet, weder an Tempel noch Namen«.

Die Welt Carossas ist nicht beschlossen im Stofflichen oder Menschlichen, überall weist sie darüber hinaus auf etwas Ewiges und Unsagbares hin. So hat auch Gott Raum, ja Notwendigkeit in dieser Welt; freilich wird sich dem Dichter durch die Anschauung niemals ein Gottesbild von begrifflicher Klarheit erschließen, nur den Gott, der durch seine Gegenwart, seine Tätigkeit und seine Ebenbildlichkeit immer mit der Schöpfung verbunden bleibt, vermag auch das Dichterauge zu erahnen. Carossa ist aus einer tief-christlichen Welt emporgewachsen und nirgends ist zu erkennen, daß er mit ihr gebrochen habe; in den »Verwandlungen einer Jugend« hat er ein klares und starkes Bekenntnis zu Christus abgelegt, der »großen Sonne«, die keinem abhanden kommt, »den sein Strahl einmal durchleuchtet hat«.

Wenn auch Carossa selbst in den Jugenderinnerungen berichtet, wie er langsam der »ehrwürdigen Norm« der Kirche entwachsen ist, so klingt in den Worten nicht der Ton gesicherten Gewinnens. In jedem seiner Bücher schildert er uns Menschen, deren Seelen unter der Formkraft der Kirche zu edelster Reife und Vollendung gewachsen sind. Die Gestalt des priesterlichen Präfekten des Internats erwähnten wir schon im ersten Abschnitt, im »Arzt Gion« ist es Schwester Alruna, deren »überirdisch verpflichtetes Wesen« wie ein »guter Isolator« zwischen 347den Arzt und jene Kranken tritt, die ihm die »Unruhe ihres Blutes« übertragen wollen; in »Führung und Geleit« berichtet Carossa von der »höchst notwendigen Hilfe geistiger Natur«, die er von dem Feldgeistlichen Pater Rupert Mayer empfing, als er unter den Wirkungen des Feldzuges sehr zu leiden hatte. Carossa gibt ein eindringliches Bild dieser starken Persönlichkeit: »Was aber sein Gesicht betraf, so wäre es nicht nur hier in der einförmigen Landschaft, sondern auch in jeder Versammlung vieler Menschen durch seine Entschiedenheit aufgefallen. Es war im Frühlicht gelblichbleich, schmal, scharf, die grauen Augen tiefliegend, nicht ohne Spuren von Müdigkeit, die ganze Erscheinung aber so voll Zucht und Würde, so belebt von einem guten Willen, dazu so heiter und biegsam, daß körperliche Anspannungen da wohl nicht so leicht aufkommen konnten ‌… Hier nun hatte sich eine Verbindung von Priester- und Soldatentum ergeben, die mir in so geistig-natürlicher Form durchaus neu war. Man fühlt einen Menschen, dem es nicht mehr schwer sein konnte, auch die härtesten Gelöbnisse zu halten. Auch wenn mein Begleiter es nicht erwähnt hätte, daß dieser Pater Rupert Mayer dem Orden der Gesellschaft Jesu angehöre, wäre mir Ignatius von Loyola in den Sinn gekommen ‌… Dem Infanteristen ging das Herz weit auf, als er Näheres von dem geistlichen Herrn berichtete. Dieser sei ziemlich leidend, gehe aber in kein Lazarett, schone sich überhaupt in keiner Weise, nehme jede Mühe gern auf sich, und man müsse sich nur wundern, daß er noch lebe. In den Kämpfen an der Somme habe er sich mehr als die Mannschaft selber der Gefahr ausgesetzt, auch beim Einschlagen schwerster Geschosse auf Deckung verzichtet und wie ein Unverwundbarer überall die Sterbenden aufgesucht und getröstet.« Carossa bekämpft die Beschwerden, die als Folgen der Überanstrengungen bei ihm auftreten, zunächst mit Betäubungsgiften; dann aber kommt ihm von der Persönlichkeit des Priester-Soldaten eine stärkere, geistige Hilfe. »Auf die Dauer war es ohne Zweifel wirksamer, mit aller Kraft an den ernsten stillen Priester zu denken, der nach allem, was man von ihm hörte, weit Ärgeres erduldet hatte, ohne seine Leistung nur um einen Grad herabzusetzen. An sein Vorbild klammerte sich meine Verzweiflung; ich zwang es gewissermaßen, mir Kräfte aus dem Unsichtbaren zuzuwenden, und so überstand ich immer wieder den Tag oder die Nacht ‌… Oft, wenn ich mich mit Solda348ten unterhielt, streifte mich sein Geist, und ich mußte mir sagen, daß in dem Truppenkörper, dem wir angehörten, ohne ihn gar manches weniger erfreulich gewesen wäre.« Carossa, der Feldarzt, wird eines Tages zu dem schwerverwundeten Pater gerufen. »Seltsamerweise war das erste, was mir bei dieser Botschaft einfiel, das zerschmetterte Bein des heiligen Ignatius von Loyola.« – »Das Lächeln, womit er uns grüßte, war deutlich und gegenwärtig, kam keineswegs aus dem Nichts herüber und gab uns erst den rechten Mut zur Hilfe ‌… Was er vorbrachte, war weder Wunsch noch Klage; er entschuldigte sich nur wegen seines ewigen Ächzens und Stöhnens, von dem wir übrigens nichts bemerkt hatten. Die fast lautlose Stimme verriet keinen Schmerz, keine Angst; eher schien ein heimlicher Jubel dahinter zu schwingen, und man hätte sich geschämt, ihn zu bemitleiden. Der Mann, der da in seinem Blute lag, behielt ja mitten im jammervollsten Zustand noch den Ausdruck einer ungemeinen Überlegenheit über sich selbst. In seinem Dasein, dies fühlte man, war etwas Planmäßiges, auch das gegenwärtige Unheil sicherlich seit langem als Möglichkeit in Rechnung gezogen, und gewiß nicht auf der Seite der Verluste. Der Unterschied zwischen einem Menschen, der noch mit wildem Drang im Leben haftet, und dem Entsagenden, der seine Triebe ins Geistige hinüberwandelt, war mir nie deutlicher gewesen.«

Der Dichter bleibt, auch wenn er von so geistigen Gegebenheiten wie den religiösen spricht, immer auf seine spezifische Erkenntnisform der Anschauung angewiesen. Religiöse Wirklichkeiten offenbaren sich ihm nicht in Begriffen oder Gedankenschlüssen, sondern in ihrer lebendigen Spiegelung an Gestalten und Geschehen. Was Carossa in der Schilderung der Persönlichkeit des Feldgeistlichen gibt, ist, wenn man es aus dem Bildlich-Anschaulichen ins Begriffliche hinüberwandeln würde, die christliche Haltung in der Welt.

Wenn wir von diesem Gedanken aus die Frage beantworten suchen, ob es eine Gotterkenntnis durch die dichterische Anschauung geben könne, so müssen wir sagen: Wenn alles Geschaffene ein Spiegel und Bild des Schöpfers ist, so muß die Anschauung des Dichters in diesem Bild durchaus bis zur Gottesidee vordringen können, freilich nicht zu dem Gott, der »von außen stößt,« sondern zu dem Gott, der »mit seiner Schöpfung verbunden bleibt durch seine Gegenwart und Tätigkeit.« So 349schließt sich dem Dichter Welt und Überwelt in einer einzigen Schau zusammen,

 

Dort und Hier, sind sie nicht Eins im Geist?

         (Die Flucht)

»Die Zeiten abseitigen Wandelns, man sagt es uns, gehen zu Ende. Entzündet wird aller Orten der Eine Sinn, kein Lichtlein soll dem Lichte fehlen, kurze Wege werden gebaut von Natur zu Natur, einsame Gesichte sogleich im gemeinsamen Geiste mitgeschaut und gedeutet. Verrufen sind Zauberworte, die Dämonen leiden Gewalt ‌… So klingt die Kunde. Wir aber, Söhne des Zwielichtes, dienen der Nacht wie dem Tage treu. Wie das Gebäude des kommenden Geistes aussehen, wie hoch es sich erheben und wer es vollenden wird, weiß niemand. Wir selbst werden es nicht mehr betreten dürfen; wären wir aber noch Knaben, wir nähmen unser funkelndes Granitstück, trügen es in der Dunkelheit auf den Bauplatz und vergrüben es heimlich unter dem Grundstein: was könnte es den Mauern schaden?«

Zwischen Gestern und Morgen steht der Dichter, in gleicher Weise verpflichtet der Vergangenheit wie der Zukunft. Von jener empfängt er das beständigste Erbe und hat es zu bewähren, für diese aber bereitet er die großen Inhalte und Weisungen. – Im Kriege hatte Carossa erkannt, daß der Sinn dieses gewaltigen Geschehens der Dienst an der Zukunft sei; und auch die Erfüllung der eigenen dichterischen Sendung konnte in verschatteter Zeit nur im Dienen am Werden des Neuen sich vollziehen. Glavinas Gesänge sind zukunftgerichtet, teils sind sie mahnend und teils seherisch:

 

… Wer aber heimkehrt, halte Bereitschaft! Jeden mit anderer Stimme ruft Gott. Ein gerader Wandel ist euer, ein langer Werktag, selten ein Fest, selten ein feiernd Lied. Schlummert wachsam, wie die Gemse schläft!
… Der Geist wird stehn vor der Tür seines eigenen Hauses und nicht heimfinden.
350… Der du heimkehrst, halte Bereitschaft! Wirf ab die kleinen Träume! Stifte klares Vergessen! Segne dich ein in dein eigenes Gebot ‌… Selig, wer Flügel regt mitten in Zeiten-Gruft! Heil schöpft er aus Unheil!
… Sonne, die große Seele, weiß nichts von Auf- und Untergang, brennt sie nicht in uns? Geschieht nicht stündlich fern und nah beherzte Liebestat? Das Innig-Ewige, wehts über Meere nicht, von Stirn zu Stirn als wie ein Hauch? Und sinds die zarten Hauche nicht, aus denen Gott-Sturm wächst?
… Vermorscht sind schon die Leichen am Berge Kishavas, verrostet unsere Waffen, vergessen unser Kranz, da freuen Menschen sich wieder unschuldig des Brotes und Weines, die uns verbittert sind. Aus wildem Ahnendrang ist lockere Krume bereitet, die Seele frei zu nie gewagtem Opfer. Aus erschüttertem Blut steigen kühne Beginner, und die Satzungen sind Gesang.

 

Nicht immer erhebt sich das Sehertum des Dichters zu solch anstürmenden Visionen und lichthellen Offenbarungen, wie in den Gesängen Glavinas verkündet sind; viel häufiger ist es, daß sich im stillen Tag unter der Hülle des Gegenwärtigen das Zukünftige erhebt, nur dem Auge des Dichters sichtbar. In den »Geheimnissen des reifen Lebens« begegnet Angermann einer Jungenschar, die mit fröhlichem Mut der Zukunft entgegenzieht. »Unsere Kindheit war geschontes Wachstum gewesen; die ihrige ist ewiger Aufbruch. Ein unsichtbarer Wille schnellt sie hin und her zwischen Strom und Gebirg; sie träumen den Kampf. Gerade wir friedlich Erzogene aber mußten später der schallenden Sturmglocke folgen, und unser Hunderttausende kehrten nicht zurück. Wird auch sie das wilde Geläute rufen? Was dann käme, wäre vermutlich ein Ganzes, der klare Sieg oder der klare Untergang. Sollte man aber nicht an einen gesetzmäßigen Rhythmus der Geschichte glauben, an ein großes Aus- und Einatmen der Kräfte? Dann dürfte uns heute kaum etwas näher sein als eine tiefe Selbstbesinnung der Völker. Es könnten für die gesamte Menschheit neue, sehr mühsame Aufgaben kommen, die viel zu gewaltig wären, um noch Kriege zuzulassen; ein neues Wissen um den Sinn der Erde könnte aufleuchten, das auch den glühend erregten Mut dieser Knaben in sich verwendete ‌… Wie es auch komme, die vorbereitende Schule der Überwindungen ist gut. Sich einordnen, zusammenhalten, wohlfeile Genüsse verachten, auf gefährlichstem Weg über Gipfel und Schluchten dem Unendlichen zueilen ‌… Ihr horcht ins eigene Herz hinein und hört in hellen und in dunklen Tönen den Weltgeist 351brausen, den ewigen Verbündeten des Todes, den eure Gesänge rühmen. Früher oder später aber sondert sich ein eigener Klang; wer ihn vernimmt, wird erfahren, was die Erde von ihm will. Ab und zu ein Seltener wird Adler sein und sich für immer von der Niederung der Scholle lösen; ein solcher bedarf keiner Weisung. Die anderen aber müssen einen stillen vertraulichen Auftrag von den Ahnen haben, um leben zu können. Jeder noch so frische Ansturm der Jugend würde ja im Leeren enden, wenn er am Traum der Abgeschiedenen vorüberliefe. Wo es gilt, Fäden wieder aufzunehmen, die den Händen ermüdeter Väter entfielen, wo es auf lange Bemühungen ankommt, wo demütige Tagwerke um ein fest Gegründetes kreisen, wo die Geltung der Urgesetze bedroht ist, da gibt es Pflicht und Einsatz genug, da ist jedem sein eigenster Weg in die Unendlichkeiten des Lebens bereit.

Bewahre sich jeder tief innen eine strengumschwiegene Zelle! Da mögen aus Leiden und Glück die Gedanken erwachsen, die das Nährsalz der Zukunft sind, auch wenn sie niemals aufgeschrieben werden! Einstweilen, Kinder, haltet euch getrost in euren Bünden und macht es euch schwer! Mit ruhiger Treue wirken die Jahre für den Geduldigen, und aus den Versonnenheiten vieler Seelen dringen Ton und Farbenglanz in die Gemeinschaft ein. Ohne es zu wissen, werdet ihr in allen Zonen Freunde haben und, was euch zugehört, in einer Weltstunde gewaltlos empfangen. Denn die geistgeweihte Jugend aller Völker wird einstens nur noch einen Feind bekämpfen, den alten Dämon der Schwere, der zur Lüge rät. Selig, wer da überwindet West und Ost, Süd und Nord stehen ihm über alle Grenzen hin unendlich offen. Für uns aber wird es dann freidig sein, zu entschlafen in der Heimat und bestattet zu werden von euch.«

Die tiefste Verpflichtung an die Zukunft aber nimmt der Mensch auf sich durch die Erweckung neuen Lebens. Nun spricht der Dichter nicht mehr ins Leere, Weisungen und Mahnungen sind jetzt der Seele zugedacht, die ans Licht drängt. In dem Gesang »An das Ungeborene« am Schluß der »Geheimnisse des reifen Lebens« hat der Dichter dem werdenden Wesen seine Bahn in der Zeit leuchtend vorgezeichnet:

 

O ungebornes Liebes, weltlos ruhend!

Nun sollst auch du den irdischen Strahl durcheilen.

Einsamen Mann, einsames Weib, wer lenkte sie

352zusammen? Du. So kommst in unsere Menschenzeit.

Urwissen ist in dir, und nicht belehr ich dich;

nur sinnen möchte ich, wie du's vielleicht bewahren kannst

im Hiersein, ich, dein Vater. Vertraut sind mir

die Hochgewitter der Welt und ihre Windstillen,

und beides bin ich, Pfleger und Vernichter,

und muß den Keim zu beidem in dich senken.

[…]

und weil die stärkste Mauer keinen wahrhaft schützt,

so bau ich dir kein Haus, und wäre ich ein Gott,

ich nähme auch keinem der Geschöpfe einen Eid ab,

dich unversehrt zu lassen.

[…]

so wirst du nichts vermissen, bist ja doch mein Kind,

gehst auf der Erde trüb und froh, blühst und verwelkst,

verehrst, was alle ehren, strafst, was jeder straft,

und liebst und wirst geliebt.

Wohnt aber in dir der Wünschelsinn, der schmerzlich zuckt

wo sich ein Quell verbirgt, so werden wir uns wohl

manchmal begegnen, und es ist ein herberes Glück

dir zugesondert. Kommen wird ein Pilgertag,

da hält es heimlich deinen Fuß, und du erschrickst.

Hier sieh dich um! Wo uns die tiefste Furcht umfängt,

ist oft ganz nah der Eingang in ein Seelenreich.

Was in dir ewig ist, auf einmal schauts dich an.

Und wenn es leise raunt und rät, so horch! Du lernst

die Sprache der Dahingegangenen verstehn.

An ihr prüft man die Stimmen der Lebendigen.

In deinem Blut ist nun ein Klang, der immer dich

aus falsch gemischtem Leben in ein reineres weist.

Was könnte dich noch ernstlich jetzt verstören, Kind?

Wer dich erniedrigen?

[…]

Erduld es, daß die Geister dich vereinsamen!

Oft weiss der Ungesellige ein heilsam Wort

in leidender Zeit, wo keiner ganz dem andern glaubt,

353und steht in starkem heldischen Licht, ob auch kein Held,

und bleibt nur am Triumphtag unsichtbar.

[…]

Wenn im Erfüllungsjubel sich das Volk vereint,

wenn jeder pflückt vom Lorbeer und sich selbst bekränzt,

wird uns der Hort am ehesten aus der Hand gespielt.

[…]

Drum senke du den Sinn zum alten Quellengrund

und binde Nesseln um die Stirn am Freudentag!

Sei trunken unter Nüchternen, unter Zornigen sanft!

Der Mann, den alle schlagen, den schlägst du nicht;

so bleiben dir die Hände frei für künftiges Tun.

Und wenn du Striche findest, Steinen eingeritzt

im Straßenstaub, Unzählige treten drüber hin,

und keiner weiß mehr, daß es heilige Runen sind, –

zu großem Zeichen waren sie verbunden einst;

nun aber haben alle den Gesang verlernt,

der jenem Zeichen wundermächtiges Leben lieh, –

so zeige keine Tränen! Sammle Fund um Fund

Und weihe sie dem Reich der Mütter still zurück!

Dort mag Verlassenes neuer Form entgegenruhn,

bis einmal wieder eine Jugend von ihm träumt.

Verwahren und Verhehlen kann zur Wende-Zeit

ein frommer Dienst sein. Keiner ist für ihn zu schwach.355