»Der Unterzeichnete hat, obwohl ihm die Gesetzgebung der letzten zwölf Jahre jede publizistische Äußerung wie den Abschluß seines philosophischen Universitätsstudiums unmöglich machte, nicht den Ehrgeiz, um jeden Preis sich gedruckt zu sehen«, schreibt der 25jährige Hans Blumenberg im November 1945 an den Insel Verlag. Er fügte einen Aufsatz zu Dostojewskis Novelle »Die Sanfte« bei, deren Veröffentlichung er anregte. Zu einer Publikation sollte es jedoch damals nicht kommen, und so blieb der Text bis heute ungedruckt. Seine Entstehungszeit reicht noch vor den ersten veröffentlichten Aufsatz »Die sprachliche Wirklichkeit der Philosophie« zurück, der 1947 erschien.[1]
Den chronologischen Anfang dieser Sammlung von Hans Blumenbergs Aufsätzen zur Literatur macht nun dieses bisher nicht publizierte Nachwort zu Dostojewski. Alle hier vorliegenden Texte schrieb und/oder veröffentlichte Blumenberg in den Jahren 1945 bis 1958. Der Band umfaßt damit einen Zeitraum, der sich für den jungen Philosophen auch publizistisch ganz anders gestalten sollte als die zwölf Jahre des nationalsozialistischen Regimes, auf die Blumenberg im Eingangszitat verweist. Man kann mit Fug und Recht von einer eigenständigen Werkgruppe sprechen, die auf diesen präzise zu fassenden und scharf begrenzten Zeitraum datiert werden kann. Blumenberg wandte sich dann erst wieder unter veränderten Vorzeichen in den 1960er Jahren der Literatur als Gegenstand zu – unter anderem mit einem Aufsatz über Paul Valéry, den er zusammen mit drei weiteren, diesem Autor gewidmeten Texten als eigenständiges Buch ankündigte, das bis heute jedoch nicht als solches erschienen ist.[2] Dieses wiederum thematisch eng umrissene Buch362projekt markiert die zweite Phase seiner Auseinandersetzung mit der Literatur, zu der mit Einschränkungen auch Teile der im Kontext der Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik« entstandenen Beiträge zu zählen sind.[3] Die dritte Phase setzt dann wiederum erst in den 1980er Jahren mit einer Fülle von kürzeren und längeren Texten ein, die als Aufsätze und vor allem als Zeitungsartikel erschienen und dann auch zusammen mit Texten aus dem UNF-Konvolut unter anderem in Bücher zu Fontane und Goethe eingegangen sind.[4]
Die zwischen 1945 und 1958 entstandenen Schriften zur Literatur bilden einen eigenen Zusammenhang, der durch Blumenbergs Versuch gekennzeichnet ist, »dem Repräsentativen meiner Welt auf die Spur zu kommen«,[5] und den er in seinem Vortrag »Das Problem des Nihilismus in der deutschen Literatur der Gegenwart« von 1950 inhaltlich so faßt:
Für das Verständnis dieser ungeheuren geschichtlichen Krise, in der wir noch mitten darin stehen, muß nun alles darauf ankommen, jene Erfahrungen, an denen sich das überkommene Wirklichkeitsbewußtsein gebrochen hatte, herauszuheben. Die positive Auseinandersetzung mit dem Nihilismus kann nicht darin bestehen, seine Macht und seine Durchdringung unserer gegenwärtigen Welt zu leugnen oder zu ignorieren, sondern ein Verstehen von Wirklichkeit vorzubereiten, das die ruinanten Erfahrungen des letzten halben Jahrhunderts aufzufangen und im Horizont einer Welt zu befassen vermag. Für diese Aufgabe bietet nun die moderne Kunst und Dichtung die adäquatesten Ansätze; sie ist der philosophischen Analyse fast überall weit vorausgeeilt und hat Phänomene und Probleme sichtbar gemacht, an die sich das Denken nur allmählich heranzutasten vermag.[6]
363Diese hier prägnant aufgerufenen Probleme und Phänomene verfolgt Blumenberg in nahezu allen seiner Texte zur Literatur weiter. Sie verstehen sich als Auseinandersetzung mit einer Krisenerfahrung, bei deren Bearbeitung, wie Blumenberg unterstreicht, gerade der Literatur eine besondere Bedeutung zukomme.
In zahlreichen Rezensionen, Reden und Vorträgen erkundet er die zumeist zeitgenössische deutschsprachige und internationale Literatur, der über mehr als zehn Jahre seine besondere Aufmerksamkeit galt. Er schreibt aber auch über die Mode der Taschenbücher und zu Comics. Bis 1957 verzeichnet die von Blumenberg selbst zusammengestellte Bibliographie seiner Texte etwas über einhundert Positionen. Seine Beiträge zur Literatur bilden dabei eine gewichtige Gruppe und machen fast die Hälfte seiner Publikationen aus, die nochmals in drei Gruppen unterteilt werden können:
Das Gros dieser Texte erschien unter dem Autorenkürzel »Bb« oder dem Pseudonym Axel Colly in Gestalt von Rezensionen oder Essays in den Düsseldorfer Nachrichten beziehungsweise der Westdeutschen Zeitung und den Bremer Nachrichten, gelegentlich auch in der Hamburger Freien Presse, den Lübecker Nachrichten oder auch in der Süddeutschen Zeitung. Auch dem Deutschen Forschungsdienst bot Blumenberg einen Teil dieser Texte an mit dem Ziel, auf die »Existenzfrage der Wissenschaft« zu reagieren und »durch eine breitere publizistische Arbeit die Anteilnahme der Öffentlichkeit zu wecken und zu fördern und den trüben Strom allzu billiger Popularisierung einzudämmen«.[7] Blumenberg publizierte dabei nicht wenige seiner Artikel an verschiedenen Orten nahezu gleichzeitig und hatte dabei das »Verbreitungsgebiet« der jeweiligen Organe genau im Blick.[8] Zumeist wurden die Artikel hierfür gekürzt oder anderweitig überarbeitet. Für die eher »kulturkritischen« war der Name Axel Colly reserviert und damit eine eigene, für den Leser wiedererkennbare Autoridentität entworfen im Unterschied zur 364eher wissenschaftlichen, die mit dem eigenen Namen verbunden war. Die Adressatenbezogenheit seiner Texte war Blumenberg immer schon besonders wichtig. Dem umfangreichen Briefwechsel mit Alfons Neukirchen, der im Sommer 1952 zu den Düsseldorfer Nachrichten wechselt, dort das Feuilleton leitet und Blumenberg gleich bewegen kann, die »Kulturseite mit zu kultivieren«, sind die Hintergründe zu entnehmen.[9] Blumenberg verbindet seine Zusage zur Zusammenarbeit mit grundsätzlichen Überlegungen zur »Reform des Feuilletonstils«. Der Austausch zwischen dem Teilzeitfeuilletonisten und dem Ressortleiter zeigt zudem recht deutlich, wann welche Themen und Bücher zu welchen Anlässen Aufmerksamkeit erhalten.
Eine zweite relativ kleine Gruppe sind – bisher unpublizierte – Vorträge oder Radiobeiträge. So finden sich in dieser Gruppe mehrere Texte zu Graham Greene: eine Buch-Rezension für den Rundfunk, ein Vortragsmanuskript sowie das Typoskript eines Radiobeitrags für den Südwestfunk Baden-Baden. Blumenberg verzeichnete nicht nur seine Publikationen, sondern auch seine Vorträge in eigens angefertigten Listen. Viele seiner Vorträge wurden, wie er sorgfältig notiert, an verschiedenen Orten gehalten. Dies gilt für den Greene-Vortrag, der für 1950/51 mehrfach verzeichnet ist, oder etwa auch für den Valéry-Vortrag, der seit 1949 und dann in veränderter Form seit 1954 immer wieder verwendet wird.
Die dritte – und zugleich bekannteste – Gruppe bildet schließlich die Serie von längeren Aufsätzen, die in der Zeitschrift Hochland erschienen ist. Diese war bis zu ihrer Einstellung 1941 eine wichtige Stimme des konservativen Katholizismus in Deutschland und erschien dann erneut von 1945 bis 1971 und unter dem Titel Neues Hochland bis 1974.[10] 365Herausgeber in der Nachkriegszeit war Franz Josef Schöningh, der auch Mitbegründer und Mitherausgeber der Süddeutschen Zeitung war. Neben literarischen Autorinnen und Autoren wie Gertrud von Le Fort, Sigrid Unset oder Werner Bergengruen publizierten nach 1945 unter vielen anderen Romano Guardini, Josef Pieper, Robert Spaemann, Ernst-Wolfgang Böckenförde und auch Joseph Ratzinger in der Zeitschrift.
Im Anhang findet sich schließlich der früheste überlieferte Text Blumenbergs: ein mit 1938 datierter Aufsatz zu Hans Carossa, der aus seiner Schulzeit am Lübecker Katharineum stammt. Noch für die astronoetischen Glossen, die Blumenberg als eine seiner letzten Textsammlungen zu Lebzeiten zusammenstellt, entlehnt er einem Gedicht von Hans Carossa, »Der alte Brunnen«, den Titel: »die Sterne stehn vollzählig überm Land«.
Die Auswahl der Texte folgt der von Hans Blumenberg persönlich gepflegten Bibliographie, die er handschriftlich in ein kleines Notizbuch eintrug. Berücksichtigt wurden dabei all jene Texte, die sich explizit mit Literatur und literarischen Gegenständen beschäftigen. Aufgenommen wurden weiterhin einige wenige Texte, in denen Fragen der Literatur oder literarische Bezüge eher implizit verhandelt werden, wie etwa der Text über Taschenbücher oder der über Comics. Nicht aufgenommen wurden hingegen Texte, in denen Literatur nur am Rande Erwähnung findet, oder auch Stücke zur Ästhetik. Die Düsseldorfer Nachrichten wurden für den relevanten Zeitraum einmal komplett durchgesehen. Gleichwohl kann nicht ausgeschlossen werden, daß hier oder andernorts irgendwann noch kürzere Beiträge auftauchen, zumal nicht alle Texte von Blumenberg namentlich gezeichnet sind.366
Im Nachlaß finden sich Zeitungsausschnitte zahlreicher, aber nicht aller Artikel, die Blumenberg zudem zum Teil mit nachträglichen Korrekturen versehen hat. Weiterhin liegen Typoskripte der Vorträge und Aufsätze und mitunter auch Vorfassungen sowie – so etwa bei Faulkner – Materialsammlungen geringen Umfangs vor. Auf eine Aufnahme dieser Vorstudien, Skizzen und Entwürfe wurde durchweg verzichtet, auch wenn diese – wie etwa bei den Notizen zu T. S. Eliot – Überlegungen enthalten, die dann keinen Eingang in die publizierte Fassung gefunden haben. Verzichtet wurde daher auch auf die Aufnahme einer ersten, auf 1944 datierten Fassung des Dostojewski-Aufsatzes, die ebenfalls signifikante Unterschiede zur zweiten, hier aufgenommenen aufweist.
Bei der vorliegenden Edition wurde bei den Rezensionen, Vorträgen und Aufsätzen durchweg auf die letzte beziehungsweise publizierte Fassung zurückgegriffen. Auch bei veröffentlichten Texten sind die mitunter von Blumenberg nach Erscheinen der Texte in die Kopien eingetragenen handschriftlichen Korrekturen berücksichtigt und eingearbeitet. Daher kann es zu kleineren Abweichungen zwischen der zuerst gedruckten und der hier edierten Fassung kommen. Bei Blumenbergs handschriftlichen Annotationen in den Manuskripten wurden die sich auf den Text beziehenden und sich in ihn einfügenden Ergänzungen oder Änderungen direkt übernommen, jene aber, die eher Anmerkungen oder Notizen darstellen und sich nicht in den Textfluß fügen, als Fußnoten ergänzt. Bei den zahlreichen Doppelpublikationen der Zeitungsartikel wurde jeweils die umfangreichste Fassung ausgewählt, die offenbar als Grundlage der weiteren diente.
Ergänzungen der Herausgeber werden durch eckige Klammern kenntlich gemacht. Orthographie und Interpunktion der Texte wurden beibehalten, offensichtliche Fehler auch in den Zitaten stillschweigend korrigiert und minimale Vereinheitlichungen durchgeführt. Dazu gehören auch die Einfügung von Umlauten, die bei Großbuchstaben in den Zeitungen fehlen, und die gelegentliche Veränderung von »ss« in »ß« in den Typoskripten. Auf den Nachweis der zahlreichen Zitate wurde – wie auch bei den anderen Blumenberg-Editionen – dort verzichtet, wo Blumenberg nicht selbst bereits Nachweise hinzugefügt hat. In den Fällen, in denen die von Blumenberg verwendeten Ausgaben identifiziert werden konnten, wurden die Zitate auch abgeglichen.367
Für die sorgfältige Erfassung der Texte danken wir Marion Hirschkorn und Ingeborg Moosmann, für die aufwendige Suche nach weiteren Texten in den Düsseldorfer Nachrichten und den Abgleich mit den publizierten Texten Maria Tittel, für ihre Unterstützung bei den Recherchen in Blumenbergs Nachlaß im DLA Marbach Dorit Krusche und für die ausgezeichnete Zusammenarbeit Eva Gilmer. Bettina Blumenberg danken wir für ihr Vertrauen.369
[1] Hans Blumenberg, »Die sprachliche Wirklichkeit der Philosophie«, in: Hamburger Akademische Rundschau, 1. Jahrgang (1946/47), Heft 10, S. 428-431.
[2] Ders., »Sokrates und das ›objet ambigu‹. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes«, in: EPIMELEIA. Die Sorge der Philosophie um den Menschen. Helmut Unten zum 65. Geburtstag, hg. von Franz Wiedmann, München 1964, S. 285-323. Dort heißt es ganz am Ende: »Die vorliegende Arbeit ist das erste Stück einer vierteiligen Valéry-Studie, die ferner aus den Kapiteln ›Leonardo‹, ›Faust‹ und ›Monsieur Teste‹ bestehen wird.«
[3] Vgl. vor allem Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, in: Nachahmung und Illusion, hg. von Hans Robert Jauß, München 1963, S. 9-28, sowie ders., »Sprachsituation und immanente Poetik«, in: Immanente Ästhetik – ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hg. von Wolfgang Iser, München 1966, S. 145-157.
[4] Ders., Goethe zum Beispiel, Frankfurt/M. 1999 und Vor allem Fontane. Glossen zu einem Klassiker, München und Wien 1998.
[5] Hans Blumenberg an Alfons Neukirchen, 2. September 1952.
[6] Ders., »Das Problem des Nihilismus in der deutschen Literatur der Gegenwart«, S. 45.
[7] Hans Blumenberg an Dr. Otto Häcker, Herausgeber des Deutschen Forschungsdienstes, 12. April 1955.
[8] Hans Blumenberg an Dr. Otto Häcker, 4. Juni 1955: »Ich gebe den Artikel [zum 50. Geburtstag von Jean-Paul Sartre] gleichzeitig an die Düsseldorfer Nachrichten/Westdeutsche Zeitung und die Süddeutsche Zeitung, deren Verbreitungsgebiet ich vereinbarungsgemäß auszunehmen bitte.«
[9] Hierzu schon das Nachwort zu Hans Blumenberg, Schriften zur Technik, hg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Berlin 2015, S. 281ff. Vgl. auch Alberto Fragio, Josefa Ros Velasco, »Hans Blumenberg: filosofía y la literatura entre 1952 y 1958«, in: Anales del Seminario de Historia de la Filosofía 2 (2014), S. 483-506.
[10] Vgl. dazu Norbert Frei und Johannes Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, München 1989, und Felix Dirsch, »Das ›Hochland‹ – Eine katholisch-konservative Zeitschrift zwischen Literatur und Politik 1903-1941«, in: Hans-Christof Kraus (Hg.), Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien, Berlin 2003 (= Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus, Bd. 4), S. 85-96. Zu Blumenbergs Hochland-Texten jetzt Joe Paul Kroll, »Wilde Palmen. Hans Blumenbergs frühe Feuilletons in der Zeitschrift ›Hochland‹«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 3 (2016), S. 107-111.