Dostojewskis Novelle »Die Sanfte« hat die Gestalt eines Gewissensgespräches, in dem ein Mann, dessen Name so unwesentlich ist, daß wir ihn nicht erfahren, am Totenlager seiner Frau, die sich wenige Stunden zuvor durch einen Sturz aus dem Fenster entleibt hatte, sich innere Rechenschaft zu geben sucht über die Quellgründe des furchtbaren Ereignisses. Die Form dieses Selbstgerichtes ist in hohem Maße dialektisch, steht in der zum Widerspruch gesteigerten Spannung von Bezichtigung und Rechtfertigung. Er, der als adliger Offizier eines Ehrenhandels wegen den Dienst hatte quittieren müssen und fortan als Pfandleiher eine Existenz außerhalb der Gesellschaft lebte und erstrebte, hat das elternlose junge Mädchen aus einer sozial verzweifelten Lage heraus zu seiner Frau gemacht, gerade in dem Augenblick, als es von zwei geldgierigen Pflegetanten an einen widerlichen Krämer verhandelt werden sollte. Der Pfandleiher hatte sich in die Rolle des sozialen Befreiers und Wohltäters hineingespielt und darin die Aufwertung seines verletzten Selbstgefühls gesucht. Die Antwort seiner Frau ist ein unerwarteter Widerstand in der Ehe, vom schweigenden Stolz und lächelnder Ironie bis zur offenen Revolte. Seine entehrte Vergangenheit wird für sie zum Angelpunkt, das von ihm gesuchte und gestaltete Gefälle des Verhältnisses zu verkehren. Der Pfandleiher erfährt, daß seine Frau sich mit einem Offizier namens Jefimowitsch zu treffen beabsichtigt, der in seiner eigenen Lebensgeschichte eine zerstörerische Rolle gespielt hatte; er macht sich zum Lauscher der Zusammenkunft und muß erleben, daß der Stolz und die Reinheit seiner Frau über jeden Zugriff und jeden Verdacht erhaben sind. Doch auch für ihn kommt eine Gelegenheit, das Mal der Niedrigkeit und Feigheit vor seiner Frau zu löschen; als er am Morgen nach jener belauschten Zusammenkunft erwacht, sieht er seine Frau mit seinem Revolver in der Hand vor seinem Lager stehen, gibt sich aber schlafend, besteht die Bedrohung der eisernen Mündung an seiner Schläfe und wird so, als die Tat ausbleibt, über die Frau, die den Entschluß, mit dem sie gespielt hat, nicht auszulösen vermag, Sieger. Er spielt den Sieg aus, indem er sie aus seinem Verhalten entnehmen läßt, daß er Zeu10ge ihrer Absicht und ihres Versagens war und daß er der Stärkere blieb. In der Befriedigung dieses »Sieges« scheint er seiner Vergangenheit endgültig Herr zu werden. Aber die Antwort seiner Frau ist wiederum nicht Unterwerfung, nicht Anerkennung, ist vielmehr Schweigen, Verachtung – ja ist – er erfährt es plötzlich, als sie einmal wie trotz seiner Gegenwart in völligem Alleinsein zu singen beginnt – Vergessen seiner Zugehörigkeit zu ihrem Leben. Diese Einsicht nun vernichtet ihn, wirft ihn nieder zu ihren Füßen, läßt ihn sie um ihre Beachtung bestürmen, zwingt ihn zur Aufgabe jedes Anspruches an sie. Das aber ist das Ende. Als er am nächsten Tage von einem Ausgang heimkommt, steht vor dem Hause ein Menschenauflauf um den entseelten Leib seiner Frau. »Nur eine Handvoll Blut« ist aus ihrem Munde geflossen.
Die »Handvoll Blut« aus dem Munde der Entleibten ist das symbolische Fazit eines tödlichen Ringens, das der Dichter zwischen Mann und Weib sich vollziehen läßt; und worin er in gültiger Gestaltung dem menschheitlichen Problem der dialektischen Geschlechtlichkeit überhaupt gegenübertritt.
Denn im Zusammentreffen der Geschlechter waltet eine urhafte, letzte Grausamkeit. Dabei scheinen Wesensbereiche beteiligt zu sein, die sich der Kontrolle des gemäßigt-gesitteten Bewußtseins entziehen. Es werden Mittel in diese Dialektik einbezogen, die, aus ihrer eigentlichen Indifferenz herausgenommen, erst in dieser Sphäre ihre verletzende, ja vernichtende Bedeutung bekommen können. Es sei nur daran erinnert, welche grausame Stoßkraft in Dostojewskis Erzählung der Gesang des Weibes annimmt; annimmt aus einer untergründigen Treffsicherheit des dem Manne entgegentretenden Weibtums. Es ist hier, als seien Mann und Weib nur die zufälligen Instrumente, die das Ringen einer weit universaleren Polarität höheren Bewußtseinsgrades blind vollziehen.
Die Novelle bringt die Frage nicht zum Ausdruck, aber sie wirft sie auf in der Forderung ihres Verständnisses: wo nämlich der Urgrund dieser feindlichen Polarität der Geschlechter zu suchen sein könne. Jede Antwort muß metaphysischer Versuch bleiben. Aber ist es nicht so, daß im Anspruch des Geschlechtstriebes eine menschliche Totalität bezielt ist, eine Erfüllung gesichtet wird, die das geschlechtlich Zweiheitliche aufheben würde in einer letzten menschlichen Wesensganzheit? Und weist nicht diese unaufhebbar auf Einheit zielende Gespanntheit auf eine ur11gesetzte Eigentlichkeit hin als schöpferischen Grund der menschlichen Gestalt? Hat sich wohl dieser ideeliche Ganzheitsanspruch an jener unergründlichen, dem Stoffe eigenen chthonischen Widersetzlichkeit allem Gestaltenden gegenüber gebrochen und gespalten? So daß der Mensch nun in der geschlechtlichen Daseinsform immer gleichsam nur Fragment sein kann, ohne in der wirklichen Lebenssituation je den Anspruch der individuell-einmalig zugehörigen Ergänzung verwirklichen zu dürfen? Denn die urbestimmte Einheit wäre in der Natur aufgesprengt in zwei Individuen, die sich im Vollzuge nie begegnen. Und weiter: Ist nicht der Trieb in seiner überwältigenden Kraft ein Kunstgriff der Natur, um das wesenhaft niemals Zugehörige doch zum Gehorsam gegen die arterhaltende Notwendigkeit zu zwingen? Eine Überrumpelung des personalen Bewußtseins, das stets nur auf die ideale Absolutheit der Erfüllung – die de facto unerreichbare – ausgespannt sein muß? Der Trieb schmiedet aneinander in seiner Glut, was sich im Umriß nicht fügen kann; er bindet mit Blindnis, was Klarheit trennt. Ist aber dem Ziel und Willen der Natur Genüge getan, dann versagt diese Kraft der Bindung; die aufeinander Verwiesenen stehen, Leib an Leib, in der ganzen Widersprüchlichkeit der geschlechtlichen Existenz.
Die sexuelle Dialektik ist wesentlich zweistufig, sie hat eine voreheliche (nicht außereheliche, denn dieser Zustand ist überhaupt nicht dialektisch!) und eine eheliche Form. In Dostojewskis Erzählung ist das voreheliche Stadium gestaltet von der sozialen Situation her. Und es ist tief erfaßt, wie diese Gestalt des Verhältnisses in der Ehe selbst schlagartig jede Bedeutung verliert. Wesensanlage und soziale Ordnung in unserer Gesellschaftsform sind einer Oberhändigkeit des Weibes denkbar ungünstig, so ist die von Dostojewski gegebene Situation, daß der Mann das Weib buchstäblich aus einer sozialen Verlorenheit zu sich empornimmt, durchaus symbolwertig und wesentlich. Mit aller erzählerischen Präzision ersteht die voreheliche Bestimmtheit des Verhältnisses: Das sozial hilflose Weib ist ausgeliefert, es ist Sklavin seiner Pflegetanten, es muß sich von ihrer Geldgier an einen Krämer verhandeln lassen; der Mann spielt sich auf diese Lage ein: als Pfandleiher (welches Symbol übrigens für seine innerste Wahrheit!) gibt er der Hilfesuchenden, wie er will; sie muß nehmen, was und wie er ihr gibt; er ist höflich und 12streng, er lächelt über sie, ist gereizt, verletzend, er prüft sie. Der »strenge Ton« ist das Cachet seiner Rolle – »der strenge Ton riß mich förmlich hin«. Der Tenor des Verhältnisses ist für ihn: »Sie kam zu mir, sie kam wieder, sie muß wieder kommen!« Es geht ihm um die kleinen Triumphe seiner Rolle – »Als sie schon fort war, fragte ich mich plötzlich: war denn dieser Triumph über sie zwei Rubel wert?« Sie kommt zu ihm unter dem Zwang ihrer Lage; er transponiert das fälschlich ins Menschliche. Er sieht seine selbstgewählte Rolle, in der er »als ein Wesen aus einer höheren Welt« erscheinen kann, als vom Wesentlichen herkommende Gestalt der Geschlechterbegegnung; die soziale Gültigkeit des Befreiers, des Wohltäters, des Überrangigen wird ihm zur unumstößlich menschlichen Gültigkeit.
So schließt er die Ehe, ohne zu ahnen, daß die Dialektik hier erst ihren eigentlichen Spielraum gewinnt. Der Schritt erscheint ihm nur als formale Wandlung einer festgestellten wesenhaften Ordnung. Er übersieht alle Zeichen des schon zuvor sich bäumenden Weibwesens; das »Blitzen« ihrer Augen, ihren Stolz, ihre einmalige »Revolte« nimmt er hin mit der selbstsicheren Wendung: »Sie ist also stolz! Gut! Ich bevorzuge sogar die Stolzen. Die Stolzen sind sogar besonders schön, wenn … nun, wenn man an seiner Macht über sie nicht mehr zweifeln kann.«
Das Wort »Macht« ist gefallen. Der Geschlechterkampf ist ein Machtkampf. »Machtgefühl ist mehr als Wollust«, formuliert Strindberg im »Buch der Liebe«. Bei Dostojewski ist es genauer ein volles Ineinander von Macht und Lust: Machtgefühl ist Wollust. Hier spricht der Mann von seiner Macht »über sie« als von der »nackten Wahrheit« in seiner Hand; diese Macht ist das eigentlich Sexuelle, die Wahrheit – seine Wahrheit – ist »nackt« in einem höchst wollüstigen Sinne. Als »Befreier« der »Sklavin«, als »Wesen aus einer höheren Welt« ist er auf dem Gipfel der ihm möglichen Lust. Macht als Lust ist der Zielgegenstand der männlichen Geschlechtsrolle. »Dieses Gefühl der Ungleichheit nahm mich ganz gefangen; es war ein so süßes, wollüstiges Gefühl.« Und – »die Hauptsache ist, daß ich […] an meiner Macht über sie nicht mehr zweifelte. Wissen Sie, es ist ein ganz wunderbares, wollüstiges Gefühl, wenn man nicht mehr zweifelt!«
Die Ehe ist in diesem Machtkampf der Akt, in dem der Mann selbst das Weib überhaupt erst in seine dialektische Möglichkeit einsetzt. Vorehe13lich fehlt dem Weibe der Ansatz der Selbstbehauptung. Das gesellschaftlich oder religiös sanktionierte Institut der Ehe ist der Raum der freien geschlechtlichen Aussprache, schafft ein echtes Gegenüber. Also ein Gegenüber nicht in der sozialen Verkleidung, sondern in der wesensmäßigen Nacktheit, im Nur-Mann-Sein und Nur-Weib-Sein. Die voreheliche Existenz des Weibes ist objekthaft; der ehelichende Akt des Mannes ist die unantastbare Freigabe ihres Subjektseins.
Noch ihr Jawort ist ihm »selbstverständlich« aus der vorehelichen Situation heraus; seine Sicherheit macht ihn salopp: »Na, wie meinen Sie?« Doch es verwundert ihn schon, daß sie sich überhaupt in einem eigentlichen Sinne entschließt. Als sie zögert – »Warten Sie, ich überlege es mir noch« – erscheint ihm das geradezu unwahrscheinlich – »Schwankt sie denn wirklich?« Schon in dieser Werbungsszene ist die ganze Dynamik des weiteren Verlaufes gespannt – »Selbstverständlich gab sie mir noch unten vor dem Tore ihr Jawort; doch … doch ich muß hinzufügen: dort unten vor dem Tore dachte sie erst lange nach, ehe sie mir das Jawort gab. Sie dachte so lange, so unendlich lange nach […].« In dem Ja des Weibes liegt bereits der Ausdruck seiner echten Freiheit; dieses Jawort ist, obwohl aus der Situation des sozialen Zwanges äußerlich bedingt, doch in einem echten Sinne auch subjektiver Entschluß.
Das Lächeln, mit dem sie als Ehefrau in sein Haus tritt, ist die Kündigung der sozialen Situation. Er bemerkt nicht den Widerspruch in seiner Überlegung: »[…] mit diesem Lächeln trat sie in mein Haus. Aber es ist ja wahr, wohin hätte sie denn sonst gehen können?« Das Wesentliche, daß der Eintritt in sein Haus für sie der Schritt in die personale Freiheit ist, entgeht ihm. Instinktiv folgt er der Tendenz jeder Machtausübung, den mechanisch-gewalttätigen Zustand in den einsichtig-gesinnungswilliger Unterordnung zu überführen; die ihm sozial zugefallene Hochstellung dem Weib gegenüber sucht er künstlich in eine menschlich-wesenhafte zu wandeln. »Strenge«, »austreiben«, »anerziehen«, »einimpfen« – lautet seine gynagogische Terminologie. Sein Kunstgriff ist – »als ein Rätsel erscheinen zu können!« Weiter: er ist bestrebt, den Schwerpunkt des Verhältnisses beim Materiellen zu halten, wo es seinen einseitigen Ausgang nahm, beim Geld. Den gesamten Tribut an Bestätigung und Anerkennung, den die Gesellschaft dem Entehrten und Ausgestoßenen versagt, versucht er, beim Weibe zu erheben. Der 14Besitz des Weibes bedeutet ihm die Geltung der Fiktion seines ethischen Selbstbildnisses.
Aber – »die Sanfte revoltiert«. Das vorehelich sozial-zwangsmäßig gesänftigte, in seiner Subjektivität unentfaltete Weib hat die Ebene der geschlechtlichen Dialektik betreten. Die Geltung des Mannes beginnt, sich von der Sphäre seiner sozialen Hochstellung in die seiner menschlich-wertmäßigen Niedrigkeit zu verschieben. Sie kann nun an seine Vergangenheit rühren, nach seiner Ehre fragen, ihn erproben, ja beleidigen. Sie nimmt dasselbe Schema an, in dem sie als sozial Verlorene ihm unterworfen war; und in dem ihr jetzt der Mann ausgeliefert ist, der seine Ehre verlor. Er ist dem Zugriff ihrer Fragen hilflos preisgegeben.
Seine Erniedrigung kulminiert, als er die Zusammenkunft seiner Frau mit Jefimowitsch belauscht. Er erfährt nun, wie das Weib in der Freiheit und Sicherheit, die ihr die eheliche Stellung gewährt, sich dem Zugriff des Mannes gegenüber verhält. Die Werbung des Verführers ist eine Doppelung seiner eigenen Werbung, aber nicht mehr unter dem sozialen Vorzeichen. In Jefimowitsch sieht er selbst sich von der Freiheit des Weibes abgewiesen. Der ganze unbezwingliche Stolz, den sie zeigt, erhellt ihm seine eigene Stellung zu ihr. Daß jenes früher so vielfach bemerkte, aber in seiner Bedeutung übersehene »Blitzen« ihrer Augen und ihr ganzes Auftreten vor dem Pfandleiher nur die erste, gezwungen verhaltene Phase ihrer Auflehnung war, die Drohung des dialektischen Gegenspiels in sich enthaltend, spürt er erst jetzt, als er sie Jefimowitsch entgegentreten sieht. Er erlebt sein eigenes Gericht. Nur so kann ihm die Szene, die er belauscht, aus einer intuitiven Klarheit heraus als »das Wohlbekannte«, gleichsam »Wiedergefundene« erscheinen.
In einzigartiger dichterischer Steigerung folgt die Revolverszene. Es ist eine furchtbare Kraftprobe, ein keuchendes Gegeneinander der entzweiten Wesenheiten. Da »fühlte ich mit der ganzen Kraft meiner Seele, daß zwischen uns in diesem Augenblick ein Kampf entbrannt war, ein schrecklicher Zweikampf auf Leben und Tod […]«. Indem es ihm gelingt, dem Weib seine Festigkeit, ja Gleichgültigkeit gegen die Bedrohung zu zeigen, gewinnt er einen »Sieg«. Zunächst über seine eigene Vergangenheit mit dem Mal der Feigheit; in der Revolverszene schlägt er dem Weib die Waffe seines unterwertigen Vorlebens endgültig aus der Hand. Es ist aber auch ein »Sieg« über das Weib als die Triumphierende der Jefimo15witsch-Begegnung; ihre Schwäche ist in dem Versagen zu dem mörderischen Entschluß vor ihm entblößt. Bei diesem Versagen ist entscheidend nicht das Zurückscheuen vor der verbrecherischen Tat als solcher, sondern das klare Indizium der inneren Zwiespältigkeit und Haltlosigkeit ihrer ganzen Auflehnung gegen die männliche Geltung.
Aber schon darin, daß er diesen »Sieg« absolut setzt, daß er die Dialektik verkennt, die jede Phase der sexuellen Konstellation in die nächste hinüberreißt – »ich hatte gesiegt und sie war für immer besiegt« –, schon darin verspielt er das Ertrotzte. Er lebt nun in dieser vermeinten Endgültigkeit und hat aus ihr volles Genügen – »Indem ich dem gegen mich gerichteten Revolver standhielt, rächte ich meine ganze finstere Vergangenheit; und wenn es auch kein anderer Mensch erfuhr, so erfuhr es doch sie; das bedeutete für mich alles […].«
Daß aber die Bestätigung des Mannes so ganz »bei ihr« liegt, daß er »vor ihr« bestehend überhaupt seinen Geltungsanspruch erfüllt sieht, daß sein Sieg »über sie« so absolute Bedeutung für ihn gewinnen kann – das setzt das Weib in eine Stellung ein, von der aus jeder Machtgriff zur Aufhebung seiner Geltung gelingen muß. Wenn sie notwendiger »Katalysator« seiner Selbstwertung, Gewähr seiner Geltungssicherheit ist, so verbirgt sich darin eine Bedeutungsmächtigkeit des Weibes, die zu gegebener Stunde als vernichtende Dynamik des Geschlechterringens aufbrechen kann. Die Relativität des männlichen Selbstbewußtseins auf die Stellungnahme des Weibes hin ist dessen archimedischer Punkt im Fortgang der Dialektik.
Nach der Revolverszene steht der Mann in der Verblendung seines »Sieges«. Der Tenor seiner anfänglichen Haltung – gleichsam sein Pfandleihermotiv – klingt wieder voll durch: »›Nein, warte nur, […] sie wird einmal plötzlich selbst zu dir kommen.‹« Und wieder ist es »der Gedanke an unsere Ungleichheit, der mich so reizte«. Aber diese Sicherheit ist bedroht, ist trügerisch, ihr Bestand ist von Gnaden des Weibes; ist eine blitzende Waffe in ihrer Hand in dem Augenblick, in dem er bemerken muß, daß sie nicht mehr bestätigend zu ihm aufblickt, daß sein Wertbewußtsein in der Leere steht, weil sie ihn gleichsam aus dem Blick verloren hat. Der vorherige dialektische Ausschlag zum Manne hin wird zurückgerissen im Erlöschen der wertenden Beachtung durch das Weib. Das schmerzhafte Aufzucken dieser Erfahrung, das Zusammenbrechen 16der männlichen Geltungsfiktion, die bestürzende Blendung durch die volle Wahrheit seiner Lage, der Niederschlag der daraus folgenden Hoffnungslosigkeit ist von Dostojewski in einer dichterisch einmaligen Konzeption gestaltet: im Singen des Weibes. Im Gesang, der das Schweigen aufbricht, das trügerisch wie Beständigkeit zwischen ihnen stand, das in Wahrheit aber die absolute Form der Entzweiung war, zu der jedes streitende Wort noch wie Vermittlung gewesen wäre. Im Gesang, der das Vergessenhaben, das völlige Alleinsein, das in sich selbst Zurückgekehrtsein des Weibes ausspricht. »Sie singt, und dazu noch in meiner Gegenwart! Hat sie mich etwa vergessen?« Er ist aus ihrem Bewußtsein gleichsam gelöscht, und darin liegt die Vernichtung seines Wertgefühls, das eben nur relativ auf das dabeiseiende Bewußtsein des Weibes hin Bestand hatte. »Wenn sie in meiner Gegenwart zu singen begonnen hatte, so hatte sie mich vergessen – das war es, was ich plötzlich so klar vor Augen sah und was mich so erschreckte.« Und es bestätigt sich sogleich in anderer Weise, was in der langen Zeit des Schweigens in ihr zerrissen war: »Sie streifte mich mit einem gleichgültigen Blick; es war eigentlich kein Blick, sondern eine rein mechanische Geste, so wie wenn irgendein Gleichgültiger ins Zimmer tritt.«
Sogleich vollzieht sich der volle dialektische Umschlag. Der hoffnungslos Vernichtete liegt zu den Füßen des Weibes, bettelt um die Zuwendung ihres verlorenen Blickes. Und es ist eine erzählerische Feinheit, daß jetzt am Weibe der Index der absoluten Oberhändigkeit – gleichsam ein musikalisches Leitmotiv – wiederkehrt, den der Pfandleiher für die Verzweifelte trug: der Ausdruck der »Strenge«. Es ist der volle Triumph des Weibes, nicht errungen aus der zufälligen Situation, sondern in einem wesenhaften Aufeinandertreffen – denn die Niederlage des Mannes ist die Niederlage seiner Wertrealität. Die Dialektik hat ein Stadium erreicht, in dem ihre äußerlichen Momente, ihre sozialen Bedingtheiten und situationellen Verkleidungen abgestreift sind und ein reines, unverstelltes Gegenüber der Geschlechter in Wert und Wertung, Anspruch und Erkennung statthat.
Die Totalität des Sieges liegt in dem »Erstaunen« ausgedrückt, mit dem das Weib den aus dem Bewußtsein Verlorenen gewaltsam wieder in ihr Blickfeld eindringen sieht, als Bittenden und Unterworfenen freilich – »Und ich hatte schon gedacht, Sie würden mich ganz in Ruhe lassen«. 17Die Bedingungslosigkeit seiner Unterwerfung liegt in der vollen Blöße, in der er ihr seine innerste Wirklichkeit, seine Wertwahrheit enthüllt. »Ich sagte ihr solche Dinge, die ich auch vor mir mein Leben lang verheimlicht hatte.«
Es ist bezeichnend für das Weib, daß es zwar die Inferiorität nicht erträgt, daß es aus jeder Abgeltung und Unfreiheit ausbricht, aber verhält in der errungenen Freiheit, ohne dem Lustrausch der Macht verschrieben zu sein wie der Mann. Die weibliche Haltung im Dialog ist im Grunde nichts anderes als die Entgegnung auf den von innen heraus nichtigen Geltungs- und Machtanspruch des Mannes. So sind die Situationen der weiblichen Triumphe nicht künstlich, nicht »inszeniert«; weiß sie doch nichts von einem Lauscher der Jefimowitsch-Unterredung, den ihre Haltung richtet; ist sie sich doch der vernichtenden Wirkung ihres Liedleins nicht entfernt bewußt, das einem Moment der ungetrübten Innerlichkeit, der für-sich-seienden Stille entspringt. In der Haltung des Mannes dagegen ist überall berechnende Bewußtheit, inszenatorischer Kalkül seines Machtwillens: am deutlichsten, als er in der Revolverszene geradezu gewaltsam die Augen verschließt, sich schlafend stellt aus einer instinktiv richtigen Einschätzung der Situation heraus.
Die Dialektik des Geschehens ist von einer Ausgangslage entsprungen, die ihr von vornherein das Gepräge des Extremen, der Gewaltsamkeit und Grausamkeit verlieh. Die sozial bedingte Überhöhung des Mannes überspannt die inneren Haltekräfte der Geschlechterbegegnung; der dialektische Ausschlag muß in seiner Steigerung zuletzt zum Zerreißen führen. Der absolute Triumph des Weibes ist entgegen seiner wahren Bestimmung, ist Verfehlung seines tiefsten Wesens. Die erreichte Position ist eine tödliche. Das spricht sich aus in jenem abgründigen Erschrecken in der Blendung des ihr unerklärlichen Umschlages des Verhältnisses. Sie flieht in den Tod, weil sie keinen Ausweg mehr sieht, ihr Wesen, ihre Wahrheit zu retten; die Absolutheit ihres Sieges, das Stillstehen der Dialektik ist das Ende.
Der Tod aber reißt die Dialektik des Geschlechterverhältnisses noch einmal auf. Er ist Niederlage des weiblichen Vermögens, Macht zu tragen, ist Scheitern an der Endgültigkeit des Stärkerseins. Zugleich aber gibt der Tod dieser Macht ihre neue währende Gestalt. Die Frage nach der Achtung des Weibes, seine eigene Wertfrage, wird für den Mann nun 18zu einer unlösbaren und unaufhebbaren. Damit kehrt ein weiteres Leitmotiv seiner eigenen Wahl auf ihn zurück: er wollte dem Weib einmal »Rätsel« sein und Frage und darin seine Geltung begründen; nun bleibt er mit dem Rätsel des Weibes und der Frage allein. Der Dialog steht still; die Möglichkeit der Antwort ist aufgehoben; das Weib ist in seine säkulare Gestalt zurückgenommen, seine Macht bleibt in der Frage des Mannes. »Eins möchte ich gerne wissen: ob sie mich geachtet hat? Ich weiß nicht, hat sie mich geachtet oder nicht?«
Die dialektische Form der Begegnung der Geschlechter in Dostojewskis Erzählung bedarf noch einiger ergänzender Kennzeichnungen. Die formale Gestaltkraft des Dialoges ist die Ironie, jener feine Spott, mit dem ein nichtiger Wertanspruch scheinbar hingenommen wird. Ironie hat einen tödlichen Zug, eine Tendenz auf Vernichtung des ironisierten Gegenstandes; aber dieser Vernichtungswille ist gekleidet in ein spielendes Geltenlassen. Mann und Weib sind in verschiedener Weise Träger der Ironie. Die Ironie des Weibes ist echt, weil der Geltungsanspruch des Mannes nichtig und hohl ist; die Vernichtung der männlichen Position gelingt im Griff der Ironie. Sein Wertanspruch, der auf der Prämisse seiner sozialen Vorgeltung steht, zerbricht. Wo der Mann ironisch ist, da ist dieser Index angenommen und fiktiv. Sein Geltenlassen ist krampfhaft, sein Spott ist gefälscht und grob; seine Ironie ist Mittel zur Verstellung der eigenen Nichtigkeit. So muß ihm der ironische Zugriff mißlingen an der echten Wertgestalt des Weibes.
Die dialektische Haltung des Mannes ist aktiv, die des Weibes verhaltend, absichtslos. Vom Manne kommen die Antriebe und Anstöße; auch die Triumphe noch des Weibes sind nur Reaktionen. Ja, bei ihrem durchbohrendsten und vernichtendsten Tun noch ist ihr eine Art Unwillkürlichkeit eigen; ihr Handeln geschieht an ihr und mit ihr, wie von einem höheren Bewußtsein her, das ihr die blinde Sicherheit ihrer Geschlechtsrolle verleiht. So spricht sie den zerstörerischen Satz vom In-Ruhe-Lassen – »so unwillkürlich, daß sie vielleicht selbst gar nicht merkte, wie sie es sagte«.
Die Dialektik ist aufsteigend. Nicht nur, daß sie ihre Dynamik und Weite potenziert. Sie wird auch immer wesentlicher. Die Auseinandersetzung entzündet sich am Materiellen, streift aber immer mehr alles Akzidentelle ab und wird zum Gegenüber der letzten Abgründe der 19Personen, ja, am Ende bleibt das Weib in seiner, aller Faktizität und Kontingenz enthobenen Gestalt.
Der Standort des Erzählers ist dabei am Ausgang des Dialogs, bei dem sich Richtenden vor dem erstarrten Leben des Weibes. Das Geschehen ist projiziert auf diesen Punkt, ist zusammengerückt in die Ebene der Erinnerung. In der Aussage wird das Dialektische darum Widerspruch, Paradoxie. Rechtfertigung und Bezichtigung stehen sich gegenüber. Darin liegt das Moment, das Dostojewski seine Erzählung eine »phantastische« nennen läßt.
Hier mag die Frage ihren Ort haben, wie weit dem Dichter die Gültigkeit seiner Gestalten und ihres Ringens reichen mochte; ob der Charakter der Novelle wirklich im »Phantastischen« voll umschrieben ist, d. h. in einer extremen Abseitigkeit vom existentiell Zentralen. Die Antwort würde eine Untersuchung über die Gestalt des Dichtertums und seine Stellung zum Realen bei Dostojewski, über das abgründig Phantastische gerade als innerste Wahrheit des Menschlichen in seinen Werken erfordern. Hier gilt es, die wenig beachtete Erzählung ganz für sich und aus sich zu vernehmen. Und da mag ein wenig Licht auf unser Problem fallen, wenn wir die geringe realistische Ausstattung der »Szene« herausstellen, ihre Beziehungslosigkeit zu Zeit- und Ortsbestimmung, die mangelnde individuell-physiognomische Verdeutlichung der Gestalten und die sich aufdrängende Bemerkung, daß Mann und Weib keinen Namen tragen, sich nirgends mit Namen ansprechen. Mit diesen Andeutungen mag auf die Nähe symbolischer Gültigkeit nur hingewiesen sein.
Es bleibt die letzte Frage zu stellen, ob wir mit der Sicht des dialektischen Vollzuges schon den innersten Gehalt der Geschlechterbegegnung berührt haben. Ist das Feindliche, Grausame schon die letzte und tiefste Wahrheit des Zueinander der Geschlechter? Daß über die entzweiende Richtung des bewußten Willens hinaus vielleicht Gültigeres Mann und Weib verbindet, das deutet sich erst darin an, daß der sich Erforschende am Ende den Wert des Weibes über alle Beziehung auf seine eigene Geltung zu hinauswachsen sieht – »Ach, hätte sie mich doch verachtet, meinetwegen das ganze Leben lang verachtet, nur leben, leben sollte sie!« Von »Liebe« spricht er erst an diesem bitteren Ende; aber berühren wir hier nicht die tragende Grundfläche, die unter aller Dialektik, unter 20dem Machtkampf der Geschlechter das schlechthin Gültige ihres Zueinander ist? Den metaphysischen Standort, den im faktischen Vollzuge immer verdeckten, worin die gesollte, ideegestaltene Bestimmung der Geschlechter ihren währenden Beziehungsgrund hat? Der sich Richtende der Erzählung sucht schon für den Anfang seiner Begegnung mit dem Weib, sucht selbst für das Pfandleiherverhältnis diesen tragenden Grund. »Habe ich sie denn nicht schon damals geliebt?« Für jede Phase des Dialoges bleibt die Wirklichkeit der Liebe Frage, unlösbar und unaufhebbar.
Der Mann bleibt allein mit der Frage. Lastendes, unlösbares Vinculum! Aus jenem Bunde mit dem Weibe ist der Bund mit der Frage geworden. Und dieser Bund ist, ein Gleichnis jenes anderen, wahrhaft unauflöslich.21