Jean-Paul Sartre, »Die Fliegen«

1. Die Unfruchtbarkeit, dem vielen schon Gesagten über den Existentialismus noch etwas hinzuzufügen.

2. Die unbefriedigende Vieldeutigkeit aller Aussagen erschließt eine wesentliche Einsicht:

3. Die Frage »Was ist Existentialismus?« enthält eine unangemessene Forderung, eine Vorausnahme der erwarteten Antwort in Richtung auf Definition, Lehre, System.

4. Der Existentialismus ist aber kein Ismus. Dazu wird er nur ständig von außen gedrängt.

Auch die subtilste Formel kann ihn nicht »enthalten«.

Alles Sagen weist hier über sich hinaus; es »verweist« auf ein »Wissen«, das nur im offenen Selbstsein des Menschen gegenwärtig wird, und allem Lehren, das doch nur »von außen« und in gegenständlicher Rede kommen kann, entzogen bleibt.

5. Das existentialist. Drama ist daher nicht aus der Zufälligkeit einer Begabungseinheit zu verstehen.

Auch die anderen Bücher der Existentialisten sind dramatisch (Sartres Hauptwerk »L'être et le néant«).

6. Die existentialist. Aussage drängt wesenhaft ins Dramatische. Es ist der gerade Gegensatz zum Drängen alles Philosophischen ins System. (Kierkegaard – Hegel).

Das Drama versucht, die Gegenständlichkeit der philosophischen Sprache zu überwinden und dem »Selbstsein« nahezukommen.

Die Distanz kann aber nur im Hörer und Zuschauer selbst ganz überwunden werden. Hierin liegt, bei aller abgrundtiefen historischen Ferne, die Gemeinschaft mit dem klassischen Theater und mit dem relig. Ursprung der griech. Tragödie.

7. Über die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Existentialismus ließe sich ebenso viel sagen wie über die literarische Herkunft und Umformung des Atridenstoffes von Aischylos bis Sartre. Hier soll das Drama ganz für sich sprechen und gehört werden.22

8. Der Rahmen der Handlung ist der der Atridensage: Der aus dem trojanischen Feldzug heimkehrende Agamemnon wird von seinem Weib, Klytämnestra, und dem Ehebrecher Ägisth ermordet. Der Sohn, Orest, sühnt den Mord, indem er die Mörder tötet. Die Rachegöttinnen, die Erinnyen, verfolgen den so zum Muttermörder Gewordenen.

9. Sartre läßt seinen Orest 15 Jahre nach dem Mord an Agamemnon unerkannt in seine Vaterstadt Argos zurückkehren.

Der Zustand der Stadt. Das Schicksal Elektras.

10. Der Orest, der die Szene betritt, ist keineswegs philosophisch ungebildet; im Gegenteil: der ihn begleitende Pädagoge hat ihm die Fülle antiker Bildung mitgeteilt:

einen lächelnden Skeptizismus, der sich an der Unwirklichkeit des Wirklichen beruhigt hat und in einem ironischen Abstand von Schicksal und Entscheidung immer schon »weiß«, worum es darin gehen kann. Ein »überlegener Mensch« in der »Freiheit des Geistes«.

11. Diese Freiheit der Philosophie ist ein Freisein-von. Ihr ist alle Entschiedenheit zur Meinung geworden. Ein Nirgend-sein, das nichts etwas angehen kann. Unverbindlichkeit der Bildung. Alles Wahre ist allgemein.

12. Das ist die Ausgangssituation. Die der abendländischen Philosophie selbst.

13. Den Reisenden begegnet, ebenfalls unerkannt, Jupiter. Es ist der Jahrestag des Mordes, an dem die Beschwörung der Toten begangen wird.

1. Orest scheint die Versuchung, die seiner Freiheit der Bildung, der Unverbindlichkeit begegnet, zu überwinden. Da begegnet ihm Elektra, der er sich nicht zu erkennen gibt.

2. Elektra kennt seine Freiheit nicht. Sie steht ganz in ihrem furchtbaren Schicksal und unter der Aufgabe der Rache. Von dieser Aufgabe erfüllt, empört sie sich gegen die Reue der Stadt und erscheint auf dem Totenfest, gegen den Befehl Ägists in weißem Gewand und tanzt vor dem Volk, um es aus seiner Bedrückung herauszureißen. Aber Jupiter läßt 23sie zerbrechen. Orest will sie vor den Drohungen des Königs durch Flucht retten.

3. An Elektra erfährt Orest, was es heißt, nicht »über«, sondern »in« einem Schicksal zu stehen. Daß man nur zu seinen Erinnerungen und zu seinem Schicksal wahrhaft »mein« sagen kann.

4. Diese Überwindung des antiken Denkens vom Menschen als »Lebewesen, das den Logos hat«, als Mikrokosmos im Makrokosmos, dem der Kosmos die Ordnung seines Seins vorgibt, ist durch das christliche Selbstverständnis des Menschen zuerst vollzogen worden.

5. Hier gehört der Mensch nicht mehr unbedingt zu der Welt. Er ist durch sie hindurch oder auch gegen sie. Er ist nur er selbst mit der Aufgabe seines Heils und der Verantwortung seines Gewissens ausgeliefert.

Er kann sich den Entscheidungen nicht entziehen. In ihnen wird er, was er ist – sein ewiges Schicksal, gegen das die Frage »Was ist der Mensch?« gleichgültig ist.

6. Diese Wendung vom »überlegenen« Wissen zum je-meinigen-Dasein erfährt Orest an Elektra und durch sie.

1. Die Wandlung der Freiheit-von in eine Freiheit-zu.

2. Die Eroberung der zuvor gleichgültigen Gegenwart.

3. Hierin wird der Mensch erst, was er sein kann. Insofern »ist« er nichts, bevor er entschieden seine Gegenwart übernommen hat.

Der existentialistische Grundsatz: Die Existenz geht der Essenz voraus.

4. Diese Wendung ist eine Bekehrung ohne Gnade. Orest gebraucht die Terminologie der Bekehrung. Letztlich muß Sartre die Bekehrung in einen Vorgang des Intellekts auflösen. »Die Freiheit hat mich getroffen wie der Blitz.«

5. Die Freiheit, die die kosmische Ordnung durchbricht, die »durch« und »gegen« die Weltgesetze sich verwirklicht, sieht Jupiter als Gefahr. Er erweist sich dadurch als Gott des Kosmos, als der erste Beweger des Aristoteles, der sich in den Regeln des Weltlaufes ganz und gar ausspricht. 24

6. Jupiter sucht die Gefahr zu bannen, indem er Ägist kurz bevor Orest zur Tat schreitet, aufsucht, um ihn zur Vernichtung Orests und Elektras zu bestimmen.

1. Zitternd wartet Elektra auf den Todesschrei der Mutter. Als die Tat geschehen ist, zeigt es sich sogleich, daß sie dieser Tat nicht gewachsen sein wird, wie sie jahrelang den Traum davon genährt hat.

2. Schon bei ihrem aufbegehrenden Tanz am Totenfest hatte sie die Toten um Bestätigung ihres Tuns durch Schweigen gebeten und war an der Verweigerung dieser Bestätigung zusammengebrochen. Elektra kann ohne den Einklang mit einem höheren Willen nicht leben. Sie wird in die Arme Jupiters und der Reue zurücksinken.

3. Aber wenn wir fragen, wo das »Menschliche« in diesem Drama ist, so finden wir es in der Gestalt Elektras.

Orest verrät sich durch das intellektuelle Pathos. Elektra ist die Gestalt ohne Pathos. Orest behält die intellektuelle »Schwebe«, in der er sich als Skeptiker befand, auch als Träger der Tat. Der Durchbruch in diese Freiheit bleibt im Pathos stecken.

»Die Worte, die ich brauche, sind zu groß für meinen Mund ‌…«

4. Die künstlerisch tödliche Antinomie des Stückes ist auch philosophisch bedeutsam:

Der Mensch ist frei – wenn Freiheit eine Leistung des Denkens sein kann.

5. Ob Sie meine Ansicht überzeugt oder nicht – es kommt darauf an, in diesem Werk zu sehen, wo und wie der Mensch noch existieren kann.

Orest und Elektra nehmen im Tempel des Apollo ihre Zuflucht vor den Fliegen.

Am Morgen hat sich das Volk von Argos vor dem Tempel zusammengerottet.

Um die Schlafenden haben die Erinnyen einen dichten Ring gebildet.

Sie erwachen, gezeichnet von der furchtbaren Tat.25

1. Jupiter, der Kosmokrator, hat versucht, Orest mit einer gewaltigen Vision des Weltalls auf seine Zugehörigkeit zur gesetzten Ordnung zurückzuwerfen.

»Du bist hier nicht bei Dir zuhause, Eindringling; Du bist in der Welt wie ein Stachel im Fleisch ‌…«

2. Elektra verfällt der Forderung Jupiters; sie eilt ihm nach, sie nimmt die Bedingung der Reue an, um sich vor sich selbst zu retten, Ruhe und Vergessen zu finden.

3. Orest widersteht Jupiter.

Was ist es für ein Gott, dem er widersteht? Der fremde Gott der Weltordnung, in der die Freiheit des Menschen eine Fehlkalkulation ist.

4. Bedingung der Freiheit:

»Vom Göttlichen absehen, um frei zu handeln«. Das Problem Vorsehung (Gottesgesetz) und Freiheit abgeworfen.

5. Letzte Steigerung des Pathos zum Erlöserpathos.26