Ernst Jünger als geistige Gestalt

1. Das verblüffende Phänomen der Gegenwart: die Leere als Ergebnis der Fülle; der Nihilismus inmitten der differenziertesten Kulturentfaltung. Vor einem Schaufenster zu hören: »Es gibt doch nichts, was es nicht gibt!«

2. So im Geistigen: kein Mangel an Ideen, auch nicht an guten; kein Mangel an ernsten, aufrichtigen Wegweisungen und Ansätzen.

3. Deren Wirkungslosigkeit: der Mangel an Evidenz. Evidenz nicht als Schlüssigkeit, als Aufgehen der Theorien, sondern als überzeugende Gegenwärtigkeit des von neuem Sinn erfüllten Lebensvollzuges.

4. Fehlt es also nicht an Richtweisungen und Entwürfen, so doch an der Legitimation hierzu. Legitimation kann aber gerade nicht jene Unbescholtenheit sein, die sich dadurch bewahrt hat, daß sie sich nicht mit dem Zeitgeist einließ.

5. Gerade darin wird eine Glaubwürdigkeit vermißt, daß Erfahrungen und Einsichten Einzelner auf das Zeitalter gewendet werden können. Solche Glaubwürdigkeit setzt eine Verlorenheit an die Not des Nihilismus voraus, wie sie die Gegenwart selbst charakterisiert, zugleich aber das Bestehen und die Bewältigung dieser Not. Diese Legitimation könnte freilich niemand erbringen, der zugleich auf seine Integrität gegenüber dem Zeitgeist vernommen werden soll. Dies [ist] der Widerspruch in der ganzen Diskussion um Ernst Jünger.

1. Wie alle geistigen Wandlungen und Neuorientierungen der Gegenwart, so steht auch der Weg Jüngers von vornherein in der Krise der Glaubwürdigkeit, die durch den Betrieb einer sog. Umerziehung 27sowie durch die allgemeine geistige Ratlosigkeit ausgelöst worden ist. 

2. Die Spanne zwischen dem Abenteurer des élan vital, dem glühenden Krieger, dem Protagonisten der totalen Organisation und dem »neuen Theologen« muß als wirklich durchschrittene aufgewiesen werden. Nur darin kann ein solcher Weg über die individuelle Existenz hinaus in Anspruch nehmen.

3. Die Stilform, die der verwirtschafteten Glaubwürdigkeit fast aller literarischen Formen der Forderung solcher Rechenschaft am ehesten entspricht, ist das Tagebuch. Der lebende Autor unterzieht sich einer äußersten Preisgabe, um an die Echtheit und Legitimität des Ursprunges seiner Aussagen heranzuführen. Um nicht Produkte, sondern Wege zu zeigen.

4. Jüngers »Strahlungen« sind ein Zeugnis solcher Notwendigkeit. Die Entfernung zwischen den Orten des Kriegers und des »neuen Theologen« bleibt nicht leere Weite, sondern es zeichnet sich wie in einem Koordinatensystem Punkt um Punkt, Erfahrung um Erfahrung, Schritt um Schritt ein, bis sich die Figur dieser geistigen Gestalt aus dem Unbestimmten heraushebt, in der dies alles zu überzeugender Einheit kommt.

5. Das Tagebuch verlangt mehr als bloßes Lesen. Es ist gar nicht lesbar. Es bleibt alles im Atomaren und Amorphen, wenn nicht der Leser wenigstens die Affinität, die aus der umfassenden geistigen Not der Gegenwart entsteht, mitbringt.

6. Die Interpretation muß einige der Kondensationskerne dieser geistigen Gestalt aufzeigen. Sie kann nur die Funktion eines Katalysators versehen, nicht aber Verständnis »mitteilen«.

1. In den letzten Tages des zweiten Weltkrieges notiert sich Jünger über die Arbeit im Garten und am Schreibtisch:

 

ob diese Tätigkeit nicht der jener Insekten gleicht, die man zuweilen am Wege antrifft – man sieht den Kopf noch fressen und die Fühler regen, während der Leib schon abgetreten ist. – Das ist indessen nur die eine Seite des Vorganges; 28die andere ist gleichnishaft, sakramental. Man sät ohne Erwartung, daß man auch ernten darf. Ein solches Treiben ist entweder: ganz und gar sinnlos oder: transzendental.[1] (S. 621)[2]

 

Diese Einsicht stellt die Klammer dar, die Leben und Werk Jüngers in der Einheit der Gestalt begreifen läßt: der Nihilismus ist nicht die einzige und absolute Konsequenz unserer geistigen Situation, sondern nur das eine Glied einer Alternative, die sich aus ihr ergibt. Wenn Leben und Sinn nicht zur Kongruenz zu bringen sind, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder ist das Leben überhaupt sinnlos (Nihilismus) oder sein Sinn liegt über die Realität hinaus (Transzendenz, »neue Theologie«).

2. J. behauptet freilich nicht, man müsse die nihilist. Alternative zunächst ad absurdum durchprobiert haben, um die transzendentale annehmen zu können.

3. Aber zweifellos ist das ein eigener Weg. Er ist alles andere als ein Rezept. Aber er ist im höchsten Grade paradigmatisch insofern, als die nihilistische Alternative doch auch im Zeitgeist zum Zuge gekommen ist. Was zu bewähren ist: Ob Jüngers eigenste Erfahrung sich am Zeitgeist zu bestätigen vermag.

4. J. läßt in den »Marmorklippen« den Bruder Otho über die »Mauretanierzeiten« – wie er dort seine Kriegerphase nennt – sagen, »daß ein Irrtum erst dann zum Fehler würde, wenn man in ihm beharrt« (S. 32).[3] Das kennzeichnet Jüngers Denkstil: er ist nicht auf Ismen und Weltanschauungen aus – und in diesem Sinne auch nicht dem Nihil»ismus« verfallen –, sondern nimmt das Recht in Anspruch, das Leben als Experiment zu sehen. Das ist an ihm noch ganz und gar neuzeitlicher Wissenschaftsgeist: die Universalität des Experimentes, der Erforschung, zugleich dessen Unverbindlichkeit, die unbedingte Freiheit und Verfügbarkeit seines Ansatzes.

5. Insofern gehört für ihn auch der Krieg unter die großen Möglichkeiten des Experimentes. Freilich nicht als Selektionsexperiment, das man von oben her mit Völkern vornimmt, sondern als höchster Grad der 29Selbsterprobung. Ein Beispiel nur für die Experimentalität dieses Erfahrungsstils. (»In Stahlgewittern« S. 301) von einer schweren Verwundung:

 

Nun hatte es mich endlich erwischt. Gleichzeitig mit der Wahrnehmung des Treffers fühlte ich, daß das Geschoß scharf ins Leben schnitt. Schon an der Straße vor Mory hatte ich die Hand des Todes gespürt, – diesmal griff er fester und deutlicher zu. Als ich schwer auf die Sohle des Grabens schlug, hatte ich das sichere Bewußtsein, daß es unwiderruflich zu Ende sei. Und seltsamerweise gehört dieser Augenblick zu den ganz wenigen, von denen ich sagen kann, daß er wirklich glücklich gewesen ist. In ihm begriff ich, wie durch einen Blitz erleuchtet, mein Leben in seiner innersten Gestalt. Ich spürte ein ungläubiges Erstaunen darüber, daß es gerade hier zu Ende sein sollte, aber dieses Erstaunen war von einer sehr heiteren Art. Dann hörte ich das Feuer immer schwächer werden, als sänke ich wie ein Stein tief unter die Oberfläche eines brausenden Wassers hinab.[4]

 

Solche Schärfe der Selbsterfahrung gibt den Aussagen Jüngers ihre Legitimation. Anders als wenn ein zeitgenössischer Philosoph sagt, es fehle uns »jeder Anhalt, ob überhaupt der Tod irgendwie sonderlich wichtig für den Menschen ist. Als bloßes Aufhören – mehr wissen wir von ihm nicht – ist er es jedenfalls nicht.«[5] (K 1466)

6. Überhaupt liegt darin die eigentliche Kraft der Jüngerschen Tagebücher; die prüfbare Präzision im Berichten seiner visuellen Erfahrungen verleiht ihm auch dort das Ansehen solider Gewissenhaftigkeit, wo er einzigartige, nicht für jedermann nachvollziehbare innere Erlebnisse und Erkenntnisse mitteilt. Das Sehen des Zoologen und Entomologen in seiner faszinierenden Schärfe und Treffsicherheit der Umsetzung ins Wort und die Einsicht des Metaphysikers und Zeitgeistdiagnostikers, die äußere und die innere Erfahrung bestätigen sich hier aneinander.

7. Die Kraft der Anspielung hat ihren Boden in der Zuspitzung, die J. dem theoretischen Ideal des wiss. Denkens gibt: im »Arbeiter« sagt er, daß das »Sehen« die »Aufgabe des heroischen Realismus« sei. Das Se30hen ist hier das Aushalten und Durchstehen der Realität. War die Theoria der Griechen der Ausgang und Ursprung auch des Ethos, so ist das Sehen Jüngers, wie er es bis zum »Arbeiter« praktiziert, der Rückzug auf eine »letzte« und darum »heroische« Möglichkeit des Menschen.

8. Zwar bleibt das an dieser Aufgabe gebildete und erbarmungslos geschärfte Organ dasselbe. J. sagt, daß er mit einer »überscharfen Beobachtung … gestraft« sei, »wie andere mit einem übermäßig feinen Geruchsorgan«. (Str. S. 294)[6] Aber diese Schärfe erschöpft sich nicht nur im Abtasten der Konturen, im Fixieren der Nuancen der Impressionen; sie dringt in Hintergründe ein, nimmt verborgene Ordnungsgefüge wahr. »Im Sichtbaren sind alle Hinweise auf den unsichtbaren Plan. Und daß ein solcher vorhanden sei, muß im Modelle nachzuweisen sein«. (Str. S. 17)[7]

9. Jüngers Sehen sublimiert seine »realistische« Schärfe dahin, daß es überall an den Phänomenen das Archetypische, den schöpferischen Urgedanken wahrzunehmen sucht. Die Landschaft des Kriegers und Arbeiters wandelt sich in die des Reisenden, des Schauenden.

 

Die Systematik ist und bleibt die Königin der Zoologie. Ihr ist es vorbehalten, den Willen zu erfassen, mit dem die Schöpfung sich, gerade in diesem Wesen zum Ausdruck bringt – den Auftrag zu erraten, mit dem sie es versah. Die Charaktere, das Eingeritzte, die Zauberrunen auf den Masken – das sind die Schlüssel zu stets der gleichen Lebenskraft. Der Reigen der Bilder, Originale, Schöpfungsgedanken, Hieroglyphen gibt Zuversicht wie kaum ein anderes Schauspiel dieser Welt und offenbart die Zeugungsfülle, die sich in ihren unsichtbaren Schatzkammern verbirgt. Denn alle diese Wesen sind ja nur flüchtige Schemen, sind Scheidemünze, die mit vollen Händen dem Staube zugeschleudert wird, und dennoch trägt eine jede das Wappen und das Abbild des Souveräns. Und das erklärt den Rausch, den Taumel, den Eindruck von unerhörter Beschenkung, der jeden echten Botaniker und Zoologen beim Eintritt in diese Bildersäle überfällt. (Atl. F.)[8]

 

10. Zusammenfassung: Jüngers experimentierender Stil schließt aus, daß sich aus seinen Erfahrungen ein Ismus, eine Doktrin ergibt; aber 31auch, daß der Mitmensch zum Objekt wird. Daß J. »stramm nihilistisch« (AH I)[9] ist, stellt für ihn eine jener äußersten Möglichkeiten dar, die das Experiment nicht auslassen darf.[10]

11. Absetzung gegen die Experimente auf dem Rücken der Völker, wie Hitler sie betrieb: »All seine Erfindungen hatten den Anstrich von Experimenten, die dann im größten Maßstab am deutschen Volke zur Anwendung gekommen sind … Er zeigt zunächst, daß solche Taten ausdenkbar und möglich sind, zerstört die Sicherungen und gibt der Masse Gelegenheit zur Zustimmung.« (Str. 562)[11]

1. Das Problem, das sich für die Sicht des »heroischen« Realismus ergab: wie der Mensch in der Welt der Maschinen und Waffen dem aushaltenden Sehen zuvor und als dessen Bedingung überhaupt fortbestehen kann.

2. Alles was im »Arbeiter« mehr als Deskription, als Durchleuchtung der Tendenzen der Zeit ist, was also als Leitbild die eigentliche Angreifbarkeit des »Arbeiters« ausmacht, läßt sich unter diese Fragestellung einordnen.

3. J. selbst sagt, daß die Legitimation des neuen Typus darin liegt, daß er die »Meisterung der Dinge, die übermächtig geworden sind«, die »Bändigung der absoluten Bewegung, die nur durch ein neues Menschentum zu leisten ist«, ermöglicht (A S. 76).[12]

4. Der »Arbeiter« ist also der erste Versuch, mit den Erfahrungen der großen kriegerischen Selbsterprobung fertig zu werden: vor allem mit der übermächtigen Autonomie der technischen Welt. Dafür bietet sich Nietzsches Schema einer Perfektion des Menschen selbst an. Die Gestalt des Arbeiters ist beschrieben als »organische Konstruktion«, symbolisiert im Bilde des »Kentauren«: das Organische ist Funktion des Tech32nischen und umgekehrt. Keine Übermacht mehr, weil keine Distanz. Kein Gehorsam, weil kein Außen. Neuer Monismus: Absolute Macht.

5. Arbeit, Leistung ist die Wirklichkeit des kentaurischen Zusammenhanges. Letzte Konsequenz einer abendländischen Grundposition, die »Leistung« als unausschlagbares Korrelat aller Erfüllungen ansieht. Die höchste Form dieser Funktionsmonade ist die »totale Mobilmachung«.

6. Man darf bei all diesen Konzeptionen das Grundanliegen nicht übersehen: den Menschen aus seiner gejagten Verlorenheit und Verzweiflung in eine klare, wenn auch kalte Wirklichkeit zurückzuretten. Das kentaurische Bündnis als höchste Form der Sicherheit: [daß] die »Identität von Arbeit und Sein eine neue Sicherheit, eine neue Stabilität zu gewährleisten vermag« (A S. 87).[13]

7. Es darf keinen Zustand geben, »der nicht als Arbeit begriffen wird«. Denkbar sind Gegengewichte des Kraftausgleichs, nicht aber das »Gegenteil« von Arbeit – dies wäre Vernichtung. Auf den Punkt des Arbeiters ist »Zerstörung nicht mehr anwendbar«. Ebenso durchbricht er die Zone des Zweifels und setzt die Möglichkeit eines neuen Glaubens.

8. Man sieht, wie hier überall schon die Notwendigkeiten spürbar sind, gleichsam die Leerformen für das, was Jünger später die »neue Theologie« nennen wird.

9. Dennoch gehört der »Arbeiter« dem Nihilismus zu: dieser liegt im Verzicht auf die Sinnfrage, aber auch darin, daß die Voraussetzung seines Handelns die tabula rasa, der leere Raum ist. Alles nihilistische Handeln muß den Anspruch der creatio ex nihilo machen.

10. Der Irrtum, der in dieser Voraussetzung liegt, zeigte sich darin, daß der Versuch zur Realisierung der totalen Arbeitswelt in dem Unmaß von Zerstörung erstickte, das die tabula rasa erst schaffen sollte.

1. Diese Zerstörung, das Wüten der »Feuerwelt«, ist dann auch für Jünger zum entscheidenden Kriterium gegen den »Arbeiter« geworden. 33Dabei bedurfte es nicht erst der faktischen Ruinierung unserer Welt; auch hier ist Jünger mit barometrischer Sensibilität der Realität voraus.

2. Schon in Mkl [»Marmorklippen«] weiß er, daß in den wirklich entscheidenden Auseinandersetzungen der Kriegsmut »im zweiten Treffen« steht (100).[14]

3. So wird es der eigentlich bedeutsame Ausblick auf die geistige Gestalt Jüngers, den aus dem Kriegserlebnis geformten Mann, der den Krieg als Vater aller Dinge erkannt zu haben glaubte, nun zwanzig Jahre später in den zweiten, ungleich gewaltigeren Krieg ziehen zu sehen. Und hier – bezeugt durch die Tagebücher – zeigt sich, daß der Nihilismus nur das eine Glied der Alternative war, die in der Not unserer geschichtlichen Situation wurzelt. Das andere Glied heißt: Transzendenz, neue Theologie.

4. J. bei einem Besuch des Malers Braque über dessen Bilder: »Der Augenblick, den sie für mich verkörpern, ist der, in dem wir aus dem Nihilismus auftauchen und uns der Stoff zu neuen Kompositionen zusammenschießt.« (Str. S. 421)[15]

5. Solches Auftauchen ist keine Verleugnung des Gewesenen. Im Gegenteil: J. spricht einmal von der »fürchterlichen Kraft« des Nihilismus, gegen die nur derjenige das Gegenspiel wagen kann, der selbst in die nihilistische »Schule« gegangen ist (Str. S. 571).[16]

6. Die Heilbarkeit des ungeheuren Krankheitsherdes, an die Jünger nun glaubt, beruht darauf, daß es sich nicht um ein mechanisches Fatum handelt, sondern um ein ganz und gar menschliches, ein inneres Ereignis. Daran glaubt Jünger schon im persönlichen Geschick:

 

Zur Katastrophe im Menschenleben: das schwere Rad, das uns zermalmt, der Schuß des Mörders oder auch des Leichtsinnigen, der uns trifft. Lange schon hatte sich in uns der Zündstoff angehäuft, nun wird von außen die Lunte angelegt. Aus unserem Innern kommt die Explosion. (Str. S. 95)[17]

 

347. So auch die globalen Zerstörungen. In den Mkl [»Marmorklippen«] gewinnt der Oberförster mit seinen Lemuren nur dadurch Macht, daß sich »tiefe Veränderungen in der Ordnung, in der Gesundheit, ja, im Heile des Volkes« vollzogen haben (109).[18] Und J. fährt fort: »Hier galt es anzusetzen, und daher taten Ordner not und neue Theologen, denen das Übel von den Erscheinungen bis in die tiefsten Wurzeln deutlich war; dann erst der Hieb des konsekrierten Schwertes, der wie ein Blitz die Finsternis durchdringt.«

8. Das Wort von den »neuen Theologen« ersetzt die Konzeption der kentaurischen Monade des »Arbeiters«.

9. Ihre Aufgabe kann es nicht sein, die Zerstörung aufzuhalten. Jüngers Einstellung zur Zerstörung:

1. sie schafft die tabula rasa, die alles Neue ermöglicht: »hinter der Verbrennung die Veränderung; die magischen Schmelzöfen, die glühen und zittern, während im rauschenden Blute der Geist in die Essenz eines neuen Jahrhunderts überdestilliert.«

2. sie gibt dem Elementaren den Weg frei, sie bricht die »Hochburgen der Sicherheit«, macht den »Triumph der Mauer« zunichte (in diese Linie fällt der Essay: »Über den Schmerz«);

3. sie schafft das Vergängliche, das Blendwerk aus dem Blick auf das Unvergängliche. »Jede Zerstörung nimmt nur die Schatten von den Bildern weg.« (GS S. 44)[19] Diese »platonisierende« Zuversicht kennzeichnet den J. des zweiten Weltkrieges. Sie ist der Keim seiner Transzendenzerfahrung, der »neuen Theologie«. Bezeichnend für die Kontinuität der Gestalt, daß sie im Zoologischen ansetzt und sich dort immer wieder auflädt. »Wenn die Tiere der Erde, wie ich oft in trüben Stunden fürchte, alle ausgerottet würden, so blieben sie doch in ihrer Unversehrbarkeit bestehen. Sie ruhen im Schöpfer, und nur ihr Schein wird ausgetilgt.« (GS S. 44)[20]

10. Die Entdeckung der unzerstörbaren Bereiche ist der eigentliche Inhalt der Tagebücher. Daß dies der Weg zu der »neuen Theologie« sein 35könnte, ist schon in den Mkl [den »Marmorklippen«] in der Gestalt des Pater Lampros angeklungen:

 

Wir fragten uns zuweilen, ob die Verderbnis ihm schon zu weit fortgeschritten scheine, um sie zu heilen; oder ob Bescheidenheit und Stolz ihn hinderten, im Streite der Parteien aufzutreten, sei es in Worten, sei es mit der Tat. Doch traf wohl Bruder Otho den Zusammenhang am besten, wenn er sagte, daß für Naturen wie die seine die Zerstörung des Schrecklichen entbehre, und sie geschaffen seien, in die hohen Grade des Feuers einzutreten wie durch Portale in das Vaterhaus. Er, der gleich einem Träumer hinter Klostermauern lebe, sei von uns allen vielleicht allein in voller Wirklichkeit. (S. 77)[21]

 

11. Um diese »volle Wirklichkeit« und ihre Transzendenz geht es Jünger. Sie gewährt die Gewißheit und Sicherheit, die ihm bei der Konzeption der »kentaurischen Monade« vorschwebte, die »Sicherheit im Nichts«, deren Symbol der Brennspiegel Nigromontans ist. Im Hinblick auf sie bekennt J. von seinen früheren Lebensphasen: »Wir kannten noch nicht die volle Herrschaft, die dem Menschen verliehen ist.« (Mkl S. 76)[22]

12. Daß diese Herrschaft nicht mehr auf »Arbeit«, nicht mehr auf der organischen Konstruktion beruhen kann, ist klar. Aber die Kategorie ist gewonnen, die Sicherheit und Gewißheit verbürgt; der Urtypus ist hier wie dort derselbe: »in der Bindung leben« (Mkl S. 109).[23] Die Namen dieser Bindung heißen jetzt vorzüglich: Gebet und Opfer.

13. Der Übergang von der Arbeit zum Gebet gehört, das verkennt Jünger nicht, zu den kühnsten Wandlungen des Menschen.[24] Es ist unendlich leichter; die Bewegung zu steigern als zur Stille zu bringen – darauf beruht der Vorteil des Nihilisten, und das macht das »ungemeine Wagnis der theologischen Aktionen, die sich anbahnen«, aus (Str. S. 8).[25]

14. Beim Lesen der Bibel, das die Pariser Tagebücher durchzieht. Jakobs Kampf mit dem Engel:

 

36Der Mensch darf sich nicht billig besiegen lassen: Gott muß sich ihm aufzwingen. Er wird in Versuchung kommen, sich aus Mattigkeit niederzuwerfen, sich fallen zu lassen, ehe er völlig durchdrungen, ganz unterjocht ist von der Hohen Kraft. Das ist eine besondere Gefahr unserer Zeit, in der die große Bedrohung die Menschen in Massen … zum Kreuze treiben wird. (Str. S. 597)[26]

 

Der ganze Ernst der neuen Theologie, die nichts preisgeben will, was sich der Mensch legitim errungen hat:

 

Wir müssen uns in unserer Eigenschaft als Rationalisten überwinden lassen, und dieser Ringkampf findet heute statt. Gott tritt den Gegenbeweis gegen uns an.[27] (l. ‌c.)

 

Das ist das Bild des Zeitgeschehens, aber es trifft Jüngers eigene Existenz. Es macht seine Freiheit und Wahrhaftigkeit aus, wie er sich dieser Gegenargumentation stellt.[28]

15. Wie Jünger seiner Optik treu geblieben ist, auch wenn er sie auf andere Dimensionen gewandt hat, das überrascht immer wieder. So über die Speisung der Gefangenen: »Einer Zeit, die sich so auf die Energetik versteht, ist doch die Kenntnis der ungeheuren Kräfte verloren gegangen, die in einem Stückchen mitgeteilten Brotes verborgen sind.« (Str. S. 623)[29]37



[1] da Mittellage fehlt

[2] [Ernst Jünger, »Strahlungen«, Tübingen 1949, S. 621.]

[3] [Ders., »Auf den Marmorklippen«, Hamburg 1938, S. 32.]

[4] [Ders., »In Stahlgewittern«, Leisnig 1920, S. 301.]

[5] [Nicolai Hartmann, »Zur Grundlegung der Ontologie«, Berlin 21941, S. 197. In der Klammer vermutlich Verweis auf eine Karteikarte.]

[6] [Ernst Jünger, »Strahlungen«, Tübingen 1949, S. 294.]

[7] [Ebd., S. 17.]

[8] [Ders., »Atlantische Fahrt«, Zürich 1948, S. 97.]

[9] [Ders., »Das abenteuerliche Herz«, Berlin 1929, S. 186.]

[10] Widerspruch

[11] [Ernst Jünger, »Strahlungen«, S. 562.]

[12] [Ders., »Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt«, Hamburg 1932, S. 76.]

[13] [Ebd., S. 87.]

[14] [Ders., »Auf den Marmorklippen«, S. 100.]

[15] [Ders., »Strahlungen«, S. 421.]

[16] [Ebd., S. 571.]

[17] [Ebd., »Strahlungen«, S. 95.]

[18] [Ders., »Auf den Marmorklippen«, S. 109.]

[19] [Ders., »Gärten und Straßen«, Berlin 1942.]

[20] [Ebd.]

[21] [Ders., »Auf den Marmorklippen«, S. 77.]

[22] [Ebd., S. 76.]

[23] [Ebd., S. 109.]

[24] Vorformen der Gnade: Traum – Buch [unsicher] – Wandlung

[25] [Ernst Jünger, »Strahlungen«, S. 8.]

[26] [Ebd., S. 597.]

[27] [Ebd.]

[28] Kritik des Theologiebegriffs. Theologie nicht auf der Basis wechselseitiger Argumentation. Problematik des Opferbegriffs.

[29] [Ernst Jünger, »Strahlungen«, S. 623.]