Paul Claudel, »Der seidene Schuh«

Don Pelayo, Richter der spanischen Krone im ausgehenden 16. Jahrhundert, hat die sehr viel jüngere Französin Proeza zur Frau genommen. Bevor Pelayo ein Kommando über die spanischen Festungen an der nordafrikanischen Küste übernimmt, hat er als Ältester seiner ganzen Familie noch deren Angelegenheiten zu ordnen. Da er den Ausfahrthafen deshalb auf Umwegen erreichen wird, vertraut er Proeza seinem Freunde Don Balthazar an, der sie auf dem kürzesten Weg zu dem Hafen bringen soll.

Um Proeza bemüht sich, jedoch vergeblich, ein Vetter Pelayos und sein Stellvertreter im afrikanischen Kommando, Don Camillo. Proezas Herz gehört im geheimen Rodrigo, einem kühnen Pionier der spanischen Welteroberung, den sie kennen lernte, als er zu Tode erschöpft von einer afrikanischen Unternehmung zurückkehrte. Proeza wird alles daran setzen, Rodrigo wieder zu sehen, der inzwischen vom König mit der Statthalterschaft über Amerika betraut worden ist.

Es gelingt Proeza, dem Gewahrsam Balthazars zu entfliehen. Durch ein Mißverständnis wird Balthazar getötet. Proeza findet bei der Mutter Rodrigos Aufnahme; dieser selbst ist bei einem nächtlichen Gefecht mit Räubern schwer verwundet worden und befindet sich ebenfalls im Hause seiner Mutter, ohne daß Proeza zu ihm darf. Pelayo erscheint, um Proeza mit sich zu nehmen; er sieht, daß sie von ihrer Ehe mit ihm nicht erfüllt ist, und betraut sie deshalb mit einer fast unmöglichen Aufgabe, dem Kommando über die Festung Mogador, die der unzuverlässige Camillo bis dahin befehligte. Sie soll ihn zu ihrem Leutnant machen.

Rodrigo macht zur Bedingung für die Übernahme seiner amerikanischen Aufgabe, daß der König Proeza von diesem Kommando entbindet. Er selbst überbringt ihr bei seiner Ausfahrt nach Amerika einen Brief des Königs und Don Pelayos. Camillo empfängt Rodrigo und übergibt ihm die Antwort Proezas »Ich bleibe – Geht!«38

Während Rodrigo an die Aufgabe der Kolonisierung Amerikas herangeht und diese neue Welt zu der seinen zu machen sucht, behauptet Proeza verbissen und ohne jede Hilfe der spanischen Macht ihre Stellung in Afrika. Als ihr Gatte Pelayo gestorben ist und sie keine andere Möglichkeit mehr sieht, sich Camillos zu versichern, der mit dem Islam konspiriert, willigt sie in die Ehe mit ihm ein. Camillo hat die physische Macht über sie, sie beherrscht aber seinen Willen. In einer tiefen Empfindung ihrer ausweglosen Situation schreibt sie den Brief an Rodrigo, der ihn zu ihr ruft. Dieser Brief hat ein abenteuerliches Schicksal und erreicht seinen Adressaten erst zehn Jahre später. Er trifft Rodrigo in der vollen Hingabe an sein Werk der Erschließung der neuen Welt an. Sofort läßt Rodrigo Amerika im Stich und erscheint mit seiner Flotte vor der Festung Mogador.

Die Festung kommt in eine hoffnungslose Lage, da sie gleichzeitig von den aufständischen Stämmen angegriffen wird. Camillo bietet Proeza als Preis für den Abzug der Flotte an; sie selbst erscheint auf dem Schiff Rodrigos mit ihrem Kind, Maria Siebenschwert, das sie von Camillo hat, das aber die Züge Rodrigos trägt. Proeza steht bis zuletzt zu ihrer Aufgabe: sie zwingt Rodrigo, das Angebot abzulehnen, überläßt ihm das Kind und kehrt in die Festung zurück, mit der sie sich selbst in die Luft sprengt.

Rodrigo fällt wegen der Vernachlässigung Amerikas beim König in Ungnade und wird auf die Philippinen als Gouverneur geschickt. Im Kampf mit den Japanern verliert er ein Bein. Seinen Lebensabend verbringt er in den spanischen Gewässern auf einem alten Schiff, auf dem er mit Heiligenbildern in japanischer Manier handelt. Er wird in seiner Gier nach Weltgestaltung zum Opfer einer Mystifikation: die falsche Nachricht vom Sieg der Armada über die Engländer bestimmt den König, ihm England als Statthalterschaft zu übergeben. Rodrigos große Pläne für dieses Amt ziehen ihm die Anschuldigung der Verräterei zu. Die Wahrheit von der Niederlage der Armada läßt diese Illusion zerplatzen. Während die Tochter Proezas sich der Flotte Don Juans d'Austria zum Kampf gegen die Heiden anschließt, versinkt Rodrigo in letzte Nichtigkeit und Lächerlichkeit. Wir verlieren ihn in dem Augenblick aus den Augen, als Soldaten den Krüppel an eine lumpensammelnde Nonne verschenken.39

Dieser dramatische Kern schält sich aus einer verwirrenden Fülle von Szenen heraus, die das Geschehen ins Weltgültig-Symbolische emporheben, oder es im Grotesk-Parodierenden widerspiegeln.

»Der Schauplatz dieser Handlung ist die Welt ‌…« Zur Realität dieser Welt gehören aber auch der Engel, die Musik, die Sünde, das Sakrament. In dem dargestellten dramatischen Kern geht die Dichtung nicht auf; sie spielt entscheidend im Metadramatischen.

Die Frage nach der Möglichkeit der Gestalten und des Geschehens darf deshalb nicht auf einer psychologischen Ebene gestellt werden.

Proeza ist nicht die Liebende oder Geliebte des bürgerlichen Romans. Sie kennt ihre Freiheit und nimmt sie in Anspruch, aber sie fleht zugleich Don Balthazar an: »Laßt mir nicht diese grausame Freiheit!« Der Mensch ist nicht mit seinem Willen und seiner Freiheit allein; bevor P. das Haus Pelayos verläßt, übergibt sie ihren seidenen Schuh dem Bild der heiligen Jungfrau: »Ich sage dir vorweg, daß ich in Kürze Dich nicht mehr sehen und alles in Bewegung setzen werde gegen dich.« Deshalb ist alles, was sich im Bewußtsein und Willen abspielt, nicht mehr das Entscheidende. Die Ebene, in der die Gestalt der Proeza verwurzelt ist, ist in der Sprache der Theologie die des Sakramentalen.

Rodrigo ist bei aller Gier nach Welt und Weltgestaltung, nach Herrschaft über die Realität unendlich weit davon entfernt, ein anderer Faust zu sein. Das Faustische liegt im Anspruch, das Unendliche menschlich und irdisch zu überwältigen. Was Rodrigo daran hindert, ein anderer Faust zu sein, was ihm ermöglicht, in der Glut seines Durstes nach der Geliebten die Ehe unverletzlich zu halten und den Verzicht zu wählen, das ist die Reserve, die für den Menschen dieser Welt in der Ewigkeit liegt. Auch Rodrigos Gestalt steht im Metadramatischen: am Anfang der Dichtung steht das Gebet für Rodrigo, das der im Weltmeer versinkende Missionar für ihn spricht.

Camillo, der Mensch, der sich aus der Einheit der christlichen Welt ausschließt. Bezeichnend, daß er sich damit aus dem Sein überhaupt ausschließt und sich in das Nichts zu stürzen sucht. Dieses Nichts ist der Ort, der die Leidenschaft in ihre absolute Isolierung bringt. »Mit mir 40an einem Ort zu sein, wo nichts mehr ist, rein gar nichts. Nada!« »Ist es denn nichts das Nichts, das uns von allem löst?« Camillo will den Nullpunkt der Welt in sich und seiner Leidenschaft. »Dort will ich ein Reich mir schmieden, ein kleines Kastell für mich ganz allein zwischen beiden Welten ‌… So allein, daß niemand als Ihr mich jemals dort aufsuchen kann.« Der Nihilismus des weltlosen Menschen. Weltlosigkeit = Gottlosigkeit.

An Camillo, dem großen Gegenspieler der Welt Rodrigos, zeigt sich, wie entscheidend die Haltung zur Welt bei Claudel ist.

Welt nicht »series«, universum, auch nicht Kosmos. Welt ist die Notwendigkeit alles Seienden füreinander. Das ist der Inhalt eines Weltdramas, wie es Claudel gewollt hat.

Der Missionar sagt von Rodrigo: »Er gehört zu denen, die sich nicht anders retten können, als indem sie das ganze Gewimmel miterlösen, das in ihrem Gefolge, durch sie Gestalt gewinnt.« Die Verschlungenheit des Menschen in die Welt. Das Heil ist hier nie das eines einzelnen.

Parodiert an dem Verhältnis Rodrigos zu seinem chinesischen Diener.

Rodrigo–Proeza. Rodrigo: »Wann könnte ich aufhören, das zu sein, wodurch sie einzig am Leben ist?« »Niemals anders als einer durch den andern wird es uns gelingen, den Tod darnieder zu zwingen ‌…«

Inbegriff und höchstes Symbol dieser das Einzelne durchwaltenden Notwendigkeit ist die Musik. Das Schicksal der Dona Musica durchzieht die Dichtung.

Claudel will den christlichen Begriff des Nächsten nicht voraussetzen und aus ihm ein Bild des Menschen ableiten. Sondern er gestaltet die Welt, in der der Begriff des Nächsten, des Menschen, für den je ich der Notwendige bin, erst sinnvoll wird.

Das Schöne entspringt dort, wo diese Welt wirklich »weltlich« ist. »Was schön ist, eint, was schön ist, stammt aus Gott!« Das Gegenreformatorische Claudels: gegen eine »Alchimie des Heils«, die auf ein ›persönliches, geheimes Unterfangen im engen Kämmerlein‹ eingeschränkt ist, »vom Himmel lösend die Erde, die nunmehr käufliche, entheiligte, geknechtet, auf Herstellung des Nützlichen beschränkt«.41