Das Problem des Nihilismus in der deutschen Literatur der Gegenwart
[Vortragsankündigung]

 

 

Der Begriff »Nihilismus« wurde zuerst von Franz von Baader in der Rede »Über die Freiheit der Intelligenz« (1826) gebraucht, und zwar in bezug auf den »für die Religion destruktiven Mißbrauch der Intelligenz«. Seit Turgenjews Roman »Väter und Söhne« (1861) wurde er auf die radikalen Strömungen in Rußland übertragen und bekam dadurch den Hauptton eines anarchistischen Aktivismus. Die Doppeldeutigkeit des historischen Schicksals der abendländischen Werte und des aktiven Sturzes derselben besteht auch in Nietzsches Begriff des »europäischen Nihilismus«. Neuerdings hat Martin Heidegger den Nihilismus als die entscheidende Peripetie in der Geschichte der Metaphysik zu deuten versucht. »Der Nihilismus [ist] in seinem Wesen eine Geschichte, die sich mit dem Sein selbst begibt.«

Der nihilistische Prozeß läßt sich folgendermaßen beschreiben: Jede geschichtliche Epoche steht auf einem Boden von Gewißheit, der für sie fraglos und selbstverständlich gültig ist und von dem her alles Wirkliche, Echte, Verbindliche als solches seinen Bestand hat. Treten nun aber im Zentrum des Bewußtseins Erfahrungen auf, die sich mit dem bis dahin fraglosen nicht vereinigen lassen, so kommt es zu einer Krise der fundamentalen Wirklichkeitsgewißheit, und diese Krise wird um so umfassender und akuter sein, je bedrängender und unabweisbarer jene Erfahrungen sind. »Nihilismus« ist der Name der universalen und radikalen Krise der Gewißheit überhaupt.

Der Nihilismus der Gegenwart ist die akute Krise des Wirklichkeitsbewußtseins der Neuzeit in seinen letzten Grundlagen. Die großen geistigen und technischen Errungenschaften der Neuzeit beruhen auf der Voraussetzung, daß alles, was wirklich ist, eben als solches auch zum Objekt einer methodisch vorgehenden Erkenntnis und alsdann der technischen Herrschaft des Menschen müsse werden können. Die totale Objektivierung der Wirklichkeit verwirklicht sich als der »Fortschritt« der 42Geschichte. Furchtbare und unabweisbare Erfahrungen haben gezeigt, daß diese Voraussetzungen nicht durchzuhalten waren. Damit aber ist das Wirklichkeitsverständnis als Ganzes infragegestellt, und die in ihm verwurzelten Werte und Normen sind ins Wanken gekommen.

Das Problem des Nihilismus liegt nun darin, das Wirklichkeitsbewußtsein aus seiner Krise derart zurückzugewinnen, daß jene Erfahrungen nichtobjektivierbarer Wirklichkeit von ihm nicht mehr ausgeschlossen werden. Es kommt also zunächst darauf an, diese Erfahrungen hinsichtlich ihres Seinsgehaltes aufzuschließen. Hierin liegt die hervorragende Bedeutung der Literatur der Gegenwart, daß sie, der philosophischen Analyse meist weit voraus, den Bereich solcher im traditionellen Wirklichkeitsbegriff nicht aufgehenden Erfahrungen als Aufgabe der künstlerischen Gestaltung erkannt und übernommen hat.

Die deutsche Literatur, obwohl im Brennpunkt nihilistischer Ereignisse stehend, kann sich heute an künstlerischer Gültigkeit nicht in die vorderste Linie stellen. Ihre Kennzeichen sind entweder die ratloser Bestürzung oder raffinierter Flucht; aber gerade darin kommt das Phänomen und Problem des Nihilismus zur unübersehbaren Aufdringlichkeit.

Die herangezogenen Werke: Franz Kafka: »Die Verwandlung« (1916), »Der Prozeß« (aus dem Nachlaß 1925), »Das Schloß« (aus dem Nachlaß 1926). Hermann Kasack: »Die Stadt hinter dem Strom« (1947). Ernst Jünger: »Über den Schmerz« (1934), »Auf den Marmorklippen« (1939), »Strahlungen« und »Heliopolis« (1949). Elisabeth Langgässer: »Das unauslöschliche Siegel« (1946). Ferner: Martin Heidegger: »Holzwege« (1950) als erstes dem Problem adäquates philosophisches Zeugnis.43