Carrie
Der Umschlag in meiner Hand fühlt sich genauso brennend an wie die Hitze, die der Mann, der ihn mir übergeben hat, in meinem Körper auslöst.
Ich sehe zu, wie Reid um die Ecke biegt und offensichtlich den Weg nach Hause einschlägt. Unsere Wohnungen befinden sich in einer Gegend, die sich parallel zum Strand erstreckt und in der sich neben den Häusern mit Meerblick auch zahlreiche Restaurants mit Terrasse befinden. Ich werde den Umschlag ganz sicher nicht hier öffnen, wo mich jeder sehen kann. Deshalb haste ich in dem Moment, als Reid nicht mehr zu sehen ist, in mein Wohnhaus und direkt in den Fahrstuhl.
Nachdem ich auf den Knopf für meine Etage gedrückt habe und die Türen sich öffnen, werfe ich einen Blick auf den Umschlag, mache ihn jedoch nicht auf. Obwohl ich nicht zu den Menschen gehöre, die Problemen aus dem Weg gehen, graut es mir vor dem Inhalt. Am grausamsten und schlimmsten könnte er mich für die Aktion mit den Handschellen bestrafen, indem er mich erst aufbaut und dann so richtig niederschmettert; indem er mir das zurückgibt, was er mir genommen hat, um es mir anschließend erneut zu entreißen. Ich will ihm das gar nicht zutrauen, aber immerhin hatte er Jean Claude Laurette als Lehrmeister, einen Mann, den man nicht ohne Grund »Das Ungeheuer von der Wall Street« nennt.
So schaue ich nur reglos zu, wie die Stockwerke an mir vorbeiziehen – was ziemlich schnell geht, da ich im dritten Stock wohne, und das aus gutem Grund. Es war billiger. Mehr hätte ich mir mit meinen ersten drei Bonusauszahlungen der Firma nicht leisten können, und die Drei kam mir wie eine Glückszahl vor. Dachte ich zumindest damals. Trotzdem habe ich die Wohnung nun zum Kauf angeboten. Zwar zieht sich mir allein bei dem Gedanken daran der Magen zusammen, aber es ist der richtige Schritt. Ich muss das tun, bevor mir das Wasser bis zum Hals steht.
Die Fahrstuhlklingel ertönt, und Sekunden später trete ich aus der Kabine, gehe links den Gang hinunter, und als ich den Schlüssel in das Schloss meiner ersten Eigentumswohnung stecke, frage ich mich, ob ich je wieder über so viel finanzielle Sicherheit verfügen werde, dass ich mir eine Wohnung in Battery Park kaufen kann. Doch diese negativen Gedanken schiebe ich erst einmal beiseite und betrete stattdessen mein kleines Reich. Drinnen werfe ich die Schlüssel auf den Tisch im Eingangsbereich, bevor ich über das dunkle Hartholzparkett bis ins Wohnzimmer gehe. Dort bleibe ich ausnahmsweise mal nicht vor den drei ovalen Fenstern an der Vorderseite stehen, die ich so liebe. Obwohl ich nur Aussicht auf einen Weg und nicht aufs Wasser habe und das Apartment nur mit einer ziemlich engen Küche ausgestattet ist, hat mir der Makler versichert, dass ich die Wohnung schnell loswerde. Sie ist einfach hübsch, und die Lage ist traumhaft.
Ich steige die Treppe hoch zu meinem Schlafzimmer, dem einzigen Raum neben dem Wohnbereich, und stelle meine Handtasche auf das blaugrün überzogene Bett. Dann gehe ich zu dem gleichfarbigen Sessel neben dem Fenster hinüber, streife mir die Schuhe von den Füßen und starre erneut auf den Umschlag, während sich das unangenehme Gefühl in meinem Bauch verstärkt. Möglicherweise wollte Reid nur, dass ich vor den Angestellten gut über ihn spreche, bevor er mir kündigt. Das könnte gut sein, aber im Grunde genommen glaube ich nicht, dass Reid so etwas Feiges tun würde. Er mag zwar hart, arrogant und unmöglich sein, aber er ist kein Feigling. Ich anscheinend schon, sonst hätte ich das dumme Ding endlich mal aufgemacht.
Schließlich reiße ich die Lasche auf und überfliege rasch das Dokument, das sich in dem Umschlag befindet. Es ist das Versprechen, mein Gehalt nach Ablauf der sechsmonatigen Frist ab dem Zeitpunkt der feindlichen Übernahme zu verdoppeln und in einer Summe auszuzahlen. Ein Teil von mir freut sich darüber, dass er sein Versprechen tatsächlich gehalten hat, doch der andere Teil befürchtet, dass Reid das nur macht, um mir etwas Gutes zu tun, weil er insgeheim fest mit meinem Versagen rechnet. Diese Möglichkeit würde allerdings voraussetzen, dass er ein Herz hat. Hat er eins?
Ich muss an den Fall denken, bei dem er die Familien der Mordopfer vertritt, ohne Honorar, und mir fällt das Wort »gerettet« ein. Er übernimmt Firmen, um alle daran Beteiligten zu retten. Wenn da in seiner Brust tatsächlich ein Herz schlägt, dann will er mit diesem Gehaltsversprechen sicherstellen, dass ich am Ende nicht mit weniger gehe, sondern mit mehr. Aber gehen werde ich so oder so?
Wieder verengt sich mein Magen zu einem Knoten. Ich muss das wissen. Sofort. Ohne Beschönigung. Sag mir ganz klar, wie es ist.
Ich stehe auf und gehe zum Bett hinüber, nehme mein Handy und kehre damit zum Sessel zurück. Bereit, alles anzunehmen, was Reid mir ins Gesicht schleudert, kuschle ich mich ins Polster und wähle ohne zu zögern seine Nummer.
»Brauchst du doch eine Ablenkung heute Nacht?«, meldet er sich gleich beim ersten Klingeln.
»Reid«, sage ich sanft und gehe gar nicht erst auf sein Spielchen ein.
Er weiß sofort, was ich will. »Das ist eine Bestätigung für das Vertrauen, das ich in dich setze«, versichert er mir. »Und interpretiere da gar nicht erst irgendwas anderes rein. Ich meine, was ich sage. Und ich tue auch, was ich sage.«
»Aber der Vorstand glaubt nicht an mich.«
»Das wird er schon noch«, entgegnet er.
»Das heißt also nein, sie glauben nicht an mich.«
»Hast du die Karte in dem Umschlag gefunden?«
»Nein, ich hab keine gesehen. Warte mal.« Ich krame in dem Umschlag herum und hole Reids Visitenkarte heraus. Als ich sie umdrehe, entdecke ich eine Rufnummer und die Worte Meeting der Anteilseigner, neun Uhr auf der Rückseite. »Du lässt mich live mithören?«
»Ja. Es wird aber nicht leicht sein: Du wirst auch alles hören, was die über deinen Vater sagen werden.«
»Ich bin mir durchaus über das im Klaren, was mein Vater gemacht hat«, gebe ich zurück. »Ich verkrafte das schon. Danke, Reid«, füge ich in sanfterem Tonfall hinzu.
Er schweigt einige Sekunden lang, und ich denke schon, er hat aufgelegt, als er sagt: »Der Fall, an dem ich gerade arbeite – der für die Angehörigen der Mordopfer -, der Bruder eines der Opfer hat die Frau meines Mandanten angegriffen. Er war noch in einer psychiatrischen Klinik zur Begutachtung, und man wollte uns Bescheid sagen, sobald er entlassen wird. Hat man allerdings nicht, und jetzt hat er sie erneut attackiert.«
»O Gott. Geht’s ihr gut?«
»Ja, aber ich muss mich morgen nach dem Meeting mit den Anteilseignern darum kümmern.«
»Was hast du vor?«
»Dem Bezirksstaatsanwalt den Arsch aufzureißen. Ich glaube nämlich, er hat das absichtlich gemacht, um uns zu zeigen, wer der Chef ist, aber das hat sich gerächt, als der Typ die Frau meines Mandanten angegriffen hat.«
»Du bist jetzt aber nicht plötzlich doch ein guter Kerl und kümmerst dich kostenlos um Menschen, die dich brauchen, oder?«, ziehe ich ihn auf.
Seine Antwort kommt prompt und direkt. »Nein, Carrie. Ich bin kein netter Kerl. Das solltest du auch nie vergessen.« Dann legt er auf. Das ist typisch für ihn, das verstehe ich jetzt. Er will nicht, dass man sich bei ihm bedankt oder hinter seine Fassade blickt. Es geht ihm auch gar nicht um mein Verhältnis zu seinem Bruder. Er will einfach nur nicht, dass mich irgendetwas ablenkt. Wahrscheinlich hat er mir das Geld auch nur gegeben, weil er mich unter Kontrolle haben will. Nun brauche ich mir keine Sorgen mehr darüber zu machen, mir einen neuen Job zu suchen, falls ich diesen nicht behalten kann. Mit anderen Worten, das hier ist seine Art, mich daran zu erinnern, dass er mich zwar vielleicht vögeln will und mich in finanzieller Hinsicht braucht, aber wirklich leiden kann er mich nicht, und er will auch nicht, dass ich ihn mag.
***
Am nächsten Morgen wache ich wegen der Vorstandssitzung mit einem nervösen Ziehen in der Magengegend auf. Ich laufe acht Kilometer durch den Park und bin trotzdem eine Stunde vor allen anderen im Büro, in einem roten, Macht ausstrahlenden Kostüm. Mir bleibt sogar noch Zeit, Scones zu kaufen und einen davon Sallie auf den Schreibtisch zu stellen, mit einer Notiz an der Tüte: Jetzt musst du mir deine Buttertoffee-Kekse backen, denn ich liebe diese Kekse, und sie findet es toll, dass sie mir so gut schmecken. Um acht Uhr vierzig bin ich nicht nur extrem koffeiniert, sondern auch noch nervöser wegen des Meetings.
Sallies Stimme kommt durch die Telefonanlage: »Ich habe Connie dran, Reids Sekretärin. Und noch zur Info: Sie hat vollen Zugang zum Gebäude.«
»Super, danke.«
Ein Summen ertönt, und ich nehme den Anruf entgegen. »Hi, Connie.«
»Hi, Carrie, ich freue mich schon darauf, Sie bald kennenzulernen.«
»Ich dachte, Sie kämen heute schon hierher.«
»Reid meinte, erst nach dem Meeting mit den Anteilseignern, das bei uns stattfindet – was ich nur weiß, weil ich im Laufe der letzten zehn Jahre gelernt habe, seine Anweisungen zu entschlüsseln. Das heißt, wir sehen uns wahrscheinlich erst morgen. Davon abgesehen wollte ich Ihnen nur sagen: Falls Sie irgendwelche Probleme haben sollten, sich in das Meeting einzuwählen, rufen Sie mich an. Sallie hat sämtliche meiner Nummern.«
»Oh, super. Danke.«
»Danke – das habe ich ja schon lange nicht mehr gehört. Vielleicht können wir Reid das Wort gemeinsam beibringen. Ach, nein, vergessen Sie’s, wir betrinken uns einfach irgendwann mal zusammen.« Im Hintergrund ertönt Reids Stimme. »Wenn man vom Teufel spricht. Ich muss auflegen. Bis dann, Carrie.« Sie beendet die Verbindung.
Ich mag sie jetzt schon. Sehr sogar. In diesem Moment steckt Sallie den Kopf zur Tür herein und macht das Daumen-hoch-Zeichen, was bedeutet, dass sie Connie ebenfalls mag. Und sie arbeitet wirklich schon zehn Jahre für so einen launischen, fiesen Chef wie Reid? Diesen Gedanken hebe ich mir erst einmal für später auf, in zehn Minuten beginnt das Meeting.
Ich wähle mich in das Meeting ein, aber niemand weiß davon. Reid beginnt das Meeting und kommt direkt zum Punkt.
»Wie Sie mittlerweile alle wissen, habe ich mich mit Carrie West zusammengeschlossen, um mit ihr gemeinsam unsere Umsatzvorgaben zu erreichen.«
Zusammengeschlossen.
Dieses Wort hätte ich aus seinem Mund gar nicht erwartet.
Es folgen einige Fragen über mich, doch Reid wehrt sie ab.
»Ich will gar nicht erst meine und Ihre Zeit beziehungsweise unser Geld verschwenden. Carrie ist nicht wie ihr Vater. Sie war gegen die falschen Entscheidungen, die getroffen wurden, und das wurde in jedem einzelnen Fall dokumentiert. Sie hat das Zeug zu einer guten Geschäftsführerin: Sie ist klug, präzise, wird von allen Angestellten sehr geschätzt und ist die tragende Säule für die Finanzen der Firma. Ich gehe davon aus, dass ich ihr in den nächsten dreißig Tagen die Leitung übergeben kann.«
Eine Diskussion erhebt sich, und es gibt den Einwand, dass der Zeitrahmen zu kurz ist, doch Reid bleibt standhaft bei jeder Wendung, die die Debatte nimmt. Nachdem sie mich als Thema abgehakt haben, wendet sich das Gespräch den Finanzen, zukünftigen Projekten, Strategien und Fixkosten zu, und die Liste lässt sich endlich fortsetzen. Ich mache mir Notizen auf meinem Laptop, und wenn Pausen entstehen, schreibe ich auf, wie ich gewisse Fragen, Kommentare oder Feststellungen widerlegen würde.
Das Meeting dauert ganze zwei Stunden, und ich widerstehe dem Drang, mich per Textnachricht bei Reid zu bedanken. Gestern Abend hat er mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er das nicht will. Deshalb tippe ich stattdessen meine Notizen zu Ende und maile sie ihm gerade, als mein Handy klingelt und seine Nummer auf dem Display aufleuchtet.
»Hallo«, melde ich mich schnell.
»Ich brauche die Antworten auf sämtliche Fragen, die in dem Meeting gestellt wurden«, sagt er ohne Vorrede. »Ich will deine Ansichten mit meinen abgleichen, bevor ich heute Mittag zu einem Geschäftsessen muss.«
»Ist schon in deinem Postfach.«
»Ich brauche das detailliert, Carrie.«
»Ich hab mir schon beim Zuhören Notizen gemacht und sie danach noch ergänzt. Du hast also alles, was du brauchst.«
Er schweigt etwa zwei Atemzüge lang. »Ich komme gegen fünf ins Büro. Stell dich schon mal auf einen langen Abend ein.« Er legt auf, wieder völlig in seinem Arschlochmodus, was mich ziemlich beunruhigt.
Wie viel Druck macht ihm der Vorstand wohl außerhalb der Sitzung und weswegen? Meinetwegen? Will er deshalb meine Notizen haben? Lehnt der Vorstand mich doch ab und drängt Reid dazu, das Unvermeidliche zu tun? Ich muss an genau das denken, woran ich Reids Meinung nach denken soll: an ihn zwischen meinen Schenkeln. Und anschließend kann ich fast spüren, wie er mich mit seinem breiten Körper gegen eine Tür oder Wand drängt. Ständig fasst er mich an, und er drückt jeden Knopf, auf den mein Körper anspringt. Vielleicht ist genau das der Punkt: Nicht der Vorstand ist das Problem. Es ist Reid, der mich immer näher an den Abgrund drängen will, zu dem Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Aber was bezweckt er damit?