Carrie
Den Rest des Tages höre ich nichts mehr von Reid, doch kurz bevor er ins Büro kommen wollte, streckt Sallie ihren Kopf in mein Büro.
»Ich mache jetzt Feierabend, aber dein Vater ist am Telefon.«
»Stell ihn durch, und bis morgen.«
»Ich bringe Kekse mit«, verkündet sie noch lächelnd, bevor sie verschwindet. Ich hoffe, sie bringt mir eine halbe Tonne davon mit – unter Stress esse ich nämlich besonders viel.
Mein Telefon summt, und sofort verspüre ich Unbehagen; ein Gefühl, das ich gerade bei meinem Vater nicht haben sollte, aber es ist da.
»Hi, Dad«, melde ich mich.
»Ich habe eben das Protokoll der Vorstandssitzung gelesen«, sagt er ohne seine übliche Vorrede. »Die werden dich nie als Geschäftsführerin akzeptieren.«
Seine Worte treffen mich wie ein Schlag in den Magen.
»Vielen Dank für deine Aufmunterung, Dad.«
»Das hat gar nichts mit dir zu tun, genau darum geht es mir doch. Du hast es nicht verdient, wegen mir mit Füßen getreten zu werden. Ich dachte, du wärst nur noch für den Übergang in der Firma.«
»Und ich dachte, die würden mich rausschmeißen«, entgegne ich. »Aber Reid Maxwell hat sich dagegen entschieden und mir ein gutes Angebot gemacht, damit ich bleibe.«
»Wie gut?«
»Gut«, sage ich und verabscheue mich dafür, dass ich ihm nicht die Summe nennen will. »So viel, dass ich mein Apartment doch nicht verkaufe.«
»Seit wann willst du dein Apartment verkaufen?«
»Seit ich keine Ahnung mehr habe, wie es weitergeht. Wenigstens habe ich jetzt mehr Zeit, das herauszufinden.«
»Carrie, Schatz, das hier wird nicht so laufen, wie du denkst. Komm doch hierher und hilf mir, diesen Grundstücksdeal abzuschließen.«
Nein, denke ich, und es ist das erste Mal, dass ich meinem Vater gegenüber so reagiere. Das zeigt meine Schwäche. Vielleicht wären wir gar nicht erst in diese Misere geraten, wenn ich früher Nein gesagt hätte.
»Nein, ich bleibe hier. Es sei denn, du kannst mir eine Summe im sechsstelligen Bereich anbieten.«
»Du wirst irgendwann angekrochen kommen.«
Auch diese Worte versetzen mir einen Schlag in die Magengrube.
»Das meinst du nicht ernst? Glaubst du wirklich so wenig an mich?«
»Ich hab dir doch schon gesagt, das hat nichts mit dir zu tun. Ich persönlich glaube, du kannst die Welt retten, aber meine Meinung interessiert niemanden. Du bist nun mal eine West.«
»Ich bin ich.«
Einige Sekunden lang verstummt er. »Du hast keine Ahnung, womit du es zu tun hast«, sagt er schließlich.
»Dann erklär’s mir.«
»Ich will nicht, dass du überhaupt in diese Sache hineingerätst.« Er stößt einen frustrierten Laut aus. »Aber dieses Gespräch will ich auch nicht am Telefon führen. Komm her.«
»Ich habe hier einen Job zu erledigen.«
»Ich liebe dich wirklich, meine Tochter, und deshalb sage ich dir, diese Entscheidung ist falsch.«
»Es ist die richtige Entscheidung. Außerdem habe ich keine andere Wahl.«
Wieder schweigt er, und die Sekunden ziehen sich.
»Es gefällt mir nicht, dass du denkst, du hättest keine andere Wahl. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.« Damit legt er auf und lässt mich mit dem Gefühl zurück, dass er mir irgendetwas verschweigt. Etwas, das dazu führen könnte, dass ich bei ihm angekrochen komme? Ich verwerfe diesen Gedanken sofort wieder. Mein Vater würde mich nicht den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Nein, das würde er niemals tun.
***
Reid
Nach einem Tag, in dessen Verlauf ich von Anteilseignern, dem Bezirksstaatsanwalt und einem Haufen anderer Leute in Beschlag genommen wurde, befinde ich mich immer noch in meinem Büro – meinem wirklichen Büro – und versuche, meine Sachen zusammenzupacken, um zu West Enterprises zu fahren. Ich fasse mir an den Hals, doch bekämpfe den Drang, die blaue Krawatte zu lösen, die ich passend zu dem blauen dreiteiligen Anzug für die Vorstandssitzung ausgesucht habe. Es steht zu viel für mich auf dem Spiel, als dass ich es mir auch nur einen Moment erlauben könnte, nicht frisch und allzeit bereit zu wirken. Gerade, als ich aufstehen will, klingelt mein Handy, und es ist jemand dran, mit dessen Anruf ich schon den ganzen Tag über gerechnet habe: Carries Vater.
»Was ist mit unserer Abmachung?«, dröhnt er durch den Hörer. »Meine Tochter sollte nicht in diese Sache mit hineingezogen werden.«
»Der Vertrag besagt nur, dass Ihre Tochter nichts über die Einzelheiten unserer Verpflichtungen erfährt.«
»Sie wollen sie für das alles bestrafen, stimmt’s?«
Für einen kurzen Moment blitzt eine Fantasie in meinem Kopf auf, in der Carrie nackt über meinem Schoß liegt, ihr perfekter kleiner Arsch unter meiner Hand. Ja, ich werde sie bestrafen, aber nicht so, wie er denkt.
»Ich habe nicht vor, ihre Tochter für Ihre Sünden büßen zu lassen. Nur Sie.«
»Wenn sie je herausfindet …«
»Das wird sie nicht. Ich breche keine Verträge. Sie wird also nichts von Ihren Geheimnissen erfahren. Ihre Fehlentscheidungen bezüglich West Enterprises stehen allerdings auf einem ganz anderen Blatt.«
»Na also, da haben wir ja den Grund, weshalb Sie meine Tochter nicht entlassen. Es reicht Ihnen nicht, dass sie mich aus meiner Firma gedrängt haben.«
»So ist das nicht gewesen, das wissen wir doch beide, aber wenn Sie sich das einreden müssen, um sich noch im Spiegel ansehen zu können, nur zu. Ihrer Tochter haben Sie das auch so erzählt, stimmt’s? Und genau das ist das eigentliche Problem, nicht wahr? Sie haben Angst, dass Sie ihr die Wahrheit gar nicht beichten müssen; dass sie alles selbst herausfindet, und das wird sie.« Ich muss an die Enthüllungen über meinen eigenen Vater denken, von denen ich erst kürzlich erfahren habe. »Lassen Sie es nicht so weit kommen«, sage ich barsch, dann lege ich auf.
Mir ist klar, dass er versuchen wird, Carrie zum Gehen zu überreden, aber ich glaube nicht, dass sie das tun wird. Sie wird bleiben und sehen, wie ihr Vater wirklich ist, und auch wenn dadurch noch nicht sein wahrer Verrat ans Tageslicht kommt, schützt sie das vielleicht wenigstens vor zukünftigen Vertrauensbrüchen. Nicht, dass ich die Pflicht hätte, sie zu beschützen. Nachdenklich reibe ich mir übers Kinn. Wieso, zum Teufel, tue ich es dann?
In diesem Moment ruft Royce Walker an, der Chef der Sicherheitsfirma Walker Security, die sich für mich um alle Belange von West Enterprises kümmert. Als ich das Telefonat mit ihm beende, bin ich stinkwütend, und das aus einer ganzen Reihe von Gründen. Erstens habe ich gerade bedenkliche Informationen bekommen, was die Unternehmenssicherheit angeht, von denen Carrie hätte Kenntnis haben müssen. Zweitens kann ich nicht aufhören, an sie zu denken. Und diese Liste lässt sich noch lange fortführen. Ich kann den Drang nicht abstellen, sie zu wollen. Ich verteidige sie andauernd. Ich will sie beschützen.
Die beste Art, sie zu beschützen, ist, sie anzustacheln. Damit sie sich selbst – und die Firma – besser schützt, als sie es jetzt tut.
***
Es ist schon nach achtzehn Uhr, als ich die Büroetage von West Enterprises betrete, fest entschlossen, Carrie anzustacheln. Sie muss angepikst werden. Sie muss den Schmerz fühlen, und ich werde dafür sorgen, dass sie daraus lernt. Sallies Schreibtisch ist verwaist, sodass ich freie Bahn habe. Zielstrebig marschiere ich auf Carries Tür zu, öffne sie und stelle fest, dass Carrie gerade telefoniert. Als sie mich sieht, zieht Röte über ihre perfekte elfenbeinfarbene Haut.
»Ja, Joe«, beeilt sie sich, ins Telefon zu sagen. »Das klingt alles sehr interessant, aber kann ich dich später zurückrufen? Ja. Danke. Tschüs.«
In dem Moment, als sie auflegt, stehe ich vor ihr, stütze mich mit den Händen auf ihren Schreibtisch und blicke in ihre erstaunten smaragdgrünen Augen.
»Joe Michaels, Rick Smith und Kent Moore«, zähle ich auf, »brauchen morgen nicht wiederzukommen. Feuere sie.« Mit dieser Anweisung stoße ich mich vom Tisch ab und steuere erneut auf die Tür zu.
»Was soll das?«, will sie wissen.
Ich drehe mich zu ihr um. »Tu doch ein einziges Mal das, was ich will, ohne mit mir zu diskutieren.« Abrupt mache ich wieder kehrt und verlasse ihr Büro.
Energischen Schrittes durchquere ich den großen Empfangsbereich und betrete mein Übergangsbüro – und ja, ich sehe es nur als Übergang. Ich bin kaum durch die Tür, als Carrie hinter mir auftaucht, und in diesem Augenblick raste ich aus. Noch bevor sie die Tür hinter sich zumachen kann, packe ich sie am Handgelenk, drücke die Tür zu und schließe sie ab. Dann ziehe ich Carrie zu mir. »Lauf nicht hinter mir her, wenn ich dir gesagt habe, was du zu tun hast. Mach einfach ein Mal das, was ich sage.«
Sie schließt die Hand um meine Krawatte und zieht nicht gerade sanft daran. Ihre Stimme klingt ganz rau vor Ärger.
»Nur weil du einen Wutanfall hast, zitiere ich nicht drei Angestellte hierher, ohne zu wissen, warum.«
»Wenn ich wollen würde, dass du das weißt«, zische ich zurück, »würde ich es dir sagen.«
»Wieso soll ich sie feuern?«, fragt sie hartnäckig. »Sie arbeiten alle schon lange bei uns.«
»Und deshalb dürfen sie die Firma bestehlen?«
Carrie wird blass. »Was soll das heißen?«
»Es heißt, sie klauen Kundenlisten, Projektpläne und alles, was dazugehört. Du hättest das merken müssen. Dein Job …«
»Ich habe vorgeschlagen, die Internetsicherheit zu erhöhen, aber mein Vater hat das als unnötige Ausgaben abgelehnt. Ich hatte keine Entscheidungsgewalt, und das weißt du auch.«
»Das sind doch alles Ausreden.« Ich lasse sie los. Am liebsten würde ich sie jetzt und hier ficken. Stattdessen gehe ich auf Abstand, trete ans Fenster und drehe ihr den Rücken zu, während ich ihr sage, dass sie verschwinden soll; dass sie ihren verdammten Arsch aus meinem Büro bewegen und tun soll, was ich ihr sage, doch eigentlich sollte ich mittlerweile wissen, dass Carrie da anders tickt.
»Jetzt strengst du dich aber besonders an, ein Arschloch zu sein«, ertönt ihre Stimme direkt hinter mir.
Als ich mich umdrehe, steht sie dicht vor mir, so dicht, dass ich sie direkt wieder an mich ziehen und diesen Blumenduft einsaugen könnte, der sie ständig umgibt.
»Wieso, Reid?«, drängt sie mich. »Weil du Angst hast, dass ich dich durchschaue? Weil du denkst, ich hab gestern Abend etwas von dir gesehen, das ich nicht sehen soll?«
»Du bekommst nur das zu sehen, was ich dich sehen lasse.«
»Lügner«, provoziert sie mich.
Das Schlimme ist, sie hat ja recht, und das macht mich erneut wütend. So wütend war ich noch nie, und diese Wut richtet sich einzig und allein gegen diese Frau. Unwillkürlich schnellen meine Hände vor, und ich packe Carrie bei den Hüften, ziehe sie zu mir und vergrabe die Finger in ihrem Haar.
»Was machst du da, Reid?«
»Genau das, was du wolltest, als du hier hereingestürmt bist und deine Wut an mir ausgelassen hast.«
»Das wollte ich n…«
»Lügnerin«, sage ich und warte gar nicht erst auf ihren Widerspruch, der ebenfalls gelogen wäre. »Und weißt du, was ich will?«
»Mit mir vögeln, damit du mich unter Kontrolle hast? Das funktioniert nicht.«
»Eigentlich will ich nur, dass du endlich mal die Klappe hältst, und ich weiß auch schon genau, wie ich das hinkriege.« Mit diesen Worten presse ich meinen Mund auf ihren.