Kapitel Sechzehn

Carrie

Anstatt zu schlafen, verbringe ich die Nacht damit, zwischen Gedanken an Reid und Gedanken an Reid hin- und herzuwechseln. Als ich endlich den Versuch starte einzuschlafen, denke ich – Überraschung – schon wieder an Reid und frage mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich mit zu ihm gegangen wäre. Wie mag die Wohnung eines Typen wie Reid aussehen? Ich mache mir viel zu viele Gedanken über einen Mann, der … O Gott, er hat meinen Slip! Und den wird er ganz sicher nicht behalten. Er nicht. Schon gar nicht, nachdem er erst mit mir auf seinem Schreibtisch gevögelt und mich anschließend nach Hause geschickt hat.

Ich schnappe mir mein Handy und bin kurz davor, Reid anzurufen, als mein Verstand wieder einsetzt. Was tue ich denn hier? Ich kann ihn doch nicht wegen meiner Unterhose anrufen. Wie komme ich überhaupt auf so eine blöde Idee? Von mir aus kann er meinen Tanga behalten. Das ist das Einzige, das er je von mir besitzen wird. Wobei: Vorhin am Meer, als er mich geküsst hat, da war er nahe daran, mich in Besitz zu nehmen. Irgendetwas an ihm war anders, genauso wie in dem kurzen Augenblick in seinem Büro, als er mich in seinen Armen gehalten hat und es so aussah, als wollte er mich gar nicht mehr loslassen. Doch nicht nur er war anders – ich war es auch. Zwischen uns war es anders. In diesen Momenten gab es eine Verbindung zwischen uns, die nichts mit Handschellen oder irgendeinem stummen Eroberungskampf zu tun hatte. In diesen Momenten hatte ich das Gefühl, mich in Reid zu verlieben, was total bescheuert ist. Er ist und bleibt der Mann, der sich die Firma meines Vaters unter den Nagel gerissen hat.

Ich werde mich nicht in Reid Maxwell verlieben. So dumm bin ich nicht. Schließlich bin ich heute Abend vor ihm davongerannt, um eben nichts Dummes zu tun. Genervt schlage ich mit der Faust in mein Kissen und rolle mich auf die andere Seite. »Schlaf endlich«, befehle ich mir. »Schlaf endlich ein.«

Abrupt setze ich mich auf. O Gott, ich bin davongerannt. Das wird er mir als Schwäche auslegen. Ich kann es mir nicht erlauben, irgendeine Schwäche vor diesem Mann zu zeigen. Genau aus diesem Grund darf ich mich auch nicht auf ihn einlassen. Er wird alles, was er außerhalb der Arbeit von mir sieht, bewerten. Erneut greife ich nach meinem Handy und lege es sofort wieder zurück. Ihn anzurufen wäre genauso schwach. Morgen werde ich ihm demonstrieren, dass ich zu meiner Entscheidung von heute Abend stehe. Nur dann wird Reid mich respektieren.

***

Ich erinnere mich gar nicht daran, dass ich eingeschlafen bin, doch plötzlich geht der Wecker, und ich schrecke hoch, vollkommen erschöpft. Trotzdem springe ich innerhalb von Sekunden aus dem Bett und haste unter die Dusche. Ich muss irgendetwas tun. Ich muss mich darum kümmern, meine Firma zurückzubekommen. Alles andere ist unwichtig. Ich werde mich nicht mehr von Reid ablenken lassen. Deshalb ziehe ich mir auch ein schlichtes schwarzes Kleid ohne Knöpfe an. Und ich werde es anbehalten, genauso wie meinen Slip. Tatsächlich trage ich sogar meinen Lieblingsslip aus schwarzer Spitze, den ich mir niemals von irgendjemandem zerreißen lassen würde.

Ich bin schon früh im Büro, auf meiner Mission, mir den Posten der Geschäftsführerin zu verdienen. Kurz nachdem ich mich an den Schreibtisch gesetzt habe, beschließe ich, dass es jetzt nicht mehr zu früh ist, um Royce Walker anzurufen. Ich will das schon seit einer Stunde.

»Gibt’s Probleme?«, fragt er direkt.

»Nein«, erwidere ich. »Abgesehen davon, dass ich drei Leute entlassen musste, weil sie vertrauliche Daten der Firma weitergegeben haben. Ich muss irgendwas tun, damit uns das nicht noch mal passiert. Können Sie mir in Sachen IT-Sicherheit weiterhelfen, und was würde das kosten?«

»Daran arbeiten wir schon für Sie, sonst hätten wir das mit den drei Männern gar nicht rausgefunden.«

»Stimmt. Klar. Haben Sie mit Reid abgemacht, dass Sie uns langfristig betreuen?«

»Ja, das habe ich.«

»Danke, Royce. Wir brauchen Sie. Wir hätten uns schon längst um die IT-Sicherheit kümmern müssen.«

»Wieso haben Sie das nicht?«

Ich weiß nicht, wie gut er und Reid sich kennen, aber ich nehme an, dass sie sich vertrauen.

»Leider hatte ich nicht die Entscheidungsgewalt, sonst hätte sich das längst erledigt«, entgegne ich ehrlich und bohre dann selbst nach Antworten, wenn auch nur indirekt. »Mein Vater wollte Kosten sparen und hat uns lieber Cyberangriffen ausgesetzt – noch eine Entscheidung, die ich nicht verstehe.«

Royce schweigt einige Sekunden lang, und ich wage es nicht zu atmen, während ich darauf hoffe, dass er mir endlich erzählt, was er über die Entscheidungen meines Vaters weiß – sofern er überhaupt etwas weiß. Doch er sagt nichts dazu.

»Wenn Ihnen irgendetwas Sorgen macht, rufen Sie mich an«, erwidert er schlicht.

»Ich denke, ich habe Ihnen gerade gezeigt, dass ich das tatsächlich tun werde.«

»Ja, das haben Sie«, bestätigt er, »aber damit Sie Bescheid wissen: Ich bin jederzeit erreichbar. Und bald kann ich Ihnen mehr zu unseren nun Ex-Mitarbeitern und dem Stand der Ermittlungen sagen.«

»Super.«

Wir verabschieden uns kurz, bevor wir das Telefonat beenden. Genau in diesem Moment taucht Sallie in der Tür auf und hebt einen wiederverschließbaren Gefrierbeutel hoch.

»Ich habe Kekse gebacken. Ich hatte das Gefühl, heute ist ein Tag zum Kekseessen.«

»So sehr ich deine Kekse auch liebe«, gebe ich zurück, »ich glaube, heute brauche ich noch einen ganzen Kuchen dazu.«

Ihre Augen weiten sich, dann stürzt sie auf mich zu, setzt sich vor meinen Schreibtisch und streckt mir den Beutel entgegen.

»Trostessen.«

Ich öffne die Tüte. »Drei unserer Mitarbeiter haben vertrauliche Daten gestohlen und sie an die Konkurrenz verkauft. Ich hab sie gefeuert, und wir klagen auf Schadenersatz.«

»Wer?«

Ich schiebe ihr ein Blatt Papier mit den Namen der Männer zu. Sie liest sich die Liste durch, während ich mir einen ihrer fabelhaften Kekse gönne. »Superlecker«, murmle ich und denke, sie sollte eine Konditorei aufmachen. Hätte ich das Geld noch, das ich meinem Vater gegeben habe, würde ich ihr den Laden sogar finanzieren.

»Ich bin sprachlos«, sagt sie kopfschüttelnd und schiebt mir das Blatt wieder zurück. »Die waren doch schon so lange hier und … Oh, mein Gott, in den einen war ich sogar mal verknallt, und frag jetzt nicht, in wen. Nach der Nummer hier will ich das nicht mehr sagen. Willst du die anderen über die Kündigungen informieren?«

»Noch nicht«, entgegne ich. »Zuerst will ich mit Reid sprechen.«

»Verstehe«, sagt sie. »Kann ich in der Zwischenzeit irgendwas für dich tun?«

»Mach einfach so weiter wie bisher.«

»Ich könnte Reid ein paar Kekse bringen. Vielleicht ist er dann nicht mehr ganz so launisch.«

»Nein«, wehre ich ab. »Reid kriegt keinen von deinen Keksen.« Ich wische mir gerade die Krümel von den Händen, als Reids Stimme aus der Telefonanlage dröhnt.

»In mein Büro. Sofort.«

»Nimm ihm einen Keks mit«, schlägt Sallie vor. »Besser als nichts. Übrigens hat seine Assistentin angerufen. Sie kommt gleich her. Ich werde ihr ein paar Kekse geben. Wir müssen es schlau anstellen und sie auf unsere Seite ziehen.« Damit verlässt sie mein Büro, und fast hätte ich laut grunzend gelacht.

Wenn ich an den gestrigen Abend denke, bin ich mir ziemlich sicher, dass ein Keks Reid nicht befriedigen wird. Einen kurzen Augenblick lang überlege ich, seine Anweisung zu ignorieren, aber dann würde er einfach zu mir kommen. Und das würde nicht nur zu einem unserer vielen Machtkämpfe führen, sondern er würde auch glauben, dass ich gestern davongelaufen bin und mich heute vor ihm verstecke. Also stehe ich auf und beeile mich, zu seinem Büro zu kommen. Und natürlich ist seine Tür geschlossen.

Da es zwischen uns mittlerweile zur Gewohnheit geworden ist, klopfe ich nicht, doch während ich die Hand um den Türknauf lege, wappne ich mich innerlich für die Wirkung, die dieser Mann heute auf mich haben könnte, nach dem Kuss gestern Abend. O Gott, nicht daran denken, Carrie. Ich öffne die Tür, und als ich das Büro betrete, schlägt mir bereits die gewaltige Energie dieses Mannes entgegnen, noch bevor ich ihn hinter seinem Schreibtisch sitzen sehe; in sicherem Abstand. Er sieht so gut aus wie immer, in einem dunkelgrauen Nadelstreifenanzug, der seine stechend blauen Augen unterstreicht.

Ich schließe die Tür hinter mir. »Da bin ich«, sage ich und gehe auf Reid zu, der jeden meiner Schritte aufmerksam beobachtet: Erst zwischen den Besucherstühlen bleibe ich stehen. Ich sage nichts und setze mich auch nicht.

»Setz dich«, kommandiert er.

Hörbar ziehe ich den Atem ein, folge dann aber seiner Anweisung und nehme Platz.

Er verengt die Augen. »Sie tut es, ohne zu diskutieren«, sagt er. »Ich hab fest damit gerechnet, mir mal wieder ein Nein von dir einzuhandeln.« Das Funkeln in seinen Augen verrät mir, dass er nicht über die Arbeit spricht, zumindest nicht nur. »Royce hat mir gesagt, du hast ihn angerufen«, fährt er fort.

»Ja, das habe ich, und ich spare es mir, dir zu sagen, weswegen. Das hat er dir offensichtlich schon verraten. Ich hätte gerne einen Kopie des Vertrags mit Walker Security.«

»Solltest du auch in deiner Position.«

»Was willst du den Angestellten über die Kündigungen mitteilen? Wie willst du mit der ganzen Sachen umgehen?«

»Sag du’s mir«, entgegnet er.

»Ich will ein Memo verschicken, in dem erläutert wird, in welchem Umfang gegen unsere Datensicherheit verstoßen wurde. Außerdem will ich die Angestellten darüber informieren, dass wir bereits neue Sicherheitsmaßnahmen eingeführt haben. Sollten wir noch mehr Leute in der Firma haben, die uns hintergehen, dürfte sie diese Ansage in Panik versetzen.«

»Einverstanden. Dann lass uns das hinter uns bringen, damit wir endlich anfangen können, Geld zu verdienen.«

»Ach ja, richtig. Geld verdienen.« Darum geht es ihm ja. Das ist der Grund für alles, was er tut.

»Und um das klarzustellen: Es war richtig von dir, Royce anzurufen. Genau das habe ich von dir erwartet.«

Diese Bemerkung trifft diverse wunde Punkte bei mir. »Dann war das also nur ein Test.«

»Eine Annahme.«

»Ein Test«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und ich nehme mal an, dass du mich zu dir nach Hause eingeladen hast, war auch Teil dieses Tests. Wäre ich mitgegangen, hättest du den Eindruck bekommen, dass ich mich nicht genug auf meine Arbeit konzentriere.«

Er lehnt sich vor. »Oder du hättest mir all die Fragen stellen können, anstatt Royce.«

»Was voraussetzt, dass wir überhaupt geredet hätten. Das glaubst du doch selbst nicht. Ich kümmere mich dann mal ums Geschäft, damit wir beide Geld verdienen. Ach, und übrigens: Sallie hat Kekse gebacken. Eigentlich wollte sie dir einen bringen, aber ich hatte Angst, dass sie dann auf deinem Schreibtisch endet. Deshalb habe ich sie davon abgehalten.« Mit diesen Worten stehe ich auf und marschiere auf die Tür zu.

»Bleib stehen«, knurrt er schon fast.

Und ich folge seinem Befehl. Ich bleibe stehen, drehe mich aber zu ihm und stelle fest, dass er bereits seinen Schreibtisch umrundet hat und nun geschmeidig wie ein Raubtier auf mich zu kommt – was in mir gleichzeitig Begierde weckt und den Wunsch, ihm eine reinzuhauen. Direkt vor mir hält er an, und sein herber Geruch dringt in meine Nase – was ich gar nicht möchte.

»Auf meinem Schreibtisch endet niemand. Außer dir.«

»Ich habe jetzt keine Lust, deine Spielchen mitzuspielen.«

Er legt die Hände links und rechts von mir gegen die Tür. Anscheinend wird das so langsam zu unserer Gewohnheit. Ich will ihm sagen, dass er weggehen und aufhören soll, mir das anzutun, aber irgendwie kriege ich die Worte diesmal nicht über die Lippen. »Ich würde weder Sallie noch sonst eine Frau auf meinem Schreibtisch vögeln.«

»Du hast mich gevögelt.«

»Ja, aber du und ich kannten uns schon, als ich hier in die Firma kam. Das mit uns ist kein Spiel. Und das gestern Abend war auch kein Test. Aber das zwischen uns ist eine Ablenkung, die wir uns nicht leisten können. Nicht, solange sich so viele einflussreiche Leute darauf verlassen, dass wir die Firma wieder auf Kurs bringen.«

»Du wolltest doch gestern Abend, dass ich mit zu dir komme.«

»Das stimmt. Und ich wollte auch tatsächlich, dass du mitkommst, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollen sollte. Aber vielleicht hätten wir die ganze Sache schon abgehakt, wenn du gestern einfach Ja gesagt hättest. Ich jedenfalls hatte die große Hoffnung, dass ich dich nach einer durchvögelten Nacht endlich aus meinem verdammten Kopf kriege.« Energisch stößt er sich von der Tür ab und geht zum Schreibtisch zurück.

Ich habe das Gefühl, als hätte mir jemand gegen die Brust getreten, und in diesem Moment mache ich mir keine Gedanken mehr darüber, dass es so aussehen könnte, als würde ich wegrennen. Ich ersticke in Gegenwart dieses Mannes und brauche dringend Luft. Also öffne ich die Tür und gehe; froh, dass seine Sekretärin noch nicht an ihrem Schreibtisch sitzt und auch Sallies Tisch verwaist ist, sodass ich ohne Zwischenfälle zu meinem Büro eilen kann. Dort angekommen mache ich die Tür zu und lasse mich dagegensinken. Reid hat mir gerade gesagt, dass er nicht aufhören kann, an mich zu denken, aber gleichzeitig ärgert er sich darüber. Was mich allerdings am meisten beschäftigt, ist, dass er mir das überhaupt gestanden hat. Er hat mir gezeigt, dass ich Macht über ihn habe. Wieso? Wieso gibt er mir diese Macht? Wobei ich natürlich keine wirkliche Macht über ihn habe, weil ich das Gleiche für ihn empfinde. Vielleicht ist genau das der Punkt: Wir sitzen im selben Boot.

Oder er spielt schon wieder Spielchen mit mir. Ich darf nicht vergessen, dass er bei diesem Spiel nur gewinnen kann. Ich dagegen könnte alles verlieren.