Carrie
Ich schreibe das Memo an die Mitarbeiter und warne Sallie vor, dass ich es rausschicke. Anschließend maile ich die Datei an Reid und finde im Gegenzug eine E-Mail von ihm in meinem Posteingang mit dem Betreff: Vertrag Walker.
Als ich sie öffne, stelle ich fest, dass sie leer ist. Keine Worte. Nichts. Er hat überhaupt nichts dazugeschrieben. Das ärgert mich. Und ich denke, das weiß er. In diesem Moment verkündet ein Klingelton den Eingang einer Mail von Reid. Die Antwort auf mein Memo. Absolut perfekt.
Zwei Worte. Gute Worte. Ich atme tief durch, viel zu begeistert von dem Kompliment. Er hat definitiv Wirkung auf mich. Was er sagt – und nicht sagt -, löst etwas in mir aus. Gleichzeitig fordert er mich heraus, und das nicht nur sexuell gesehen. Er stachelt mich dazu an, mein Bestes für diese Firma zu geben. Mir gefällt zwar nicht immer, wie er das tut, aber er motiviert mich. Er bringt mich dazu, Höheres anzustreben – das gebe ich sogar zu. Ich hätte nicht geglaubt, dass die Gewinnsumme, die er angegeben hat, erreichbar ist, doch jetzt werde ich dafür kämpfen.
Ich schließe die Mail und lese mir den Vertrag mit Walker Security durch. Als ich das Gefühl habe, ausreichend informiert zu sein, werde ich eine Zeit lang vom Geldverdienen abgehalten und muss mich stattdessen damit beschäftigen, bereits vorhandenes Geld zu retten, indem ich telefonisch die Probleme bei einem Projekt löse, das wir erst kürzlich für eine Gruppe von Investoren akquiriert haben. Schließlich gibt mein Magen ein Knurren von sich, und ich füttere ihn mit Keksen. Irgendwann stellt Sallie ein Sandwich vor mir ab, das ich gar nicht bestellt hatte und beiseiteschiebe. Ich hatte schon Mittagessen: ihre Kekse. Es ist schon fast zwei, als ich mein Büro verlasse und mein Blick auf Reids Assistentin fällt, die mittlerweile vor seiner Tür sitzt.
Ich muss an die Sekretärin meines Vaters denken und drehe mich zu Sallie um. »Was ist eigentlich mit …«
»Hat gekündigt«, entgegnet sie, offensichtlich Gedankenleserin. »Sie hat von der feindlichen Übernahme gehört.«
»Okay. Na ja, das ist auch eine Lösung.«
»Du konntest sie doch sowieso nie leiden«, erinnert mich Sallie. »Und ich auch nicht.«
Diese Aussage bestätige ich nicht, protestiere jedoch auch nicht. »Und wie ist Reids Assistentin?«
»Toll. Connie behandelt Reid nach dem Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip und kommt damit durch. Du wirst sie lieben.«
Peitsche. Ich frage mich, ob sie die genauso bei ihm einsetzt wie ich meine Handschellen, und obwohl ich es eigentlich nicht will, blicke ich in Connies Richtung – genau in dem Moment, als sie aufsteht und in Reids Büro geht. Blondes Haar strömt ihr wie ein Wasserfall über den Rücken. Sie ist hübsch, zierlich, aber trotzdem kurvig, und sie trägt einen pinken Hosenanzug. Ja, sie ist hübsch – ich hasse es, dass mir diese Erkenntnis einen Stich ins Herz versetzt. Ich hasse es, dass ich mich frage, ob Reid mit ihr vögelt. Das geht mich überhaupt nichts an, aber eigentlich schon, oder? Ich muss wissen, ob er mit ihr vögelt, schließlich tut er das ja auch mit mir. Oder hat es getan. Er hat es getan. Und er wird es nicht noch mal tun.
Innerlich schüttle ich den Kopf über mich. »Ich gehe mal runter und spreche mit den Wachleuten über unsere neuen Sicherheitsmaßnahmen. Die hab ich dir per E-Mail geschickt.«
»Hab ich gesehen«, bestätigt Sallie. »Soll ich das nicht für dich erledigen?«
»Nein, ich will das selbst machen, damit die Leute sehen, wie wichtig die Sache ist. Aber ich sollte besser mein Handy mitnehmen.« Ich kehre in mein Büro zurück und greife genau in der Sekunde zu meinem Telefon, als meine ehemals beste Freundin Crystal anruft. Doch ich drücke sie weg. Sie ist in Japan, zusammen mit meinem Bruder, was eigentlich nichts Ungewöhnliches ist, da die beiden schon in New York bei derselben Firma gearbeitet haben. Sie wusste allerdings, wie er mich behandelt, und hat trotzdem mit ihm geschlafen. Soll sie doch ihm erzählen, worüber sie mit mir reden will.
Als ich mich auf den Weg nach draußen mache, begegnet mir Connie an der Tür.
»Hi, Carrie. Ich bin Connie.«
Und von Nahem ist sie noch hübscher. Ende dreißig, denke ich, in Reids Alter. »Hi, Connie.«
»Sie sehen ja toll aus«, schockt sie mich mit ihrem Kompliment. »Das gefällt mir. Die zukünftige Geschäftsführerin der Firma ist nicht nur jung und schön, sondern hat auch jetzt schon alles unter Kontrolle.«
»Danke, aber die Kontrolle liegt bei Reid.«
Ihre Lippen verziehen sich zu einem Grinsen. »Genau. Reid hat alles unter Kontrolle.« In ihre blauen Augen tritt ein freches Funkeln, und ich erkenne irgendein Geheimnis darin, das sie mir nicht mitteilt und das mich beunruhigt. »Ich muss jetzt zum Büro des Bezirksstaatsanwalts, eine Akte für Reid abholen. Kann ich Ihnen auf dem Rückweg irgendwas mitbringen?«
»Das ist sehr lieb, aber ich brauche nichts, vielen Dank. Ich bin auch auf dem Weg nach unten. Wir können zusammen fahren.« Ich deute in Richtung Ausgang, und gemeinsam setzen wir uns in Bewegung.
Doch erst im Fahrstuhl spreche ich sie auf die Akte an. »Ich hoffe, das, was Sie da abholen, ist die Entschädigung für die Opfer dieses Serienkillers.«
Überraschung blitzt in ihren Augen auf. »Sie wissen über den Fall Bescheid?«
»Ja«, entgegne ich. »Aber Reid hat mir versichert, dass ihn sein Einsatz für die Unschuldigen nicht zu einem besseren Menschen macht.«
Connie stößt ein amüsiertes Grunzen aus. »Ich frage mich, ob er damit Sie oder sich selbst überzeugen wollte. Um ehrlich zu sein, bin ich überrascht, dass er Ihnen von dem Fall erzählt hat.«
»Ich war einfach nur zufällig bei ihm, als es darum ging.«
»Zufälle gibt es bei Reid nicht. Ich arbeite seit zehn Jahren für ihn, ich weiß das. Er lässt einen nur das sehen, was er will.«
Ich muss an gestern Abend denken, als ich ihm vorgeworfen habe, dass er sich nur wie ein Arschloch aufführt, weil ich zu tief in seine Seele geschaut habe, doch diese Erinnerung schüttle ich erst einmal ab. Stattdessen richte ich meine Aufmerksamkeit auf Connie. »Sind Sie beide …«
»Nein«, erwidert sie. »Waren wir auch noch nie. Ich finde ihn zwar durchaus attraktiv, aber ich stehe nicht auf arrogante Alpha-Arschlöcher. Von denen habe ich genug in der Familie, aber deshalb weiß ich auch, wie ich mit ihm umgehen muss, und wir arbeiten gut zusammen.« Sie hebt eine Hand und zeigt mir die elegante Diamantuhr an ihrem Handgelenk. »Und er macht mir Geschenke.«
Erstaunt reiße ich die Augen auf. »Ja?«
»Na ja, ich kaufe mir immer was, wenn ich mich mal wieder für ihn zu Tode geschuftet habe oder ein Date absagen muss, aus dem sich vielleicht etwas hätte ergeben können. Oder wenn er sich arschiger aufführt als gewöhnlich. Ich habe seine Kreditkarte. Und ich nutze sie.«
Das bringt mich zum Lachen. »Dann kaufen Sie sich sicher dauernd irgendwas. Er kann ziemlich arschig sein.«
In diesem Moment ertönt das Klingeln des Fahrstuhls, und Connie wird ernst. »Ich denke, Sie können ganz gut mit ihm umgehen. Und er mit Ihnen auch. Das ist gut. Er respektiert mich, weil ich mit ihm umgehen kann.« Sie hält die Tür auf, die sich schon wieder schließen will. »Sie auch«, wiederholt sie. »Bis später.« Damit verlässt sie den Lift und eilt davon. Während ich ihr folge, gehen mir ihre Worte durch den Kopf. Er lässt einen nur das sehen, was er will. Reid hat mir also nicht aus Versehen gestanden, dass er mich nicht mehr aus seinem Kopf bekommt. Er wollte, dass ich das weiß.
Doch damit kann ich mich jetzt nicht näher befassen. Ich muss zum Sicherheitspersonal. Die Anweisung dauert fünfzehn Minuten, und ich bin schon fast wieder im Fahrstuhl nach oben, als mein Handy klingelt und die Nummer auf dem Display mich dazu bringt, verwundert die Augenbrauen hochzuziehen. Elijah Woodson ruft mich an, der Milliardär, dem ich geradezu in den Hintern gekrochen bin, damit er bei uns investiert. Um nicht in ein Funkloch zu geraten, entferne ich mich ein Stück vom Fahrstuhl, bevor ich den Anruf entgegennehme.
»Elijah«, melde ich mich. »Wie geht es Ihnen?«
»Wie ich höre, sind Sie demnächst Geschäftsführerin.«
»Das wird gemunkelt, ja«, entgegne ich.
»Für mich wäre das in Ordnung.«
Mein Herz beginnt zu rasen. »Meinen Sie damit, Sie wollen investieren?«
»In Sie, ja. Und in ein gutes Projekt. Finden Sie eins, aber sorgen Sie dafür, dass es wirklich gut ist, Carrie.«
»Von welcher Summe sprechen wir?«
»Von welcher würden Sie mich denn überzeugen wollen?«
»Einer ziemlich hohen.«
»Dann sollte ich besser keine Verluste machen. Schicken Sie mir einfach einen Vertrag. Ich warte darauf.«
»Moment«, sage ich schnell, bevor er auflegt. »Warum kommen Sie gerade jetzt auf mich zu?«
»Weil Ihr Vater nicht mehr da ist.« Er legt auf, und sofort zieht sich mein Magen zusammen. Was ist mit meinem Vater passiert, wovon ich nichts weiß, aber andere Leute schon?
Ein weiteres Ziehen geht durch meinen Bauch, und ich drücke auf die Ruftaste des Fahrstuhls. Ich muss das Persönliche aus dieser Sache heraushalten. Man hat mir gerade ein finanzielles Geschenk versprochen, mit dessen Hilfe man Reids angestrebte Gewinnsumme tatsächlich erreichen könnte. Ich muss meine Leute anweisen, nach guten Projekten zu suchen, bevor ich über die negativen Auswirkungen nachdenke, die der schlechte Ruf meines Vaters nach sich ziehen könnte. Die Türen des Aufzugs gleiten zur Seite, und nachdem ich eingestiegen bin, warte ich ungeduldig darauf, dass wir endlich in meiner Etage ankommen. Diesmal liegt mein Ziel nicht links in Richtung des Geschäftsführerbereichs, sondern rechts, wo sich unser Vertrieb befindet. Während ich eilig zwischen den einzelnen Bürowaben hindurchgehe, trommle ich meine besten sechs Mitarbeiter zusammen, die mir bis zum Rand des Großraumbüros folgen.
»Ich brauche bis morgen die besten Projekte, die ihr finden könnt, für Elijah Woodson. Je größer, desto besser, und wenn ihr euch nicht sicher seid, ob das Projekt infrage kommt, stellt mir Infos zusammen und überlasst die Entscheidung mir. Ruft die Investoren an, die ihr kennt. Weckt schon mal ihr Interesse daran, in ein Projekt von Elijah zu investieren.«
»Halten Sie den Namen erst mal da raus«, sagt Reid, der in diesem Moment neben mich tritt und auf mich herabsieht. Seine blauen Augen scheinen mich zu durchbohren. »Es gibt da noch einiges zu klären.«
Wut steigt in mir hoch, aber es gelingt mir, sie im Zaum zu halten. Ich schaue das Team an. »Legt los. Und gebt mir eure Vorschläge bis morgen.« Ich drehe mich um und setze mich in Bewegung.
Reid ist sofort neben mir und hält mit mir Schritt, doch keiner von uns sagt ein Wort. Ich bin zu wütend. Er ist zu sehr im Kontrollmodus. Schließlich erreichen wir die Fahrstühle.
»Gehen wir in mein Büro«, befiehlt er kurz angebunden.
»Ich komme dahin«, antworte ich, ohne ihn anzusehen. Bevor ich mit diesem Mann sprechen kann, muss ich mich erst beruhigen. Ich wende mich in Richtung Treppenhaus und trete durch die Tür. Kaum bin ich auf der ersten Stufe, ist Reid schon hinter mir, drängt mich in eine Ecke und hält mich mit seinem breiten Körper gefangen.
»Läufst du schon wieder davon?«
Abwehrend presse ich die Hand auf seine Brust. »Ich laufe nicht davon. Ich rette dir das Leben. Du solltest dich nämlich lieber nicht mit mir anlegen, wenn ich so wütend bin. Du hast gesagt, ich hätte eine Chance, die Geschäftsleitung zu übernehmen, und dann pfuschst du mir bei einem Riesendeal dazwischen, den ich an Land gezogen habe. Ich. Nicht du.«
»Wenn du mir mal zuhören würdest, wüsstest du, dass deine Wut völlig unangebracht ist.«
»Meine Wut? Oder dass es mich dauernd zu dir hinzieht? Gott, ich bin ja offensichtlich die reinste Masochistin.«
Er nimmt eine meiner Haarsträhnen in die Hand und wickelt sie um seine Finger. »Vielleicht sollte ich dich noch mal daran erinnern, warum du immer wieder zu mir kommst.«
»Denk nicht mal daran, mich zu küssen.«
»Zu spät«, sagt er. »Ich denke ständig daran, dich zu küssen. Ich kann nichts dagegen tun. Und ich bin es auch leid, es zu versuchen.«
»Wenn du mich küsst …«
Und da spüre ich schon seine Lippen auf meinen.