Reid
Was soll ich tun?
Carrie zögert nicht einmal eine Sekunde, bevor sie mir die Frage beantwortet. »Erzähl mir etwas, das ich nicht weiß.«
Etwas, das sie nicht weiß. Das ist eine sehr offene, breit interpretierbare Aufforderung, und aus Gründen, von denen sie nichts wissen darf, antworte ich mit Vorsicht: »Stell mir eine Frage, und wenn es mir möglich ist, beantworte ich sie dir.«
»Wenn es dir möglich ist?«
»Du bist doch selbst Anwältin«, erinnere ich sie. »Also weißt du auch, dass es Dinge gibt, zu denen ich dir nichts sagen kann.«
»Okay, was weiß ich nicht über meinen Vater?«
Und da ist sie: Die Frage, vor der ich mich gefürchtet habe. Die Frage, die ich nicht beantworten darf.
»Das geht nur deinen Vater und dich was an.«
»Aber ich will, dass du es mir erzählst. Du, Reid.«
»Er ist doch gegangen. Also konzentriere dich auf die Firma. Konzentriere dich auf dich.«
Einige Sekunden lang mustert sie mich eingehend, und als ich schon damit rechne, dass sie weiter nachbohren wird, greift sie mich von der anderen Seite an.
»Okay, dann Elijah. Sag mir, warum du keine Geschäfte mit ihm machen willst.«
Jetzt hat sie schon zwei meiner Schwachstellen getroffen. Ich beuge mich nach vorn und nehme meinen Kaffeebecher. »Nein.« Ich trinke einen Schluck.
»Nein?«, hakt sie nach.
»Nein«, wiederhole ich.
»Reid.«
Ich stelle den Becher ab und sehe sie an, ohne sie anzusehen. »Das ist was Persönliches.«
»Dann vertrau mir und erzähl’s mir. Denn seien wir mal ehrlich: Das Ganze hier ist doch reine Fassade. Eigentlich hast du es gar nicht nötig, dir mein Vertrauen zu verdienen. Ich bin gezwungen, dir zu vertrauen.«
Damit hat sie recht. Auf beruflicher Ebene muss sie mir vertrauen. Im persönlichen Bereich nicht, und Vertrauen ist das Intimste, aber auch Gefährlichste, was zwei Menschen miteinander teilen können. Es verletzt. Es tut weh. Es zerstört. Das weiß ich nur zu gut, und trotzdem will ich idiotischerweise genau das von ihr. Ich wende mich ihr wieder zu.
»Du verlangst, dass ich dir freiwillig mein Vertrauen schenke, und gleichzeitig sagst du, deins ist erzwungen.«
»Wenn mein Bauch mir nicht sagen würde, dass ich dir vertrauen kann, Reid, würde ich mir einen anderen Job suchen. Ich will nur, dass du mein Bauchgefühl bestätigst. Und ich will, dass du auch bei mir ein gutes Gefühl hast.«
Unwillkürlich presse ich die Lippen zusammen. Bei dieser Frau wage ich mich in tückische Gewässer vor. Ich muss zurückrudern.
»Elijah hasst mich. Mehr brauchst du nicht zu wissen. Wenn du dich auf diesen Mann einlässt, wirst du alles verlieren. Ich werde Millionen verlieren. Das sollte dir klar sein. Bei diesem Geschäft steht mein Name – der Name meiner Familie – auf dem Spiel.«
»Aber ich kann mit ihm sprechen und dafür sorgen, dass er zur Vernunft kommt. Ich kann an sein Gewissen appellieren. Diese Firma ist mein Leben. Hier geht es um …«
Ich fasse sie am Arm und ziehe sie zu mir. »Er ist genauso wie ich. Er hat kein Gewissen. Ich zerstöre das Leben von Menschen. Er auch. Es geht nur ums Geschäft. Wenn man dabei Erfolg haben will, darf man keine Gefühle haben. Und auch kein Herz. Genau genommen ist es sogar ein Nachteil, wenn man Herz hat. Ich ticke so, und er auch. Du nicht. Der wird dich plattmachen, dir auf jede erdenkliche Art wehtun und dir am Ende alles wegnehmen. Und das nur, um mir zu schaden. Das werde ich nicht zulassen.«
»Weil du zu viel zu verlieren hast.«
»Wir, Carrie. Wir haben beide viel zu verlieren.«
»Aber du hast doch gar kein Herz. Also bin ich dir doch egal.« Ihre Finger krümmen sich an meiner Brust, als wollte sie mich eigentlich zurückstoßen, könnte mich aber auch nicht loslassen. Dieses Gefühl kenne ich; es überkommt mich in jeder verdammten Sekunde, in der ich mit ihr zusammen bin.
»Ich weiß, dass du dich jederzeit gegen mich stellen kannst«, fügt sie hinzu, »und danke, dass du mich daran erinnerst, dass ich das nie vergessen darf.«
In diesem Moment hasst sie mich. Hass ist genau das, was sie für mich empfinden sollte, und wenn ich ihr tatsächlich erzählen würde, warum Elijah mir wehtun will, würde sie mich sogar noch mehr hassen. Trotzdem will ich nicht, dass sie solche Gefühle für mich hat. Verdammt, offensichtlich kann ich einfach nicht die Finger von ihr lassen.
»Du bist anders«, sage ich. »Du bist anders als alle anderen, Carrie. Aber ich werde dich beschützen. Das tue ich bereits.« Ich weiche ein Stück zurück, damit sie in meinen Augen sehen kann, dass ich die Wahrheit sage, bevor ich fortfahre: »Ich schütze dich vor Elijah, und ich weiß, dass du meine Entscheidung in diesem Fall nicht verstehst. Wenn dir mein Ehrenwort nicht genügt, dann bedenke wenigstens Folgendes: Ich verliere Millionen, wenn du die Gewinnsumme nicht erreichst. Und ich würde sicher nicht auf ein Geschäft verzichten, mit dem wir unserem Ziel ein großes Stück näher kämen. Darum geht es also nicht.«
Wieder sieht sie mich für einen Moment nachdenklich an, versucht offenbar, meine Aussage abzuwägen, bevor sie entgegnet: »Okay, ich akzeptiere, dass er unser Feind ist, aber er hat auch Geld. Können wir ihm nicht auf die gleiche Weise schaden, wie er es mit uns vorhat? Und würden wir nicht genau das erreichen, wenn wir sein Geld zu unserem Erfolg einsetzen?«
Ich lasse sie los, lege aber die Hand auf ihren Oberschenkel. »Das ist zu riskant.« Dann wage ich mich erneut in das gefährliche Terrain vor. »Du musst mir in diesem Fall einfach vertrauen. Vergiss Elijah, Carrie. Ich entschädige uns für das verlorene Geschäft. Ich suche uns ein neues, und damit kommen wir auch zum Erfolg.«
»Ich will aber nicht, dass du uns dahin bringst«, protestiert sie heftig. »Ich will das machen. Ich will uns zum Erfolg führen, und der Deal mit Elijah macht das möglich: für uns beide.«
»Nein, das tut er nicht. Das Ganze ist eine Falle, die uns in den sicheren Ruin treibt. Und was den Punkt angeht, dass du es allein schaffen willst: Wenn wir beide einen guten Deal abschließen, profitieren wir am Ende sogar noch mehr davon. Gemeinsam. Sag Elijah ab. Versprich mir das.«
»Reid …«
»Versprich es mir.«
»Okay, ich verspreche es. Was ist mit meinem Vater?«
»Das vergiss auch erst mal.«
»Also, bei allem, was ich dich frage, sagst du mir, ich soll es vergessen. Wie willst du mir beweisen, dass du keine unlauteren Absichten verfolgst, wenn du um alles ein Geheimnis machst?«
»Frag mich was anderes, Carrie.«
»Erzähl mir mehr über deinen Fall, die Anklage gegen den Bezirksstaatsanwalt.«
Ich frage nicht nach, warum ihr das wichtig ist. Das weiß ich auch so. Damit will sie mich abschätzen, vor allem, nachdem ich ihr gerade gesagt habe, dass ich kein Herz habe.
»In Ordnung. Da ich nicht weiß, welche Infos du bis jetzt hast, fasse ich noch mal zusammen: Wir haben es mit einem Serienmörder zu tun. Die Mandanten, die ich vertrete, das Ehepaar Cole und Lori, haben den Mann verteidigt, dem man die Verbrechen fälschlicherweise angelastet hat. Als herauskam, dass er unschuldig ist, hat ein Angehöriger eines der Mordopfer Lori auf einer öffentlichen Toilette angegriffen. Hätte der Staatsanwalt den Fall wieder aufgerollt, wäre das vielleicht nicht passiert, und der wahre Mörder hätte wahrscheinlich nicht noch mal töten können, was er aber hat.«
»Wie bist du an den Fall gekommen? Ich meine, ich weiß, du wirst nicht gern als Unternehmensjäger bezeichnet, aber du arbeitest zumindest in einem ähnlichen Bereich. Ein Prozess gegen einen Bezirksstaatsanwalt passt da irgendwie nicht rein.«
»Normalerweise kümmert sich auch Gabe um solche Sachen, aber in der ersten Zeit nach meinem Abschluss war ich schon mal in diesem Bereich tätig, und diesen Fall hier konnte Gabe nicht übernehmen.«
»Und du verzichtest auf dein Honorar?«
»Lori und Cole haben genug Geld. Sie brauchen keine hohe Entschädigung, deshalb spenden sie den Betrag den Familien der Mordopfer.«
»Und weil du ja kein Herz hast, machst du das Gleiche mit deinem Honorar?«
»Kennst du die Kolumne Cats Verbrechen?«
»Ja. Ich liebe diese Kolumne. Wieso? Was hat die mit deinem Honorar zu tun?«
»Cat ist meine Schwester, und ihr Mann und Cole sind Kanzleipartner. Unsere Kanzleien unterstützen sich gegenseitig, wir haben ein Abkommen geschlossen. Und Lori ist eng mit Cat befreundet.«
»Also machst du das für deine Schwester oder für deine Freunde oder weil du geschäftlich dazu verpflichtet bist?«
»Aus allen drei Gründen, Carrie. Abgesehen davon war unsere Kanzlei vor einigen Jahren in einen Skandal verwickelt, und der aktuelle Fall bringt uns gute PR ein, die hoffentlich dazu beiträgt, dass besagter Skandal ins Vergessen gerät.«
»Jetzt willst du offensichtlich, dass ich dich für ein opportunistisches Arschloch halte.«
»Ich bin nur ehrlich – die einzige Methode, Vertrauen zu gewinnen. Meine Entscheidungen sind genauso wenig eindimensional wie das, was gerade zwischen uns abläuft. Aber jetzt bist du dran: Erzähl mir etwas über dich, das ich nicht weiß.«
Sofort wendet sie den Blick ab. »Ich liebe Cats Kolumne und ihre Bücher.« Sie greift nach ihrem Kaffeebecher. »In einem geht es um einen Serienmörder, das war sicher dieser Fall hier.« Abgesehen von einem flüchtigen Blick sieht sie mich immer noch nicht an, während sie an ihrem Kaffee nippt. »Ich kann nicht fassen, dass ich die Verbindung nicht hergestellt habe. Ich meine, wie viele Serienmörder gibt es in unserer Stadt?«
»Du lenkst vom Thema ab, indem du über meine Schwester sprichst. Erzähl mir was von dir.«
Nun wirft sie mir doch einen Blick zu. »Das tue ich doch. Ich verfolge ihre Arbeit, weil mich Verbrechen interessieren. Ich hätte mich fast für die Strafverteidigung entschieden, weil ich es toll fand, mich für wahre Gerechtigkeit einzusetzen. Wenn es die Firma nicht gäbe, hätte ich das sicher auch gemacht.«
»Da haben wir was gemeinsam.«
In ihren Augen liegen Neugier und Interesse, als sie mich jetzt anschaut; die Art von ehrlichem Interesse, die mir die meisten Frauen nur wegen meines Geldes entgegenbringen – oder weil sie so guten Sex mit mir haben.
»Du wolltest auch in die Strafverteidigung?«
»Da war ich sogar.« Den Grund dafür erkläre ich ihr nicht. Ich erzähle ihr auch nicht, auf welche Weise mich das Rechtssystem einst im Stich gelassen hat. Wie gern ich bewiesen hätte, dass es funktionieren könnte; dass ich es dazu bringen könnte zu funktionieren.
»Mit der Arbeit für die Firma war das dann einfach nicht mehr möglich.«
»Und wieso hast du dich dazu entschieden, ein Arschloch zu werden?«
Ich muss lachen. »Weil es praktisch für mich ist. Und sehr profitabel.«
»Es ist auch eine gute Methode, um alle auf Distanz zu halten«, kommentiert sie. »Menschen, die das machen, sind ziemlich verletzt worden. Du auch. Das sehe ich in deinen Augen. Und ich kann es fühlen, wenn du mich küsst.«
Sie hatte recht mit ihrer Behauptung, dass sie zu viel sieht, was mich angeht. Das tut sie, und jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sie in eine Ecke zu drängen und zu vögeln, aber da das ja mittlerweile vom Tisch ist, wende ich das Gespräch wieder ihr zu.
»Wieso hat Royce keinen Mann in deinem Leben gefunden?«
»Du weißt schon, wie ätzend das ist, dass du mich so gründlich hast ausspionieren lassen, oder? Wieso gibt es keine Frau in deinem Leben?«
»Ich bin ein Arschloch und hab nie geheiratet, was sich auch nicht ändern wird. Aber zurück zu dir: Wieso gibt es keinen Mann in deinem Leben, Carrie?«
»Das habe ich mir bewusst so ausgesucht, aber wie die meisten von uns war ich auch mal jung und verliebt, damals als Studentin.«
»Und?«
»Und er hat nicht nur mit meiner Mitbewohnerin geschlafen – ich habe auch drei Tage, nachdem wir Schluss gemacht hatten, herausgefunden, dass ich schwanger war.«
Ich erstarre. »Und?«, frage ich dann mit sanfterer Stimme nach.
»Und ich wollte das Baby behalten. Meine Familie hatte Geld, und ich hatte einen sicheren Job in Aussicht. Also habe ich beschlossen, dass es Schicksal war.«
»Wo ist das Baby jetzt?«
»Ich hatte eine Fehlgeburt.« Sie senkt den Blick. »Keine Ahnung, warum ich dir das erzähle.« Kopfschüttelnd trinkt sie einen Schluck Kaffee. »Oder doch.« Sie wendet sich mir zu. »Weil es dir zeigt, wie ich bin. Seit dieser Zeit habe ich mich nie mehr auf jemanden eingelassen. Und das werde ich auch nicht mehr tun. So bin ich nicht mehr. Du musst dich also nicht wie ein Arschloch aufführen, um mich auf Abstand zu halten. Mir gefällt Abstand ganz gut.«
Was sie zur perfekten Frau für mich macht – abgesehen davon, dass sich diese Aussage nicht so perfekt anfühlt, wie sie sollte.
»Aber seit dem College wird es doch noch andere Männer gegeben haben. Was ist mit Sex? Du wirst doch …«
»Ein paar Jahre lang hatte ich eine lockere Beziehung. Aber er wollte mehr und ich nicht.«
»Wo ist er jetzt?«
»Er hat eine andere kennengelernt und sich verliebt, wie er es verdient hat.«
»Meistens wollen die Leute das, was sie nicht haben können. Wie ging es dir damit?«
»Ich bin zu seiner Hochzeit gegangen. Ich hab mich für ihn gefreut. Aber mittlerweile ist er geschieden, genau wie mein erster Ex. Und wie du sicher durch deine Nachforschungen weißt, hat meine Mutter uns verlassen, als ich fünf war. Ich telefoniere alle fünf Jahre mal mit ihr.«
Und meine Mutter war unglücklich verheiratet mit meinem Vater, bis zu ihrem tödlichen Schlaganfall vor fünf Jahren.
»Beziehungen sind kompliziert, anstrengend, und man wird verletzt«, fügt Carrie hinzu, als hätte sie gerade meine Gedanken gelesen. »Und das will ich nicht.«
»Dann machen wir es ganz einfach: Lass uns nur vögeln.«
»Nicht heute Nacht«, entgegnet sie überraschend locker. Nicht niemals, nur heute Nacht nicht.
Fragend hebe ich eine Augenbraue. »Warum nicht heute Nacht?«
»Weil der Hass-Sex mit dir nicht kompliziert, anstrengend und verletzend ist. Dabei geht es uns nur ums Vögeln. Aber heute finde ich dich beinahe sympathisch. Und das ist nicht gut, für keinen von uns beiden.«
»Also, wenn ich mit dir vögeln will, muss ich dafür sorgen, dass du mich wieder hasst.«
Verdammt, ich will nicht, dass sie mich hasst. Zumindest jetzt nicht, und sie hat recht: Das ist ein Problem für uns beide.
»Komm, lass uns gehen.«
Ich rutsche aus der Bank, nehme ihre Hand und helfe ihr hoch. In weniger als einer Minute sind wir draußen – beide, ohne an den Kaffee zu denken -, und ich lege den Arm um ihre Schultern. Schweigend gehen wir den kurzen Fußweg bis zu ihrem Wohnhaus, wo ich vor ihr stehen bleibe und ihre Taille umfasse.
»Also, kein Sex heute Nacht«, sage ich.
»Nein, heute nicht«, bestätigt sie erneut.
Ich nehme ihr Gesicht in beide Hände. »Aber das hier muss ich einfach tun.« Ich küsse sie, und der Kuss ist so intensiv und berauschend, dass ich hart werde und mir heiß ist. Ich stehe so wahnsinnig auf diese Frau, dass ich keinen Hass-Sex mit ihr will. Diese Einschränkung will ich nicht, und es stimmt: Das ist ein Problem; ein Problem, das mich in Schwierigkeiten bringen wird, in große Schwierigkeiten, und dieser Gedanke sorgt dafür, dass ich mich schließlich von ihr losreiße. »Gute Nacht, Carrie.« Sanft streiche ich mit den Fingern über ihre Lippen und nehme all meine Willenskraft zusammen, um sie nicht noch einmal zu küssen. Dann drehe ich mich um und gehe davon – bevor es heute Nacht kompliziert wird und damit auf anstrengend und verletzend hinausläuft.