Carrie
Ich fahre mit der U-Bahn zu meinem Treffen mit Elijah, das in einer beliebten Bar in der Nähe des Gerichts stattfindet. In der Sekunde, als die Bahn aus dem Tunnel kommt, checke ich meine Nachrichten, habe jedoch keine: weder von Reid noch von sonst irgendjemandem. Ich probiere es noch einmal bei Reid und erwische erneut die Mailbox. »Bitte ruf mich dringend zurück, Reid«, sage ich, bevor ich die Verbindung beende.
»Verdammt, Reid«, murmle ich vor mich hin, doch dann fällt mir ein, dass er ja auch noch Mandanten zu betreuen hat. Er hat zwei Jobs, und wenn ich erst einmal die Geschäftsleitung der Firma übernommen habe, muss ich sowieso ohne ihn klarkommen. Eigentlich brauche ich auch keine Hilfe. Ich will ja nur dafür sorgen, dass wir keine bösen Überraschungen erleben. Aber Reid soll auch nicht denken, dass ich das hier hinter seinem Rücken tue. Ich rufe ihn abermals an, und als seine Mailbox drangeht, sage ich ihm genau das. »Ich treffe mich jetzt mit Elijah, und ich will nicht, dass du denkst, ich tue das hinter deinem Rücken und breche mein Versprechen. Ich will nur so viel wie möglich rausfinden, um zu verhindern, dass er dir schadet und damit – wie du sagst – auch mir. Außerdem hat er etwas über meinen Vater gesagt. Ich will wissen, was er damit gemeint hat. Ruf mich an, sobald du kannst«, füge ich hinzu und lege auf.
Einen Block weiter betrete ich die Restaurantbar im Erdgeschoss eines Gebäudes, das sich in der Nähe des Woodson Cable News Network befindet, eines Nachrichtensenders, den Elijah vor Kurzem übernommen hat, als sein Vater in Rente ging. Ich hatte immer gedacht, wenn ich Elijah für uns gewinnen würde, bekäme ich seinen Vater dazu, aber mittlerweile habe ich akzeptiert, dass dies zumindest nicht in der Zeit passieren wird, während Reid am Steuer sitzt. In der Bar scheint schummriges Licht aus schneeflockenförmigen Lampen auf die verschiedenen Sitzgruppen. Das Konzept der ganzjährigen Schneeflockenbeleuchtung erschließt sich mir zwar nicht wirklich, aber ich schätze, es bewirkt zumindest, dass einem das Lokal in Erinnerung bleibt.
Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen und entdecke Elijah in einer Nische. Als er mich näher kommen sieht, steht er auf und begrüßt mich freundlich, doch das hat er bei unseren beiden vorherigen Begegnungen auch schon getan. Er streckt mir die Hand entgegen, sodass ich die teuren Manschettenknöpfe an seinem glatt gebügelten weißen Hemd bemerke, das er unter dem schwarzen Anzug trägt. Nachdem ich seine Hand geschüttelt habe, setze ich mich ihm gegenüber an den Tisch.
»Sie sehen wie immer bezaubernd aus«, sagt er. »Und fassen Sie dieses Kompliment bitte nicht falsch auf. Ich will damit auf keinen Fall Ihre Fähigkeiten herunterspielen oder auf eine nicht professionelle Ebene abrutschen.«
Er ist kein besonders attraktiver Mann; seine Gesichtszüge sind kantig und seine braunen Augen hart, aber trotz seiner erst neununddreißig Jahre – wie ich durch meine Recherchen weiß – strahlt er eine gewisse Würde aus.
»Das habe ich auch nicht so aufgefasst, und vielen Dank für das Kompliment. Ich würde trotzdem sehr gerne erfahren, warum Sie plötzlich, nachdem ich Ihnen jahrelang vergeblich auf die Nerven gegangen bin, mit mir Geschäfte machen wollen.«
»Das hat vor allem mit dem perfekten Timing zu tun«, antwortet er, ohne zu zögern. »Ich versuche schon eine Weile, ein Projekt zustande zu bringen, und die Immobilieninvestmentfirma, mit der ich zusammenarbeiten wollte, kommt einfach nicht in die Gänge.«
»Um was für ein Projekt handelt es sich? Ich dachte eigentlich, ich sollte Ihnen eins vermitteln.«
»Dafür bin ich auch immer noch offen, aber in diesem Fall will ich in Luxus-Hochhäuser in China und Japan investieren. Wir treiben gerade die Expansion in beiden Märkten voran. Die Projektleitung erhält ihren Sitz in einem der Gebäude, und den Rest verkaufen wir in Form von Eigentumswohnungen. Ich spreche hier von Gebäuden auf allerhöchstem Niveau, das heißt, um den Bau möglich zu machen, benötigen wir eine ganze Gruppe wohlhabender Investoren.«
Asien. Sowohl die Lage als auch der Umfang des Projekts gefallen mir nicht. Beides könnte einen ganzen Wust von rechtlichen Problemen und Bürokratiehürden nach sich ziehen, und es kann Jahre dauern, sich da hindurchzukämpfen, während die finanziellen Mittel immer knapper werden.
»Das ist ein großes und spannendes Projekt«, befinde ich dennoch, weil es auch weitestgehend so ist. »Und was das passende Timing angeht: Am Telefon haben Sie mich auf meinen Vater angesprochen, der ja viele Projekte in Asien betreut hat.«
»Das stimmt.«
Das stimmt? Das ist seine Antwort?
»Warum sind Sie erst zu mir gekommen, als mein Vater die Firma verlassen hat?«
»Er war nicht mehr mit Herzblut dabei. Das hat man ihm angesehen. Er hatte nicht mehr diesen Ehrgeiz, Sie schon.«
Widerstrebend stimme ich seiner Einschätzung innerlich zu, auch wenn es mir vorkommt, als sei das nur die halbe Wahrheit.
»Aber Sie wussten auch, dass eine Zusammenarbeit mit ihm automatisch eine Zusammenarbeit mit mir bedeutet hätte. Sie hätten einfach darum bitten können, dass ich Sie allein betreue.«
»Aber er war der Entscheidungsträger, und ich hatte nicht genug fachliches Vertrauen zu Ihrem Vater.«
»Und jetzt ist Reid Geschäftsführer.«
»Ach, ja, das Thema, um das wir schon die ganze Zeit herumreden. Reid ist zwar Geschäftsführer, aber der bleibt er nicht lange.«
Der bleibt er nicht lange. Diese Aussage gefällt mir nicht, weil sie nicht gerade sachlich klingt. Es fühlt sich eher so an, als wäre ihm Reids Rückzug wichtiger als meine Qualifikation. Am liebsten würde ich ihn fragen, woher er Reid kennt, aber das käme mir wie ein Verrat vor. Das soll Reid mir erzählen.
»Im Augenblick leitet er die Firma allerdings, und das bedeutet, ich muss sämtliche Projekte mit ihm absprechen.«
»Warum? Sie können sich doch direkt an den Vorstand wenden und dann die Leitung übernehmen. Einfacher geht’s nicht.«
»Da unterschätzen Sie meine Loyalität gegenüber den Menschen, die mir nahestehen, und Sie unterschätzen Reids Einfluss.«
»Sie meinen, Sie haben Angst vor ihm.«
In diesem Moment verkündet ein Piepen den Eingang einer Nachricht auf meinem Handy.
»Entschuldigen Sie«, sage ich, hole mein Telefon heraus und lese die Nachricht von Reid: Steh auf und beweg deinen kleinen, knackigen Arsch auf die Toilette. SOFORT.
Nervös lecke ich mir über die Lippen und schlucke. Er ist sauer. Stinksauer, und da er offensichtlich seine Mailbox abgehört hat, weil er sonst nicht wüsste, wo ich bin, ist es ihm anscheinend ziemlich egal, dass ich versucht habe, mit ihm zu sprechen. Obwohl: Ich habe ihm nie gesagt, wo ich hingehe. Jetzt bin ich sauer. Er lässt mich beschatten.
»Alles in Ordnung?«, erkundigt sich Elijah.
»Es gibt ein kleines Problem im Büro. Würden Sie mich einen Moment entschuldigen? Ich müsste mal telefonieren.«
»Natürlich«, sagt er. »Kann ich Ihnen in der Zwischenzeit einen Drink bestellen?«
»Nein, danke«, entgegne ich, während ich meine Handtasche über die Schulter hänge. »Ich trinke nicht, wenn ich übers Geschäft spreche, und dafür sind wir ja hier.«
Sein Gesicht hellt sich zustimmend auf, wobei ich nicht behaupten kann, dass mir seine Zustimmung gefällt, auch wenn es eigentlich so sein sollte. Immerhin hat er genug Geld, um sicherzustellen, dass ich das Familienunternehmen behalten kann.
»Wie wäre es mit einem Kaffee?«
»Das wäre großartig«, sage ich und denke gleichzeitig, dass Reids Stimmung sicher gerade alles andere als großartig ist.
Während ich mich innerlich für den Streit wappne, den der Ton der Textnachricht ankündigt, stehe ich auf und folge dem Richtungsweiser hinter der Bar zur Toilette. Der Gedanke, dass Reid mich beschatten lässt, während ich versuche, Vertrauen zu ihm aufzubauen, befeuert meine Wut und damit auch meinen Gang. Energischen Schrittes betrete ich einen schmalen Flur und biege rechts ab. Im selben Moment packt Reid mich und presst mich an sich.
»Was zum Teufel ziehst du hier ab?«
»Hör deine Mailbox ab, dann weißt du’s. Ach, und Reid«, ich greife mir seine Krawatte und ziehe ruckartig daran, »du lässt mich nicht ernsthaft beschatten?«
»Ich lasse dich nicht beschatten, Schätzchen. Das war ein abgekartetes Spiel. Die Frage ist nur, hast du da mitgespielt oder nicht?«
Mir schießt Elijahs Kommentar durch den Kopf, dass Reid nicht lange Geschäftsführer bleiben würde. Aber ich stelle keine Fragen. Nicht jetzt, noch nicht.
»Worum auch immer es hier geht, ich stehe auf deiner Seite. Nicht auf deren. Das schwöre ich dir, Reid.«
»Das kannst du mir später beweisen, wenn wir allein sind. Jetzt gehen wir erst mal gemeinsam da raus, und ich stelle dich dem Anteilseigner vor, der mich gerade unter Druck setzen wollte, damit ich in Elijahs Deal einwillige. Interessantes Timing, findest du nicht? Und den Treffpunkt hier hat er ausgesucht.«
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Blitz. »Damit sieht es so aus, als würde ich hinter deinem Rücken irgendwas planen, weil ich mich hier mit Elijah treffe, nachdem du den Deal abgelehnt hast.«
»Richtig.«
»Ich plane nichts hinter deinem Rücken, Reid. Hast du deine Mailbox abgehört?«
»Ich war im Gespräch mit unserem Aktionär.«
»Und dann hast du natürlich gleich das Schlimmste angenommen. Dein Handy hat meine Nachrichten in Text umgewandelt. Lies sie dir durch.«
»Erst, wenn wir hier raus sind.«
»Klar. Was hast du vor?«
»Wir gehen jetzt da raus, verabschieden uns von den beiden und verlassen dann gemeinsam die Bar.« Er beugt sich dicht an mein Ohr heran. »Und danach werden wir zwei miteinander reden.«
Erneut kocht Wut in mir hoch. »Oh, ja«, versichere ich ihm, »wir werden definitiv reden.«
»Du sagst den beiden …«
»Ich weiß, was ich den beiden zu sagen habe. Das hast du gestern Abend mehr als deutlich gemacht.«
»Und trotzdem bist du hier«, erinnert er mich.
»Hör einfach mal deine Mailbox ab, du Arschloch.« Ich wende mich zur Tür um, doch er hält mich von hinten fest und drängt seinen harten Körper an mich. Jetzt ist mir nicht mehr nur vor Wut heiß, während er mir ins Ohr raunt: »Zeig denen nicht, dass du sauer bist.«
»Keine Sorge, das hebe ich mir für dich auf.«
»Gut«, erwidert er, »wenn du mit dem Echo leben kannst.« Er lässt mich los, und ich stürme durch die Tür.