Kapitel Sechsundzwanzig

Carrie

»Ich muss aufstehen, Reid«, wiederhole ich, als er sich nicht rührt.

»Moment, Kleines«, murmelt er, und der Kosename klingt so warm, so intim aus seinem Mund, dass er seltsame Dinge mit meinem Magen anstellt. Das fühlt sich ganz anders an als sein übliches arrogant dahergesagtes »Schätzchen«.

Er greift über mich hinweg, und ehe ich weiß, was er vorhat, presst er mir schon Taschentücher zwischen die Beine. So dumm das vielleicht auch sein mag, diese Geste kommt mir intimer vor als alles, was wir bisher getan haben. Sie unterstreicht die Tatsache, dass wir kein Kondom benutzt haben, ein Zeichen unseres gegenseitigen Vertrauens.

»Kleines?«

Er weicht ein Stück zurück, um mich anzusehen. »War dir das unangenehm?«

»Seit wann interessiert es dich, ob mir etwas unangenehm ist?«

»Beantworte meine Frage, Carrie.«

»Nein«, entgegne ich. »Das war mir nicht unangenehm. Ich hab nur … wir haben nur … Ich muss auf die Toilette.« Ich rolle mich unter ihm weg, setze mich auf und werfe die Taschentücher in einen Mülleimer.

Blitzschnell hat Reid sich ebenfalls aufgesetzt, schnappt mir die Bluse weg, als ich gerade danach greifen will, und schleudert sie weit von mir.

«Was machst du da?«, will ich wissen.

Er nimmt sein Hemd und legt es mir um die Schultern. »Ich stelle sicher, dass du hierbleibst.«

Unschlüssig sehe ich ihn an. »Ich mag diesen peinlichen Morgen danach nicht, und außerdem sind alle meine Sachen in meiner Wohnung. Ich sollte jetzt besser gehen.«

»Das wird kein peinlicher Morgen. Schließlich ist das hier nicht irgendein One-Night-Stand nach einer durchzechten Nacht. Ich hab mich im Büro wie ein Arschloch aufgeführt.«

»Ja, das hast du.«

»Ich war sauer auf dich.«

»Sauer auf mich?«, frage ich ungläubig. »Weswegen?«

»Weil ich gedacht habe, wenn ich mit dir vögle, ist diese ständige Gier danach vorbei, aber da lag ich leider falsch.«

»Und deswegen warst du so arschig zu mir«, schlussfolgere ich.

»Genau. Ich war wütend. Aber … es tut mir leid.«

Mir weicht die Farbe aus dem Gesicht und ich wirble zu ihm herum. »Hast du dich etwa gerade entschuldigt? Und das, während du nackt bist?«

»Ja, ich hab mich tatsächlich gerade entschuldigt, und ich bin nackt.« Er hebt die Hand und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Die Berührung ist erstaunlich zärtlich, und seine Stimme klingt sanfter. »Wir stehen morgen früh auf, und ich bringe dich nach Hause, damit du dich fertigmachen kannst.«

Das Bedürfnis, den Ausgang dieses Abends irgendwie noch kontrollieren zu können, kommt in mir auf, und ich halte Reids Hand fest. »Wenn ich bleibe, dann ist das hier morgen früh vorbei, und wir tun es nie wieder.«

»Nein«, widerspricht er. »Da kann ich nicht einwilligen. Ich werde dir nichts versprechen, was ich nicht halten kann, und ich weiß jetzt schon, dass ich dich morgen früh wieder anfassen will. Und ich werde es auch tun, Carrie.«

»Ich dachte, wir wollten vögeln, damit wir uns gegenseitig aus dem Kopf kriegen«, erinnere ich ihn.

»Genau das versuchen wir ja.«

»Du verwirrst mich, Reid.«

»Ich verwirre mich selbst, Kleines.« Er neigt den Kopf vor und küsst mich. »Bleib. Ich will, dass du bleibst, und ich will, dass du es auch willst.«

Er will, dass ich bleibe. Ich will bleiben. Doch irgendwie gelingt es mir nicht, die Worte laut auszusprechen. Ich verstehe einfach nicht, was ich von diesem Mann will. Trotzdem werde ich bleiben. Und das ist sowohl mir als auch ihm klar.

»Bekomme ich denn hier was zu essen, wenn ich bleibe?«

Er lacht, und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn je lachen gehört habe – zumindest nicht auf diese Weise, so natürlich und entspannt.

»Ja. Du bekommst was zu essen. Ich hab auch Hunger: aufs Essen und auf dich. Um die Ecke gibt es einen Sandwichladen, der ziemlich gut ist. Die liefern auch.«

»Jersey’s?«, erkundige ich mich.

»Ja, genau. Unglaublich, dass du den auch kennst.«

»Ich liebe den Laden.«

»Na dann, geh du ins Bad und ich bestelle. Links neben der Treppe.«

»Super. Danke.« Ich stehe auf, ziehe mir sein riesiges Hemd über und mache mich auf den Weg zur Toilette, durchquere den langen, rechteckigen Raum, dessen Fenster sich bis in die nächste Etage erstrecken.

»Was hättest du denn gerne?«, ruft Reid mir hinterher.

»Sag ihnen, sie sollen das Übliche für Carrie machen«, gebe ich über die Schulter zurück, ohne mich umzudrehen oder aus dem Fenster zu gucken. Ich will einfach nur ins Bad und ein paar Minuten für mich allein haben.

Dort angekommen schließe ich mich ein und lehne mich gegen die Tür, bevor mein Blick auf den langen Mahagonischrank fällt, der sich unterhalb einer strahlend weißen Ablage mit einem Spiegel darüber befindet. Als ich mein Spiegelbild betrachte – ich in Reids Hemd –, kommt mir eine Erleuchtung. Es gefällt mir viel zu gut, sein Hemd anzuhaben. Es gefällt mir auch viel zu gut, hier bei ihm zu sein, aber ich bin kein Beziehungstyp, und er auch nicht. Reid und ich verstehen uns einfach nur gut – auf beruflicher und auf sexueller Ebene. Also sollte ich die Zeit mit ihm einfach genießen. So geht man mit einem Mann wie Reid um: Man genießt den Adrenalinrausch so lange, wie er dauert. Ich werde mich nicht in ihn verlieben. Ich genieße einfach nur den Rausch. Und dann ist Schluss. Auf etwas anderes lasse ich mich gar nicht erst ein.

Ich ziehe das Hemd aus, gehe pinkeln und mache Katzenwäsche. Anschließend fahre ich ein paarmal durch das Chaos auf meinem Kopf, und das war’s. Weiter will ich nicht denken, nachdem ich mir gerade erst mein neues Motto zurechtgelegt habe. Ich werde die Zeit mit Reid einfach genießen. Ich will ihn kennenlernen, und ich kann von ihm lernen. Ich war noch nie mit einem Mann zusammen, den ich toll finde und von dem ich gleichzeitig etwas lernen will. Das ist sexy. Es macht einen Teil seines Reizes aus. Ich schlüpfe wieder in sein Hemd und ziehe es, so gut es geht, zurecht. Als ich kurz darauf die Tür öffne, steht Reid vor mir, in nichts als seiner offenen Hose; wunderbar nackt von der Taille aufwärts. Er hält ein T-Shirt hoch. »Das hier ist nicht ganz so groß, und damit kannst du sogar deine Hände zum Essen benutzen.«

Er bringt mir ein T-Shirt?

»Danke«, sage ich überrascht.

»Zieh das Hemd aus.«

»Jetzt und hier?«

Seine Augen glühen geradezu, während er mich herausfordernd ansieht.

»Jetzt und hier.«

»Na schön. Dann hier.« Wie befohlen lasse ich das Stück Stoff über meine Schultern gleiten, sodass es hinter mir auf den Boden fällt. Jetzt bin ich nackt, abgesehen von meinen halterlosen Strümpfen. Reids Augen wandern über meinen Körper, und meine Brustspitzen ziehen sich zusammen unter seinem heißen, intensiven Blick. Aus seiner Kehle dringt ein tiefes Knurren, bevor er mich an sich zieht.

»Du bist so schön. Wahnsinnig schön.«

In seiner Stimme schwingen so viele Emotionen mit – fast so etwas wie Ärger -‍, dass ich nicht zu atmen wage. Es kommt mir vor, als wollte er das, was auch immer er da fühlt, nicht akzeptieren, und ich frage mich, ob er gleich doch will, dass ich gehe. Doch dann küsst er mich, streicht aufreizend mit der Zunge über meine, bevor er sagt: »Ich bin noch nicht mal annähernd mit dir fertig, Carrie.«

»Und was, wenn ich schon mit dir fertig bin?«

»Dann lecke ich dich so lange, bis du es dir anders überlegst.«

Hitze steigt in meine Wangen. »Du bist …«

»… ehrlich. Ich bin einfach nur ehrlich. Genau das würde ich mit dir machen, und wenn du dir nicht langsam was anziehst, falle ich jetzt sofort über dich her, und gleich kommt das Essen.« Er küsst mich erneut und zieht mir das T-Shirt über den Kopf. Gerade, als ich die Hände durch die Ärmel schiebe, klingelt sein Handy im Wohnzimmer.

Unwillig verzieht er das Gesicht und fährt sich mit den Fingern durch die Haare, woraufhin sie ihm auf eine sexy Art in alle Richtungen vom Kopf abstehen.

»Am liebsten würde ich dieses verdammte Ding einfach mal ignorieren«, sagt er, »aber da muss ich drangehen.«

»Natürlich.«

»Und du verstehst das«, stellt er fest, und anscheinend gefällt ihm diese Erkenntnis, denn er legt die Hände an meine Taille und zieht mich zu sich, um mich kurz und schnell zu küssen, bevor er mich wieder loslässt und sich auf die Jagd nach seinem Telefon macht, das irgendwo bei der Couch liegt.

Ich nehme mir einen Moment, um den Raum zu betrachten, den ich bisher kaum wahrgenommen habe, weil der Mann, der hier wohnt, ihn viel zu sehr mit seiner Präsenz einnimmt – und mich auch. Die breite graue Stoffcouch, auf der ich gerade einen Orgasmus hatte, steht direkt am Eingang des Raumes auf einem ebenfalls grauen Teppich, eingerahmt von zwei cremefarbenen Ledersesseln als Kontrast zu all dem Grau. Die Bodendielen sind nur eine Nuance heller als die Couch, während die Beistelltische farblich auf die Sessel abgestimmt sind. Über dem Sitzbereich hängen Pendelleuchten von der Decke, die an diamantene Regentropfen erinnern. Der schlichte maskuline Stil passt genau zu Reid, wobei ich nicht glaube, dass man bei diesem Mann abgesehen von seiner Einrichtung noch irgendetwas anderes Schlichtes findet.

Ich betrete den Wohnbereich, eigentlich in der Absicht, mich zu Reid zu gesellen, der jetzt neben der Couch steht und telefoniert. Stattdessen finde ich mich jedoch vor der Fensterfront wieder, wo ich auf die erleuchtete Freiheitsstatue inmitten des nun schwarzen Ozeans hinausblicke. Mein Magen zieht sich zusammen, während unzählige Emotionen auf mich einprasseln; Emotionen, die sich alle um den Punkt in meinem Leben drehen, an dem ich mich gerade befinde.

»Morgen«, sagt Reid zu der Person am anderen Ende der Leitung. »Nein, Gabe. Heute Abend kümmere ich mich nicht mehr darum. Morgen. Ich mache jetzt Schluss.« Ich spüre mehr, dass er auflegt, als dass ich es mit Sicherheit weiß, doch wenige Sekunden später steht er neben mir und streicht mir übers Haar.

»Gibt’s Probleme?«, erkundige ich mich und blicke flüchtig zu ihm hoch.

»Mit meinem Bruder gibt’s immer Probleme.«

»Gabe?«, frage ich und drehe mich zu ihm um.

»Ja, Gabe. Der akzeptiert einfach keine Grenzen. Zumindest nicht, was mich betrifft.«

»Du hast nur ihn und eine Schwester, richtig? Oder seid ihr noch mehr Geschwister?«

»Wir haben noch einen jüngeren Bruder. Der wohnt allerdings in Texas und hat sich komplett aus dem Familienunternehmen rausgezogen. Er ist Bauingenieur, was eine echte Wohltat ist. Es reicht, dass Gabe mir dauernd auf die Nerven geht.« Er schlingt die Arme um meine Taille und drückt mich an sich. »Aber vergessen wir Gabe. Was ging dir gerade durch den Kopf, als ich gekommen bin?«

»Das will ich dir eigentlich nicht erzählen«, entgegne ich und lege die Hand an seine Brust.

»Warum nicht?«

»Weil es zu persönlich ist, und es geht dich nichts an, Reid.«

»Was, wenn ich will, dass es mich was angeht?«

»Aber das tut es nicht, Reid. Du willst nur, dass es so ist, weil wir im Moment gerade so intim sind. Aber morgen ändert sich das alles.«

»Die Diskussion hatten wir doch schon. Morgen ändert sich gar nichts. Also, woran hast du gedacht?«

»Ich liebe deinen Ausblick, Reid«, antworte ich.

Nachdenklich kneift er die Augen zusammen. »Und jetzt vergleichst du meinen Ausblick mit deinem?«

»Ja«, gestehe ich und habe keine Ahnung, wie es ihm gelingt, mich so leicht zu durchschauen. Aber vielleicht ist das Teil seines Erfolgsgeheimnisses; ein Grund, warum er mit nicht einmal vierzig schon so viel Geld verdient hat. Er ist ein guter Pokerspieler, er weiß, wie man Leute einschätzt.

»Ich bin ein bisschen älter als du, Kleines. Das weißt du, oder?«

»Klar.«

Er legt eine Hand an mein Gesicht und hebt mein Kinn an, um mir in die Augen zu sehen. »Du musst dein Apartment nicht verkaufen. Du wirst nämlich deinen Job nicht verlieren. Wir beide, wir werden richtig viel Geld verdienen. Zusammen.«

»Ich hasse es, dass du mich ausspioniert hast.«

»Das war, bevor das mit uns persönlicher wurde. Aber das weißt du auch.«

»Trotzdem gefällt es mir nicht.«

»Du willst aber nicht wirklich deine Wohnung verkaufen.«

»Doch, und ich kaufe mir später eine andere«, sage ich, »eine wie diese hier.«

»Ich füge die Wohnung zu den Konditionen deines Geschäftsführervertrags hinzu. Komplett abbezahlt.«

»Nein«, wehre ich sofort ab. »Nein, ich bin keine von diesen Frauen, die sich aushalten lassen, Reid. Ich will mir das, was ich bekomme, selbst verdienen.«

»Sich aushalten lassen? Die Wohnung bekommst du als Anreiz vom Vorstand, und du solltest alle Zulagen mitnehmen, die du kriegen kannst. Glaubst du wirklich, das hast du dir nicht verdient?«

»Ich glaube, in dem Fall hättest du es verdient, weil du es beim Vorstand angeregt hättest. Du hast vorhin noch gedacht, ich hätte dich hintergangen – und dafür hattest du einen guten Grund.«

»Was soll das heißen, Carrie?«

»Ich hatte heute die Chance, dich aus der Geschäftsführung zu drängen, aber das habe ich nicht getan. Du dagegen hättest dir diese Chance nicht entgehen lassen, und deshalb hast du dieses Apartment, und ich verkaufe meins.«

»Du siehst das aus der falschen Perspektive.«

»Richtig«, entgegne ich. »Wärst du an meiner Stelle gewesen, hättest du die Chance ergriffen und mich rausgekickt, oder nicht?«

Seine Miene verhärtet sich. »Dich nicht.«

»Und jemand anderen?«

»Dich nicht.«

Es klingelt an der Tür. »Das ist unser Essen.« Er küsst mich. »Wir arbeiten aus gutem Grund zusammen, weil ich das ohne dich nicht schaffe. Ich werde dir beibringen, dich in dem Haifischbecken zu behaupten. Erfolgreich. Und nein, dafür musst du nicht so brutal werden wie ich.«

»Und wieso verlangst du nicht von mir, dass ich genauso brutal vorgehe wie du?«

»Weil ich will, dass du so bleibst, wie du bist. Damit wirst du viel erfolgreicher sein.« Es klingelt erneut. »Ich bin gleich wieder da.«

Er steuert auf die Tür zu, nur mit seiner Hose bekleidet, und während er davongeht, fokussiere ich mich auf die zwei Worte, die er gesagt hat. Dich nicht. Er ist herzlos. Er ist brutal. Trotzdem hat er mich verschont. Das ist nicht unbedingt beruhigend. Was passiert, wenn er sich doch irgendwann gegen mich wendet? Und wieso haue ich nicht einfach ab? Weil ich es nicht will – ich habe nicht die leiseste Absicht davonzurennen.

***

Reid

Ich gehe durch den Eingangsbereich auf die Tür zu, außer Sichtweite von Carrie, und bevor ich die Tür öffne, stütze ich eine Hand gegen die Wand daneben und lasse das Kinn auf die Brust sinken. Was tue ich denn hier, verdammt noch mal? Ich benehme mich, als würde ich etwas von Carrie wollen, das ich bisher immer abgelehnt habe. Als wollte ich mehr von ihr. Mehr als nur zu vögeln, obwohl es mir, was Frauen angeht, sonst nur darum geht. Ich sollte mich zurückhalten, doch das werde ich nicht tun. Stattdessen werde ich mit Carrie Sandwiches essen und reden. Ich werde nicht einmal darüber nachdenken, sie heute Nacht nach Hause zu schicken.

Wieder ertönt die Türklingel.

Scheiße.

Ich öffne die verdammte Tür.