Kapitel Siebenundzwanzig

Reid

Mit der Liefertüte in der Hand kehre ich ins Wohnzimmer zurück, wo ich Carrie bei der Couch antreffe. Mein T-Shirt verhüllt ihre zierliche Figur, aber sie gefällt mir verdammt gut darin. Ein bisschen zu gut für meinen Geschmack. Trotzdem rudere ich ein Stück zurück von dem, worauf wir den ganzen Abend schon zusteuern.

»Gehen wir nach oben.«

Ihr Blick begegnet meinem. »In dein Schlafzimmer?«

»Ja«, bestätige ich und spüre, dass sie zögert, wobei ich nicht weiß, warum. »Da oben esse ich am liebsten.«

»Jetzt machst du mich aber neugierig«, sagt sie, und ihre Scheu verschwindet sofort.

Froh, dass wir diese Hürde schnell überwunden haben, deute ich in Richtung Treppe. »Dann mal rauf in meine Höhle.«

Lachend folgt sie mir. »Wenn du das sagst, klingt das ziemlich gefährlich«, zieht sie mich auf.

Gefährlich.

Dieses Wort trifft mindestens ein Dutzend wunder Punkte bei mir, die alle mit meiner Vergangenheit zu tun haben und über die ich heute Abend nicht nachdenken möchte – nicht, während diese Frau … während Carrie neben mir im Bett liegt. Gemeinsam steigen wir die Stahltreppe hinauf, die direkt durch einen Bogengang in mein Schlafzimmer führt.

»Keine Tür«, stellt Carrie fest, als wir uns dem Raum nähern.

»Außer mir ist hier ja niemand«, erkläre ich. »Und ich hab’s ganz gern, wenn ich jederzeit alles hören und sehen kann.«

»So viel zum Thema Kontrollfreak«, neckt sie mich erneut, während sie vor mir den Bogengang durchquert und nach einigen Schritten abrupt stehen bleibt.

Ich trete neben sie und lasse den Blick durch den Raum schweifen, als würde ich ihn zum ersten Mal sehen. Er ist V-förmig geschnitten, mit dunkelgrauen Dielen ausgelegt, und auf der rechten Seite befindet sich ein Kamin. Ein Stück davon entfernt führt eine Stufe hoch zum Doppelbett, auf dessen grauem, ledernem Rand ich Carrie heute noch vögeln werde, bis wir beide nicht mehr können.

»Der Stil passt zu dir«, befindet Carrie und wirft mir einen Blick zu. »Sehr männlich und dominant.«

Ich betrachte das als Kompliment, doch diese Aussage zeigt mir auch, dass sie – obwohl sie ständig gegen meine Forderungen protestiert – trotzdem noch das unausgeglichene Machtverhältnis zwischen uns im Kopf hat. Es steht zwischen uns und ist ein Problem, mit dem ich mich besser gleich befasse. Ich strecke die Hand in Richtung der beiden Säulen aus, die direkt hinter dem Bett einen weiteren Bogengang einschließen.

»Voilà, unser Essbereich für heute Abend.«

Erwartungsvoll steuert Carrie vor mir auf den Bogen zu und betritt den runden, vollständig verglasten Raum mit der grauen Couchgarnitur und dem gleichfarbigen Tisch in Baumstammoptik.

»Das ist mein Lieblingsplatz hier in der Wohnung«, verkünde ich, während ich mich auf die Couch setze und auf das Polster neben mir klopfe.

»Das kann ich verstehen«, sagt sie und lässt sich auf den angewiesenen Platz sinken. »Hier kann man sich schön gemütlich zurückziehen.« Sie zeigt auf die Bücherregale rechts und links von uns. »Was würde ich denn da so finden, wenn ich stöbern würde?«

»Juristische Fachliteratur, Sachbücher zu verschiedenen Themen und Unterhaltungsromane. Meistens komme ich hierher, um zu entspannen, aber auch, wenn ich über wichtige Entscheidungen nachdenken muss.« Ich stelle zwei Flaschen Wasser auf den Tisch, bevor ich unsere Sandwiches auspacke und ihres vor ihr ablege. »Ich habe gesagt, sie sollen das einpacken, was wir üblicherweise bestellen.« Interessiert schaue ich zu Carrie hinüber und stütze die Ellbogen auf die Knie. »Was hast du?«

»Eiersalat. Und du?«

»Eiersalat«, antworte ich, überrascht, wie viele Gemeinsamkeiten es zwischen uns gibt.

Carries Lippen heben sich zu einem Lächeln, und, Gott, ich liebe dieses Lächeln. »Die fanden es bestimmt seltsam, dass zwei ihrer Stammgäste heute gemeinsam bestellt haben. Wie lange wohnst du schon hier und kaufst bei denen?«

»Seit fünf Jahren«, entgegne ich, folge ihrem Beispiel und öffne meine Sandwichpackung. »Und du?«

»Sechs Jahre. Unglaublich, dass wir uns nie über den Weg gelaufen sind. Klar, wir wohnen auf entgegengesetzten Seiten des Platzes, aber wir gehen doch beide regelmäßig joggen. Wahrscheinlich sind wir schon jahrelang aneinander vorbeigelaufen.«

»Die Zeit war noch nicht reif dafür, dass wir uns begegnen«, sage ich sanft und muss daran denken, dass wir uns an ganz unterschiedlichen Punkten in unserem Leben befunden hätten, wenn wir uns getroffen hätten, bevor ich den Brief meiner Mutter gelesen hatte – und bevor die Verpflichtung zwischen unseren Familien entstanden ist.

»Iss«, fordere ich sie auf und zwinkere ihr zu. »Du wirst gleich noch viel Energie brauchen.«

Sie schenkt mir ein schüchternes Lächeln und rutscht auf den Boden hinunter, bevor sie einen Bissen von ihrem Sandwich nimmt. Schüchtern. Diese Frau, die mich mit Handschellen gefesselt in einem Hotelzimmer zurückgelassen hat, ist so widersprüchlich – aber dieser Widerspruch ist perfekt. Ich beiße ebenfalls in mein Brot, und einige Minuten lang essen wir in angenehmem Schweigen. So etwas habe ich bisher noch mit keiner Frau erlebt, andererseits wollte ich es auch nie versuchen.

»Ein Licht in der Finsternis«, sagt Carrie schließlich mit Blick auf die dunkle See und den sternenlosen Himmel.

»Genau das ist dieser Raum für mich.«

Sie trinkt ihr Wasser aus und stellt die Flasche ab, bevor sie den Rest ihres Sandwiches liegen lässt und sich wieder hoch zu mir auf die Couch gesellt.

»Dein Vater ist in Rente gegangen?«, erkundigt sie sich und wendet sich mir zu, die Beine auf die Couch gelegt.

Ich kaue den letzten Bissen zu Ende und lasse mich zurück ins Polster sinken, den Körper in Carries Richtung gedreht.

»So halb. Es fällt ihm schwer, loszulassen.«

Eigentlich rechne ich damit, dass sie weiterbohrt, doch das tut sie nicht.

»Und deine Mutter?«, fragt sie stattdessen.

»Ist vor vier Jahren verstorben, fast fünf, aber es fühlt sich an wie zehn.«

»Also war sie während deiner ganzen Kindheit und Jugend bei dir – darum beneide ich dich. Aber es tut mir auch leid, dass du sie verloren hast. Hattet ihr ein enges Verhältnis?«

Die meisten Leute wünschen mir nur herzliches Beileid, Carrie nicht. Sie taucht in den Kern der Geschichte ein, und das sehr tief, und während ich normalerweise abblocken würde, ertappe ich mich dabei, dass ich ihr ohne zu zögern antworte: »Das dachte ich zumindest mal.«

»Was meinst du damit?«

»Ich hab irgendwann herausgefunden, dass ich gar nicht wirklich wusste, was in ihrem Leben vorgeht. Meine Mutter hatte eine Seite, für die ich kein Verständnis hatte, aber ich hätte es haben sollen.«

»Hört sich so an wie bei mir und meinem Vater.«

»Das denke ich nicht«, gebe ich zurück. Ich will unter allen Umständen vermeiden, über ihren Vater sprechen zu müssen, und diese Umstände führen dazu, dass ich Geständnisse mache, die ich sonst niemandem mache. »Ich habe meinen Vater total idealisiert. Deshalb wollte ich nicht sehen, dass meine Mutter sehr unter ihm gelitten hat.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich fragen soll, was das genau bedeutet.«

»Meine Mutter hat meiner Schwester einen Brief hinterlassen, in dem sie ausführlich beschreibt, wie unglücklich sie mit meinem Vater war. Er hat sie so oft betrogen, mit diversen Frauen, und sie wie Dreck behandelt. Ich hatte keine Ahnung davon. Klar wusste ich, dass er in geschäftlichen Dingen ein Arschloch sein kann, aber ich hab gedacht, dank ihr hätte er auch eine soziale Seite entwickelt. Da lag ich falsch.« Ich begegne ihrem Blick. »Meine Mutter hat auch über ihre Angst geschrieben, dass ich irgendwann genauso werden würde wie er, weil ich ihm so nahestand.«

»Aber du bist nicht so geworden«, erwidert Carrie. »Das weißt du, oder?«

»Sagt die Frau, die mich dauernd als Arschloch bezeichnet.«

»Du bist ja auch ein Arschloch«, wirft sie ein. »Aber wir wissen beide, dass du dich bewusst so verhältst beziehungsweise das Ganze nur eine Fassade ist. Ich glaube nicht, dass du so bist wie er. Jedenfalls nicht nach deiner Beschreibung von ihm. Und von dem her gesehen, was ich bisher von dir kennengelernt habe.«

Ihr den Glauben daran zu lassen, dass ich kein Riesenarschloch bin, wäre ein Fehler aus falscher Eitelkeit, denn genau wegen dieses Glaubens schwebt sie in Gefahr, verletzt zu werden. Mit dieser »Fassade«, wie sie es nennt, halte ich Leute auf Abstand; damit vermeide ich, irgendjemandem so nahezukommen, dass ich ihm oder ihr auf die gleiche Weise wehtue wie mein Vater. Aber was mache ich, trotz dieser Erkenntnis – ich strecke den Arm aus und ziehe Carrie zu mir.

»Normalerweise rede ich nicht über meine Familie, Carrie. Ich nehme auch keine Frauen mit in meine Wohnung. Und diesen Raum hier habe ich noch nie jemandem gezeigt.«

Erstaunen huscht über ihr Gesicht. »Und wieso bin ich dann hier, Reid?«

Ich ziehe sie auf meinen Schoß. »Weil ich es will. Weil ich, was dich betrifft, offensichtlich dauernd meine eigenen Regeln breche.«

Sie legt die Hände auf meine Schultern. »Und jetzt bist du wieder sauer auf mich und gibst mir die Schuld?«

»Ja. Halt mich davon ab, dauernd meine Regeln zu brechen.« Zärtlich nehme ich ihr Gesicht in beide Hände und küsse sie, streiche mit der Zunge durch ihren Mund und treibe uns beide an einen lustvolleren Ort, an dem Regeln keine Rolle spielen.

Stöhnend lässt sie sich in den Kuss sinken, und verdammt, ich liebe ihr Stöhnen, ich bin süchtig danach. Ich bin süchtig nach dieser Frau, und all meine guten Absichten, diese Sucht zu bekämpfen, lösen sich auf. Gierig ziehe ich ihr mein T-Shirt über den Kopf und werfe es beiseite, senke den Blick auf ihre Brüste, deren Spitzen sich unter meiner ausgiebigen Betrachtung zusammenziehen. Dann lege ich die Hand zwischen ihre Schulterblätter und presse sie an mich.

»Das ist definitiv deine Schuld.«

»Ist das jetzt der Moment, wo du mich wieder rausschmeißt?«

»Nein«, versichere ich ihr. »Das ist der Moment, wo wir ficken.« Ich ziehe ihren Kopf zu mir, bis sich unsere Lippen berühren, und küsse sie, rede mir ein, dass unsere Beziehung nie mehr als Sex sein darf, und erinnere mich an das Geheimnis, das ich nicht mit ihr teilen darf. Das Geheimnis, das sie niemals für sich behalten würde, wenn sie davon wüsste.

Ich dränge mich innerlich, mich ganz in ihren Kuss zu vertiefen, der gleichzeitig trotzig und devot ist, genau wie die Frau selbst. Ich beschwöre mich, einfach nur den Moment zu genießen, und das tue ich auch. Innerhalb weniger Sekunden bin ich nackt und ziehe sie nach unten über meinen pulsierenden Schwanz. Ich verschwende keine Zeit damit zu warten, stoße sofort in sie und versinke in ihren Berührungen, ihren Küssen und ihrem Stöhnen. Und später, sehr viel später, als wir nebeneinander auf der Couch liegen, halte ich sie in meinen Armen und lausche ihren ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen. In diesem Augenblick bin ich mir mehr als deutlich der Tatsache bewusst, dass sie mitten in einen Krieg geraten ist; ein Krieg um eine Schuld, die noch nicht beglichen ist. Das Schicksal will es, dass sie mich hasst. Deshalb muss es zwischen uns beim Sex bleiben. Deshalb darf ich sie – egal, wie intensiv es zwischen uns wird – niemals zu nahe an mich heranlassen.