Kapitel Neunundzwanzig

Carrie

Ich ziehe mir ebenfalls eine Jogginghose an, und als Reid und ich wenig später meine Sachen bei ihm abladen, haben wir noch ein bisschen Zeit, die wir allerdings nicht nackt verbringen. Stattdessen holen wir uns einen Kaffee aus dem Café um die Ecke und schlendern damit zur Wohnung zurück.

»Wie oft in der Woche gehst du joggen?«, erkundigt sich Reid.

»Jeden Werktag«, antworte ich, »und drei Tage die Woche gehe ich auch noch in das Fitnessstudio bei mir im Haus. Und du?«

»Ich auch«, sagt er, »aber ich habe ein Fitnessstudio in meiner Wohnung.«

»Das war klar«, entgegne ich trocken. »Und den perfekten Sonnenuntergang vor dem Fenster.«

»Beides darfst du mit mir teilen«, gibt Reid zurück und legt mir den Arm um die Schultern.

»Wenn du dir mich nicht gerade aus dem Hirn vögelst?«

»Richtig«, sagt er lachend. »Wenn wir es nicht gerade treiben wie die Karnickel, schauen wir uns den Sonnenaufgang an und trainieren. Was könnte es Schöneres geben an einem Wochenende?«

Nicht viel, denke ich, vor allem, wenn er dann auch so lacht wie jetzt. Es gefällt mir, wenn er lacht. Dieses Ziel würde ich gern öfter erreichen: ihn zum Lachen zu bringen. In diesem Moment verkündet ein Summen den Eingang einer Textnachricht auf seinem Handy, und er blickt aufs Display, bevor er das Gesicht verzieht und eine Antwort eintippt.

»Mein verdammter Bruder«, murmelt er, während wir seinen Fahrstuhl betreten. »Ich muss in die Kanzlei, was mit ihm regeln, bevor ich in die Firma komme.«

»Ich weiß echt nicht, wie du es schaffst, gleichzeitig deine und meine Firma zu leiten, wobei … na ja … es ist ja nicht meine Firma.«

Er zieht mich vor sich und legt mir die Hände auf die Schultern. »Das wird sie bald wieder sein.«

»Ich weiß«, sage ich, »und das nicht, weil du auf meiner Seite bist, sondern weil ich heute dorthin gehen und einen besseren Investor als Elijah finden werde.«

»Ich bin wirklich auf deiner Seite. Das weißt du, oder? Das, was da zwischen uns läuft, hat nichts damit zu tun, dass ich dich aushorchen oder kontrollieren will, okay?«

Lächelnd stelle ich mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn. »Ja, das weiß ich.«

Er schmiegt mich an sich und legt die Hand an meinen Hinterkopf. »Dann vergiss es nicht. Und ja, das ist eine Anordnung.« Als er mich küsst, kommt der Aufzug mit einem Klingeln zum Stehen. »Komm«, fordert Reid mich auf und verschränkt meine Finger mit seinen, während er mich aus dem Fahrstuhl führt und auf seine Wohnungstür zusteuert.

Wenig später sind wir in der Dusche, und er hat mich gegen die Wand gepresst, während er in mir ist. Das Ganze endet auf dem Boden der Dusche mit mir rittlings auf ihm. Als wir es irgendwie schaffen, uns wieder hinzustellen – ohne dass er die Arme von mir löst -‍, kommt mir plötzlich die Erinnerung an etwas, das ich zu ihm gesagt habe: dass er mein ganzes Leben beherrscht. Und das stimmt. Er beherrscht mein Leben völlig.

Dieses Gefühl steigert sich noch, als wir aus der Dusche treten, ich in meinen Morgenmantel schlüpfe und anschließend neben ihm am Waschbecken stehe, um mich für die Arbeit fertigzumachen. Als er sich rasiert, sehe ich ihm dabei zu, aber ich bin weder nervös, noch ist es mir unangenehm. Wenn ich vor Jahren eines beschlossen habe, dann, dass ich bin, wer ich bin. Ich kann niemand anderes sein. Natürlich kann ich mich immer verbessern, klar, trotzdem bleibe ich, wer ich bin.

Ich bin immer noch damit beschäftigt, mir die Haare zu glätten, als er in einem dreiteiligen grauen Anzug mit roten Nadelstreifen passend zu seiner Krawatte aus seinem begehbaren Kleiderschrank kommt und aussieht wie die pure Sünde; wie der Traum jeder Frau. Dann klingelt sein Handy auf dem Waschtisch, und er greift es sich, blickt auf die Nummer und nimmt den Anruf mit einem breiten Grinsen entgegen.

»Der Herr Bezirksstaatsanwalt, Sie sind ja früh dran heute Morgen.« Einen kurzen Moment lang hört er nur zu, bevor er sagt: »Sie sind näher dran, aber noch nicht nah genug.« Ohne ein weiteres Wort beendet er die Verbindung.

Mir weicht die Farbe aus dem Gesicht. »Hast du gerade einfach aufgelegt? Beim Bezirksstaatsanwalt?«

»Jepp.«

»Mein Gott, Reid. Du hast echt Courage.«

Er stellt sich hinter mich und legt die Hände an meine Taille, während er meinem Blick im Spiegel begegnet. »Ja, Carrie, die hab ich wohl. Genau wie du, als du mich da im Hotel zu deinem Clown gemacht hast.«

Ich muss lachen. »Als ob du dich von irgendjemandem zum Clown machen lassen würdest.«

»An dem Abend hast du mir echt ein Schnippchen geschlagen, Carrie. Du hast gegen mich gewonnen. Deshalb habe ich den Vorstand davon überzeugt, die Zukunft der Firma noch mal neu zu überdenken. Niemand gewinnt gegen mich. Und das ist keine Arroganz, sondern eine Tatsache.«

Wieder klingelt sein Handy, und er holt es aus seiner Hosentasche und zwinkert mir zu, bevor er drangeht.

»Ja, Herr Bezirksstaatsanwalt?« Er lauscht einen Augenblick lang. »Das ist näher dran, und ja, ich komme zu Ihnen, aber das ändert nichts an der Zahl. Ich bin in einer halben Stunde da.« Er legt auf und dreht mich zu sich, um mich anzusehen. »Wir sehen uns in der Firma.«

»Du lässt mich in deiner Wohnung allein?«

»Ja. Ich vertraue dir.«

»Gib mir nur ›ne Minute, dann komme ich mit.«

»Bleib doch. Mach dich in Ruhe fertig.«

»Du bringst doch sonst nie Frauen mit hierher. Dann kannst du mich doch nicht hier allein lassen.«

Sanft zieht er mich zu sich und küsst mich. »Wir sehen uns im Büro.«

Damit lässt er mich los und geht in Richtung Tür. »Reid!«, rufe ich ihm hinterher.

An der Tür wendet er sich um.

»Die Entschädigung ist für die Familien der Mordopfer, richtig? In dem Fall mit dem Serienmörder?«

»Ja.«

»Dann mach ihn fertig.«

Sein Blick wird schärfer. »Das habe ich vor. Und du, sieh dich ruhig hier um, Carrie. Das ist eine Einladung.« Und mit dieser Einladung dreht er sich erneut um und lässt mich in seinem Bad – in seiner Wohnung – zurück. Ich bin überwältigt von dem Vertrauen, das er mir schenkt, vor allem, weil ich glaube, dass dieser Mann sonst niemandem traut. Erst gestern Abend hat er noch an meiner Loyalität gezweifelt, aber vielleicht steckt auch genau das hinter seinem Hass: Er hat damit gerechnet, dass ich genauso vorgehen würde, wie er es bei jedem anderen außer mir getan hätte. Irgendetwas passiert hier zwischen diesem Mann und mir, und instinktiv reagiere ich darauf.

Ich renne ihm hinterher. »Reid!« Als ich aus dem Bad komme, bleibt er an der Schlafzimmertür stehen und dreht sich zu mir um – und, mein Gott, der Mann ist wirklich Sexyness pur. Hastig durchquere ich das Zimmer, und bei ihm angekommen stelle ich mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn.

»Wofür war das denn?«

»Einfach so. Viel Erfolg. Das wollte ich dir noch wünschen.«

Zärtlich nimmt er mein Gesicht in beide Hände und gibt mir ebenfalls einen Kuss, einen richtigen Kuss – leidenschaftlich, sinnlich und heftig. »Du Frau«, sagt er dann, bevor er mich – unwillig, wie es scheint – loslässt und die Stufen hinuntereilt. Ich folge ihm bis zum Geländer und sehe zu, wie er davongeht, selbstsicher, fast schon wie ein Raubtier auf Beutezug. Doch hinter seiner knallharten Fassade ist er ein Mensch wie jeder andere mit all seinen Verletzungen. Er hat eine Mauer um sich herum gezogen, um die Verletzungen zu verbergen und jeden auf Abstand zu halten. Und trotzdem bin ich hier. Ich weiß, dass dieser Mann mein Leben zerstören könnte. Ich weiß, dass er mir wehtun kann. Ich weiß, dass er meine Zukunft in der Hand hat und dass ich ihn brauche. Und doch habe ich das Gefühl – aus Gründen, die ich nicht erklären kann -‍, dass er mich ebenso braucht wie ich ihn.

***

Reid

Ich betrete den Aufzug und lasse Carrie in meinen vier Wänden zurück, genau dort, wo ich sie haben will. An irgendeinem Punkt gestern Nacht habe ich akzeptiert, dass meine Besessenheit von Carrie nicht aufhören wird. Und das hat nichts mit ihrem perfekten Arsch zu tun oder damit, dass ich sie am liebsten dauernd vögeln würde. Es ist mehr. Diese Frau geht mir unter die Haut, mehr, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich hätte nie gedacht, dass mir überhaupt je eine Frau unter die Haut gehen könnte. Abseits jeglicher Vernunft brauche ich sie, obwohl ich genau weiß, auf wie viele verschiedene Arten das mit uns schiefgehen könnte. Doch offensichtlich ist mir das egal. Ich habe noch nie etwas aufgegeben, das ich unbedingt haben wollte; habe noch nie eine Herausforderung gescheut, unwichtig, wie schwer sie sein würde – und bei Carrie fange ich garantiert nicht damit an.

Sie hatte recht. Ich will sie besitzen. Ganz. Sie gehört mir. Diese Erkenntnis steht zwar in völligem Gegensatz zu meiner bisherigen Lebensweise und all den Gründen, warum das Alleinsein viel besser zu mir passt, aber es ist zu spät, um mich abzuschotten. All diese Gründe sind nicht mehr wichtig. Es ist zu spät, um davonzulaufen. Und außerdem habe ich es satt, Carrie vor mir zu schützen. Vor allen anderen ja, aber nicht vor mir.