Kapitel Dreißig

Reid

Ich spiele das Spiel des Bezirksstaatsanwalts mit und höre mir sein Angebot an, bevor ich ihm sage, dass er mich – wortwörtlich – mal am Arsch lecken kann, und gehe. Ich bin gerade auf halbem Weg in die Kanzlei, als mein Handy klingelt und er sein Angebot erhöht. »Immer noch zu niedrig«, sage ich und lege auf. Er ruft zwar nicht sofort wieder an, aber das wird er noch tun. Manchmal ist das Beste an diesem Job, dass ich mich vor Arschlöchern wie ein Arschloch aufführen darf. Er muss zahlen. Seinetwegen haben Menschen gelitten oder sind gestorben. Meine Gedanken wandern zu Elijah, und ich rufe Royce Walker an.

»Ich muss jemanden unter Kontrolle bringen, ohne ihn in den Ruin zu treiben, aber wenn es nötig ist, tue ich auch das.«

»Wieso willst du ihn in den Ruin treiben?«

»Weil er das Gleiche bei mir versucht hat.«

»Und wieso willst du ihn dann davor bewahren?«

»Weil ich ihm einen emotionalen Tiefschlag versetzt habe, obwohl das gar nicht meine Absicht war. Aber ich will trotzdem keine finanzielle Retourkutsche abkriegen, damit er seine Tränen trocknen kann.«

»Name?«

»Elijah Woodson.«

»Gib mir ein paar Stunden. Noch was?«

»Ja. Weißt du, wer Grayson Bennett ist?«

»Wenn du den Unternehmer mit den Milliarden meinst, dann ja. Was ist mit dem?«

»Das fällt eigentlich nicht in euren Bereich, aber ich muss ihn von mir überzeugen. Ich will ihm zeigen, dass ich in der Lage bin, seine Vorlieben herauszufinden, und zwar in Form eines Geschenks, das ihm noch heute geliefert wird.«

»Und inwiefern soll ihn das von dir überzeugen?«

»Es zeigt ihm, dass ich gründlich bin. Ich finde heraus, wie jemand tickt, und letztendlich werden wir doch alle von unseren Vorlieben bestimmt.«

»The John Walker, kostet dich viertausend pro Flasche.«

»Woher weißt du das?«

»Wir haben mal Personenschutz für Bennett gemacht bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung. Und ich hatte die Gelegenheit, mich bei einer Flasche Whiskey mit ihm zu unterhalten. Das war diese Marke.«

»Du bist dein Geld echt wert, Royce Walker.«

»Erinnere dich daran, wenn ich mein Honorar erhöhe. Ich melde mich.« Als er aufgelegt hat, beginnt mein Kopf zu hämmern, und zwar buchstäblich, so wie früher in der Schule, wenn ich mal wieder einen harten Schlag beim Football kassiert hatte. Doch ich ignoriere den Druck in meinem Hinterkopf, telefoniere mit Connie und weise sie an, den Whiskey liefern zu lassen, zusammen mit einer Nachricht, deren Text ich ihr diktiere. Gerade, als ich damit fertig bin, hält der Wagen vor der Kanzlei, und während ich durch das Gebäude gehe, habe ich nur ein einziges Ziel vor Augen: mir meinen verdammten Bruder vom Hals zu schaffen. Als ich den Geschäftsführerbereich betrete, ignoriere ich Gabes Sekretärin Lulu, eine Anfang dreißigjährige, schnippische Rothaarige, und das aus Prinzip. Erstens: Die Einzige, die zu mir schnippisch sein darf, ist Carrie, und zweitens: Wer heißt schon Lulu?

Gabes Tür steht offen, und als ich eintrete, telefoniert er gerade. Er blickt hoch und mustert mich, während ich die Tür hinter mir schließe.

»Ja, Vater. Das weiß ich, Vater. Ich weiß. Das hast du mir schon dreimal erzählt.« Ärgerlich starrt er den Hörer an und legt auf.

»Was zum Teufel ist das Problem?«, will ich wissen, gehe zu seinem Schreibtisch hinüber und nehme auf einem der weinroten Besucherstühle Platz.

»Unser Vater ist das Problem«, antwortet Gabe. »Das war jetzt schon sein dritter Anruf. Er findet, du hast gegen die Vereinbarungen zwischen ihm und West verstoßen und sie dadurch quasi nichtig gemacht. Er hat damit gedroht, den Beraterjob in Europa hinzuschmeißen und herzukommen.«

Meine Kiefernmuskeln spannen sich an. »Du meinst, wegen Carrie.«

»Richtig.«

»Ich hab diese ganze Sache überhaupt nur wegen seines verdammten Schlaganfalls übernommen. Und weil er und unser lieber Onkel unseren guten Ruf ruiniert haben. Der Deal mit West und Vater war mein Vorschlag: Sie verschwinden aus der Stadt. Weder wir noch Carrie haben irgendetwas mit der Sache zu tun, und trotzdem zahlen wir alle dafür.«

»Ihr Vater hat aber versucht, alles auf uns abzuwälzen«, erinnert Gabe mich. »Das weißt du.«

»Das haben sie beide versucht, und sie sind beide damit gescheitert. Weil ich verhindert habe, dass sie die jüngere Generation unserer Familien damit belasten. Und ich werde es auch in Zukunft nicht zulassen. Das ist nicht unser Krieg, ich dachte, das würdest du auch so sehen.«

»Tue ich«, bestätigt er. »Ich will nur sichergehen, dass ich noch weiß, wo wir stehen. Ich dachte, vielleicht benutzt du Carrie mittlerweile als Waffe.«

»Nein.«

»Das nenne ich mal eine knappe Antwort. Was geht da zwischen dir und Carrie vor? Und ich will die wahre Version hören.«

Hin- und hergerissen reibe ich mir über den Nacken, während ich meinen Bruder betrachte, den einzigen Menschen – abgesehen vielleicht von Carrie und dem, was gerade zwischen uns entsteht -‍, dem ich wirklich vertraue.

»Keine Ahnung«, antworte ich schließlich wahrheitsgemäß.

Er lehnt sich vor. »Ich glaube, das hab ich noch nie aus deinem Mund gehört.«

»Weil ich das auch normalerweise nicht sage«, gebe ich knurrend zurück.

»Und bist du dir sicher, dass sie nicht zur feindlichen Seite gehört?«

»Ja«, sage ich, »absolut.« Ich kratze mich am Kinn. »Und selbst wenn, wäre es egal. Dann würde ich sie auf unsere Seite ziehen.«

Einige Augenblicke lang sieht er mich prüfend an. »Ich verstehe«, entgegnet er dann. »Die Frage ist nur, weiß sie von der Vereinbarung?«

»Gott, nein. Wir sind zur Verschwiegenheit verpflichtet, das weißt du doch. Und du weißt auch, was auf dem Spiel steht, wenn es rauskommt. Und wenn ich ihr davon erzähle, würde sie sofort zu ihrem Vater rennen.«

»Klar würde sie das. Ich würde es an ihrer Stelle definitiv tun.«

»Und ganz ehrlich: Es bringt mich zwar fast um, dass ich ihr nichts davon sagen darf, aber ich muss auch an Moms Brief denken. Ich hätte am liebsten gar nicht gewusst, was ich jetzt weiß. Und Carrie ist ein guter Mensch, viel besser als ich. Sie soll nicht so ein böses Erwachen erleben wie ich.«

»Aber jetzt bist du doch froh, dass du Bescheid weißt. Ich bin es jedenfalls.«

»Bei mir war es wahrscheinlich an der Zeit, dass ich mal aufwache. Aber bei ihr nicht.«

»Dieses Geheimnis zwischen dir und ihrem Vater wird immer zwischen euch stehen.«

»Und irgendwann wird er es gegen mich verwenden, und sie wird mich hassen, ich weiß, aber was soll ich verdammt noch mal machen, Gabe?« Mein Handy klingelt, und instinktiv spannen sich meine Kiefermuskeln an, bevor ich es heraushole und mir die Nummer ansehe. Dann stehe ich auf, gehe zu Gabes Fenster hinüber und nehme das Gespräch entgegen. »Ja, Herr Bezirksstaatsanwalt. Ich breche jetzt mal die Regeln und sage: Bitte nicht noch ein unverschämtes Angebot.«

»Fünfzehn Uhr. In meinem Büro. Mein letztes Angebot.«

»Teilen Sie es mir jetzt mit.«

»Nein«, sagt er und legt auf.

Gabe kommt zu mir. »Kein Deal?«

»Doch, es gibt einen«, erkläre ich. »Aber bis wir den endgültig abgeschlossen haben, nervt er mich weiter zu Tode«, füge ich hinzu, während ich in Gedanken schon wieder bei Carrie bin.

Das scheint Gabe aufzufallen, denn er bringt das Thema ebenfalls wieder auf sie. »Du hast Carrie doch gerade erst kennengelernt«, gibt er zu bedenken. »Momentan kannst du ihr also nichts sagen.«

»Danke, Bruderherz«, entgegne ich und sehe ihn an, »dass du mir bestätigst, wie beschissen meine Situation ist.«

»Wozu hat man einen Bruder?«, erwidert er. »Einer muss einem doch eine realistische Einschätzung geben, wie beschissen das Leben wirklich ist.«

***

Carrie

Bei meiner Ankunft im Büro bin ich hochmotiviert und dufte nach Reid. Ich hatte mein Parfüm zu Hause vergessen und habe – ohne mir wirklich darüber Gedanken zu machen, was passieren könnte, wenn ich mich mit »ihm« einsprühe – eine ordentliche Dosis seines Eau de Colognes genommen; mit dem Effekt, dass ich gierig an mir herumgeschnüffelt habe, weil ich nun einmal seinen perfekten, herben Duft liebe. Danach bin ich voller Energie zur Arbeit aufgebrochen, entschlossen, das große Ziel zu erreichen, zu dem Reid mich inspiriert hat. Er hat meine Firma gerettet. Er hat mir die Chance gegeben, ihre Zukunft zu gestalten. Er hat mich angestachelt, große Visionen anzustreben, und wenn ich Geschäftsführerin sein will, muss ich auch in großen Kategorien denken.

Als ich an Sallies Schreibtisch vorbeimarschiere, rufe ich ihr ein fröhliches »Guten Morgen« zu, bevor ich mein Büro betrete und mich hinter meinen Schreibtisch setze. Im nächsten Moment kommt Sallie schon in den Raum geeilt und bleibt vor meinem Schreibtisch stehen.

»Wie heißt er?«

Blinzelnd sehe ich sie an und hasse die Tatsache, dass sich meine Wangen gerade rot färben. »Wovon redest du?«

»Du riechst wie ein Mann, und du hast so ein Strahlen im Gesicht.«

»Ich rieche wie ein Mann?«, entgegne ich und füge dann mit todernstem Gesicht hinzu: »Ich stinke also nach Schweiß und brauche eine Dusche?«

Sallie verzieht den Mund zu einem Grinsen. »Du weißt genau, was ich meine. Du riechst nach Männerparfüm.«

»Mit anderen Worten: Mein neues Parfüm geht gar nicht.«

»Das ist Frauenparfüm? Das riecht echt nach Mann.«

Weil Reid ein Mann ist, denke ich bei mir, bevor ich antworte: »Ich hab’s ja gesagt: Ich schmeiße das neue Parfüm direkt in die Tonne.«

»Wie heißt es denn?«

»Ach, das war irgend so ein Pröbchen. Kam mit meiner Make-up-Bestellung.« Schnell wechsle ich das Thema. »Hat noch irgendjemand tolle Projekte für Elijah aufgetan?«, erkundige ich mich, obwohl das Thema eigentlich tabu ist. Doch das weiß noch keiner, und so kann ich die Ideen auch anderweitig einsetzen.

»Keine, die du sehen willst, glaub’s mir«, kommentiert sie. »Und wo wir schon bei den angenehmen Dingen sind: Ich gehe unten im Café Kaffee holen. Willst du auch einen?«

»O ja, bitte.«

Mit diesem Auftrag verlässt sie mein Büro, und ich gehe dazu über, in Selbstmitleid zu baden, weil unser Team so schlechte Ergebnisse erarbeitet hat – auch wenn Elijah raus ist. Wäre er noch dabei, hätten wir jetzt versagt, weil wir ihm kein reizvolles Investitionsobjekt hätten anbieten können. Ich weiß nicht, wie ich Elijah einschätzen soll. Reid und ich haben unser Gespräch über ihn nie beendet. Ich weiß nur, dass er auf Rache aus ist, und die könnte sich direkt gegen unsere Firma wenden. Ich muss wissen, worum es bei den beiden geht. Reid muss es mir sagen.

Doch erst einmal schiebe ich dieses Thema beiseite und denke stattdessen über Elijahs Kommentare über meinen Vater nach. Einige Leute wollen tatsächlich keine Geschäfte mehr mit ihm machen, und ich überlege, wer noch alles dazugehören könnte. Konzentriert gehe ich meine Kontaktliste durch und unterstreiche die Namen derjenigen, die auf mich wesentlich herzlicher reagiert haben als auf meinen Vater. Irgendwann im Laufe dieser Arbeit bringt Sallie mir einen Kaffee und die kleinen Eierquiches, die ich oft esse.

Nachdem ich mein Frühstück genossen habe, fokussiere ich mich auf einen Namen: Marcus Phelps, einer der Geldgeber des New York Rockets Basketballteams. Es kam mir so vor, als wollte er zwar Geschäfte mit mir machen, würde aber durch irgendetwas zurückgehalten. Ich rufe ihn an und hinterlasse ihm eine Nachricht. Kurze Zeit später ruft er mich zurück.

»Ich wollte Sie sowieso anrufen«, sagt er in seinem gewohnt charmanten Tonfall. Marcus Phelps ist ein Frauenheld, der mit jeder flirtet. Ich glaube, er kann einfach nicht anders. »Wie ich höre, übernehmen Sie demnächst die Geschäftsführung von Ihrem Vater?«

»Das stimmt«, bestätige ich. »Ändert das irgendwas für Sie?«

»Vielleicht. Lassen Sie uns doch mal gemeinsam mittagessen. Ich bin jetzt eine Woche nicht in der Stadt, aber vereinbaren wir doch einen Termin für danach.«

Wir legen ein Datum fest und verabschieden uns. Gerade, als ich noch weitere Kunden anrufen will, ruft Reid mich an.

»Hey, Kleines«, sagt er zärtlich.

Der Kosename löst ein Flattern in meinem Magen aus, und diese Reaktion sagt schon einiges. Noch vor Kurzem habe ich ihn als Arschloch bezeichnet, und jetzt sind wir in diesem Stadium angekommen. Und das relativ schnell. Ich warte darauf, dass sich ein unbehagliches Gefühl in mir breitmacht, aber ich habe mich immerhin schon in der ersten Nacht von diesem Mann verführen lassen, direkt bevor ich ihm Handschellen angelegt habe. Ich denke, was Reid angeht, habe ich meine Grenzen schon lange überschritten.

»Hey«, entgegne ich. »Wie sieht’s aus? Konntest du die Entschädigung aushandeln?«

»Noch nicht. Ich treffe mich um drei noch mal mit ihm, aber wir stehen kurz davor.«

Mir fällt die Anspannung in seiner Stimme auf. »Worüber machst du dir Sorgen?«

»Wer sagt, dass ich mir Sorgen mache?«

»Du klingst irgendwie besorgt oder müde.«

Er schweigt einige Sekunden, bevor er antwortet: »Ich bin gerade auf dem Weg zu einem der Anteilseigner, um ein Problem zu regeln.«

»Wegen Elijah?«

»Ja«, bestätigt er. »Wegen Elijah.«

»Erzählst du mir irgendwann, was zwischen euch beiden los ist?«

Wieder verstummt er. »Wir sprechen noch darüber«, sagt er dann und wechselt direkt das Thema. »Ich kann erst nach meinem Termin mit dem Staatsanwalt kommen. Wie läuft es bei euch?«

»Gut. Ich hab ein Treffen mit einem großen Kunden vereinbart.«

»Das kannst du mir ja dann heute Abend ausführlich erzählen – nackt, in meinem Bett oder wo auch immer in meiner Wohnung. Das darfst du dir aussuchen. Dass du dabei nackt bist, ist allerdings nicht verhandelbar. Hast du dir alles angeschaut?«

»Nein. Ich wollte auf dich warten. Ich will, dass du mir alles zeigst, was ich sehen darf.«

»Soso, das willst du also?«

»Ja, das will ich.« Ich zögere. »Reid.«

»Fang jetzt nicht wieder mit Elijah an.«

»Was, wenn es mir gelingt, ihn von seinen Rachegelüsten abzubringen?«

»Nein.«

»Reid …«

»Nein, Carrie. Ich muss jetzt Schluss machen.«

»Ich bin aber noch nicht fertig mit dem Thema.«

»Ich schon, zumindest, bis du dich nackt ausgezogen hast.«

»Du bist besessen davon, mich nackt zu sehen.«

»Ich bin von dir besessen, Carrie.«

Erneut tanzen Schmetterlinge durch meinen Bauch. »Ist das so?«

»Ja, ist es. Ich bin total von dir besessen. Und gerade fällt mir ein, wovon ich besonders besessen bin, seit ich dich kenne.«

»Wovon?«

»Davon, dich an mein Bett zu ketten, mit denselben Handschellen, mit denen du mich gefesselt hast. Lässt du mich?«

Hitze rauscht durch meine Adern. »Nein.«

»Wieso nicht? Vertraust du mir etwa nicht, Carrie?«

Die Worte sind scherzhaft gemeint, trotzdem runzle ich die Stirn, weil ich mir sicher bin, dass mehr dahintersteckt.

»Wenn du’s genau wissen willst: Doch, ich vertraue dir, Reid.«

»Diese Worte werde ich noch auf die Probe stellen, Carrie. Aber jetzt muss ich weiter. Ruf mich an, wenn irgendwas ist.« Im nächsten Moment hat er aufgelegt.

Diese Worte werde ich noch auf die Probe stellen. Damit spielt er nicht auf die Handschellen an. Er spricht von seiner Gewissheit, dass ich ihn bald wieder hassen werde, und ich will wissen, wie er darauf kommt. Genau genommen will ich eine ganze Menge wissen. Zum Beispiel über seine Vorgeschichte mit Elijah und die Dinge, die alle außer mir über meinen Vater zu wissen scheinen. Vielleicht werde ich Reid Maxwell wieder fesseln müssen, aber diesmal wird er dabei nackt sein, und ich werde nicht verschwinden.