Kapitel Einunddreißig

Carrie

Um kurz vor sechzehn Uhr sitze ich hinter meinem Schreibtisch und Sallie vor mir, als meine Gegensprechanlage summt und ich höre: »In mein Büro. Sofort.« Das ist natürlich Reid, der verkündet, dass er und das Arschloch, in das er sich während der Arbeit verwandelt, sich nun im Gebäude aufhalten.

»Wieso lächelst du so?«, will Sallie wissen. »Der Mann kommandiert dich herum wie ein Sklavenhalter.«

Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich lächle, aber ich antworte, ohne mir das leiseste Zögern anmerken zu lassen.

»Ich lächle, weil er sich nur so verhält, um mich zu ärgern, und genau darum geht es«, erkläre ich und stehe auf. »Er will, dass ich mich unter all den Arschlöchern da draußen behaupten kann. Das habe ich mittlerweile kapiert. Ich verstehe jetzt, wie er tickt, und lasse mich nicht mehr von ihm ärgern.« Ich steuere auf die Tür zu.

»Zeig’s ihm!«, ruft Sallie mir hinterher und bringt mich damit zum Lachen. Ich liebe diese Frau, die erst entsetzt wäre und mich dann nach Einzelheiten ausfragen würde, wenn sie über mich und Reid Bescheid wüsste.

Gut gelaunt durchquere ich den Geschäftsführerbereich, wo Connie gerade hinter ihrem Schreibtisch sitzt. »Ich warne Sie schon mal vor: Er ist nicht besonders gut drauf.«

»Nein?«

»Nein, und das sage ich nicht oft. Ich kenne ihn. Ich weiß, wie er tickt, und gerade stimmt irgendwas nicht.«

Sofort muss ich an Elijah denken, doch dann fällt mir sein Meeting mit dem Bezirksstaatsanwalt wegen der Entschädigung ein.

»Vielen Dank für die Warnung«, sage ich.

»Eigentlich warne ich niemanden vor Reid«, entgegnet sie, und es ist offensichtlich, dass sie mich damit zu genau der Frage anstiften will, die ich nun stelle.

»Wieso haben Sie es dann gerade bei mir getan?«

»Ich hab da so ein Bauchgefühl, was Sie angeht.«

Das könnte alles heißen, und ich nehme an, sie glaubt, ich sei nicht stark genug, um mit Reids Stimmung klarzukommen. Leider lässt sie mir gar keine Zeit, um nachzufragen.

»Soll ich Sie ankündigen, oder wollen Sie lieber die Flucht ergreifen?«, erkundigt sie sich.

»Ich gehe einfach rein«, erwidere ich, schon auf dem Weg zur Tür, und als ich sie öffne, lacht Connie. Ihr Lachen klingt irgendwie diebisch und bringt mich zu dem Schluss, dass ich genauso reagiert habe, wie sie es sich erhofft hatte.

Ich betrete das Büro und schließe die Tür. Reid sitzt hinter seinem Schreibtisch – wie immer absolut sexy -‍, und als er mich sieht, hebt er abwartend eine Augenbraue. Er fixiert mich mit seinen wahnsinnig blauen Augen, während ich auf seinen Schreibtisch zugehe und mich dann auf der Mahagoniplatte abstütze.

»Willst du wirklich weiter den Arschlochchef raushängen lassen?«

»Ja«, sagt er. »Und die Tatsache, dass ich dich nackt gesehen habe und vorhabe, dich das ganze Wochenende über nackt zu sehen, ändert nichts daran.«

Genau diese Antwort habe ich von ihm erwartet, trotzdem habe ich immer noch Connies Warnung im Ohr.

»Konntest du das Problem mit dem Anteilseigner regeln?«

»Hast du etwa daran gezweifelt?«

»Und konntest du deinen Fall zum Abschluss bringen?«

»Jepp, für zwanzig Millionen.«

Das sind doch eigentlich gute Nachrichten, doch er klingt so sachlich, dass ich weiterbohre.

»Wolltest du mehr haben?«

»Ich wollte fünfzehn.«

»Dann«, sage ich, immer noch vorsichtig, »hast du also gewonnen und heute vielen Leuten geholfen.«

»So gut man jemandem helfen kann, der einen geliebten Menschen verloren hat.«

Ich stoße mich vom Tisch ab und gehe darum herum zu Reid. Ich bin noch nicht ganz bei ihm, da ist er schon aufgesprungen, um mir entgegenzukommen, und so stehen wir jetzt dicht voreinander – allerdings, ohne uns zu berühren.

»Du hast etwas Gutes getan, das war sehr heldenhaft.«

Er zieht mich an sich. »Wie schon gesagt, mach nicht den Fehler, mich für einen netten Kerl zu halten, schon gar nicht einen mit moralischem Gewissen, was du gerne bei mir sehen würdest.«

»Spielst du jetzt wieder das Arschloch, weil ich dich zu gut durchschaue?«

Er schiebt die Finger in mein Haar und spielt damit, während er mich nachdenklich ansieht.

»Nein, weil du etwas in mir sehen willst, das nicht da ist. Und das solltest du mir und uns nicht antun.«

»Dann soll ich also lieber das Wochenende mit einem Arschloch verbringen, das ich hasse?«

»Ich will, dass du mich so siehst, wie ich wirklich bin.«

»Aber du musst dich nicht wie ein Arschloch aufführen, um zu verhindern, dass ich auf einen Ring von dir hoffe oder sonst irgendwelche Verpflichtungen von dir erwarte, Reid. So bin ich nicht, und ich will dich nicht hassen. Tue ich auch nicht, nicht mehr jedenfalls, also hör einfach auf …«

Bevor ich weiß, was geschieht, küsst er mich, und sein wundervoller herber Duft berauscht mich, bis zu dem Moment, als ein schmerzhaftes Stöhnen aus seiner Kehle dringt.

»Das hörte sich aber nicht gut an«, befinde ich und weiche ein Stück zurück, um ihn anzusehen. »Was ist los?«

Er lehnt die Stirn gegen meine. »Nichts.« Hörbar atmet er durch, bevor er sich wieder hinsetzt und den Kopf in die Hände stützt. »Ach, verdammt. Ich hab keine Zeit für so was.«

Ich knie mich vor ihn auf den Boden. Stirnrunzelnd schaut er mich an. »Geh nicht vor mir auf die Knie, solange ich das nicht mal ausnutzen kann.«

»Solche Anspielungen lenken mich weder ab, noch ärgere ich mich darüber. Mit anderen Worten: Sag mir, was los ist.«

»Du hockst vor mir auf den Knien, und ich hab gerade nichts davon, das ist los«, sagt er mürrisch und gereizt.

»Reid«, treibe ich ihn sanft an.

»Du gibst nicht auf, stimmt’s?«

»Nein, und du hättest mir auch nicht den Posten hier gegeben, wenn ich das täte. Also, erzähl’s mir.«

»Was ich dir jetzt sage, darf niemand wissen, klar, sonst …«

»Das bleibt unter uns«, versichere ich.

Einen Moment lang, der sich wie eine Ewigkeit anfühlt, betrachtet er mich aufmerksam.

»Auf dem College hab ich Football gespielt«, sagt er dann. »Dabei hab ich mir einige Gehirnerschütterungen zugezogen, und früher hatte ich dauernd Migräne.«

»Früher oder immer noch?«

»Seit fünf Jahren nicht mehr.«

»Bis heute«, vermute ich.

»Ja«, bestätigt er.

»Hast du irgendwelche Medikamente dagegen?«

»Nicht mehr.«

»Na ja, du bist ja nicht arm«, sage ich. »Wir lassen einfach einen Doktor hierherkommen.«

»Hast du gerade gesagt, ich bin ja nicht arm, und wir lassen einfach einen Doktor hierherkommen?«

»Ja.« Ich stehe auf und will nach dem Telefon greifen, doch er rollt mit seinem Stuhl zu mir und hält mich an den Hüften fest.

»Nicht.«

Ich drehe mich zu ihm um. »Aber du brauchst …«

»Elijah – und wer weiß, wer noch alles – lässt mich beschatten. Als Manager einer feindlichen Übernahme steht man im Fokus der Öffentlichkeit und unter hohem Druck. Deswegen kann ich mir das gerade nicht leisten.«

»Das sind doch nur Kopfschmerzen, Reid.«

»Nein, da geht es um viel mehr. Ich will nicht, dass jemand in meiner Krankheitsgeschichte gräbt und auf die Idee kommt, ich hätte einen Dachschaden oder so was.«

»Das ist ein Migräneanfall in fünf Jahren. Du bist doch auch nur ein Mensch, Reid.«

»Abgesehen von meinem Bruder bist du die Einzige, die das glaubt. Und das soll auch so bleiben.«

Mir entgeht nicht, dass er seine Schwester und seinen anderen Bruder außen vorgelassen hat. Doch ich konzentriere mich lieber darauf, eine Lösung zu finden. »Dann musst du was gegen die Kopfschmerzen tun.«

»Ich hab sonst immer eine Kombination aus Schmerzmitteln und was gegen Stirnhöhlenentzündung genommen. Wenn ich das mache und mich zwanzig Minuten hinlege, bin ich gleich wieder fit.«

»Oh, okay«, erwidere ich. »Das kriegen wir hin.« Ich will mich wieder umdrehen, doch er verstärkt seinen Griff um meine Hüften und hält mich auf.

»Was hast du vor?«, will er wissen.

»Ich wollte Connie bitten, die Medikamente zu holen.«

»Nein. Connie weiß nichts davon. Keiner weiß davon.«

»Nicht mal Connie?«

»Nicht mal Connie.«

»Aber sie arbeitet doch schon seit zehn Jahren für dich.«

»Ja, das tut sie.«

»Okay. Solange du Migräne hast, lasse ich das mal unkommentiert. Dann also Plan B.« Erneut versuche ich, mich abzuwenden, aber er hält mich weiterhin fest. »Reid. Lass mich los.«

»Was hast du denn jetzt vor?«

Ich strecke die Hand aus und lege sie ihm an die Wange. »Ich weiß, du vertraust Menschen nicht so leicht. Das ist mir gerade noch klarer geworden, und ich verstehe es auch, aber bei dieser kleinen Sache hier bitte ich dich, mir zu vertrauen. Du hast gesagt, du willst nicht, dass irgendjemand davon erfährt, und das wird auch keiner.«

Zögernd kneift er die Augen zusammen und atmet tief ein, bevor er mich wieder ansieht und mir leicht zunickt. Schmerzgeplagt verzerrt er das Gesicht, offensichtlich ist selbst diese kleine Bewegung zu viel.

»Okay«, murmelt er dann.

»Was gegen Migräne habe ich selbst dabei«, verkünde ich. »Das flößen wir dir mal als Erstes ein. Bin gleich wieder da.« Ich trete einen Schritt vor, und bevor ich mich davon abhalten kann, küsse ich ihn auf die Schläfe.

Er greift nach meiner Hand und sieht mich mit einem harten, undeutbaren Blick an, bevor er – zu meiner Überraschung – meine Hand umdreht und die Lippen auf die Innenseite drückt. Plötzlich liegt Schmerz in seinen Augen, den er mich sehen lässt, während er das noch vor wenigen Sekunden nicht getan hat. Er lässt mich in seine Seele schauen. Er entscheidet sich dafür, mir seine menschliche Seite zu zeigen, mir zu vertrauen, und das raubt mir für einen kurzen Moment den Atem. »Beeil dich«, kommandiert er dann sanft und lässt meine Hand los.

»Mache ich«, verspreche ich, bevor ich den Schreibtisch umrunde und mit leicht wackligen Knien auf die Tür zugehe. Das, was da gerade zwischen diesem Mann und mir passiert ist, zeigt anscheinend Wirkung. Was ist da überhaupt gerade passiert?

Er ist passiert. Offensichtlich ist das gerade die Antwort auf jede Frage, die in meinem Leben aufkommt. Reid Maxwell ist passiert.