Kapitel Siebenunddreißig

Carrie

Grayson Bennetts Anwesen direkt am Strand ist ein weitläufiges, verwinkeltes Gebäude, das durch seine Holzelemente und diversen Spitzdächer trotzdem irgendwie nicht protzig wirkt. Während Reid und ich die Treppe zur Eingangstür hinaufgehen, spüre ich seine Hand in meinem Rücken, nehme seine Berührung genauso überdeutlich wahr, wie ich mir der Tatsache bewusst bin, dass es zwischen uns sowohl ein Geheimnis als auch ein Versprechen gibt. Gleichzeitig weiß ich, dass er großes Vertrauen in meine Fähigkeiten legt, Grayson zu beeindrucken. Das setzt mich unter Druck, der nicht nur von ihm ausgeht, sondern auch von mir. Ich will Grayson beeindrucken, und so schiebe ich die Gedanken an das Telefonat mit meinem Vater beiseite, genauso wie alle Fragen und Gefühle, die dieses Gespräch offensichtlich in mir ausgelöst hat.

»Sei einfach du selbst«, sagt Reid und streckt die Hand aus, um zu klingeln. Noch bevor er jedoch den Klingelknopf berührt, wird die Tür von innen geöffnet.

Eine schlanke Frau mit schwarzen Haaren und blauen Augen, die einen marineblauen Hosenanzug trägt, steht vor uns.

»Herzlich willkommen, Carrie und Reid«, begrüßt sie uns. »Ich bin Leslie, die Hausverwalterin, wobei ich eigentlich vielmehr Graysons Patentante bin. Ich kümmere mich um das Haus, wenn er nicht hier ist, und um ihn, wenn er hier ist. Und heute Abend auch um Sie beide.« Lächelnd tritt sie einen Schritt zurück und winkt uns mit einer Handbewegung zu sich. »Kommen Sie herein.«

Diese freundliche Begrüßung hat etwas unerwartet Vertrautes, und ich finde Leslie einfach bezaubernd. Reid krümmt leicht die Finger an meinem Rücken, um mich zum Gehen aufzufordern, deshalb betrete ich vor ihm den offenen Eingangsbereich, der nur durch einen kleinen Tisch und einen Kronleuchter an der Decke als solcher erkennbar ist. Das Foyer geht nahtlos in einen weiten, wunderschönen Raum mit dunkelgrauem Holzboden, hohen Decken und eleganten Hängelampen über. Und natürlich – wie in so einem Haus nicht anders zu erwarten – gibt es auf einer Seite eine Wand aus deckenhohen Fenstern und einen Kamin, die zusammen den Wohnbereich abgrenzen, der mit einer Mischung aus grauen und cremefarbenen Möbeln eingerichtet ist.

Reid tritt neben mich, und obwohl er mich diesmal nicht berührt, geht etwas Besitzergreifendes von ihm aus, als wäre er jederzeit bereit, seinen Anspruch auf mich zu verteidigen. Dieses Verhalten steht in völligem Gegensatz zu dem Eindruck, den er mir bisher von dem bevorstehenden Meeting vermittelt hat, und ich verstehe nicht, wieso er sich auf einmal so verhält. Vielleicht ist es auch nur ein Beschützerinstinkt, aber was auch immer in ihm vorgeht, ist ungewöhnlich heftig. Es geht spürbar von ihm aus und trifft auf mich wie eine Wand. Am liebsten würde ich ihn danach fragen, damit ich ihn verstehe, doch Leslie hat uns schnell eingeholt.

»Grayson ist hinten auf der Terrasse«, sagt sie und bedeutet uns, ihr zu folgen, während sie davongeht.

Reid beugt sich dicht an mein Ohr heran und wiederholt flüsternd seine Worte von eben.

»Sei einfach du selbst.«

»Heißt das, du bist auch ganz du selbst? Führst du dich dann wie ein Arschloch auf?«

Ein Lächeln umspielt seine Lippen, und er zwinkert mir zu. »Du weißt, wie’s läuft, Baby.«

Ich muss lachen, und irgendwie lässt dieser kurze Wortwechsel meine Anspannung verfliegen – und seine auch, denke ich. Wir konzentrieren uns beide auf die Herausforderung, die vor uns liegt, und setzen uns in Bewegung, lassen uns von Leslie an der glänzenden Küche aus grauem Marmor und am Wohnbereich vorbei bis zu einer Glastür führen. Dahinter erstreckt sich eine gemütliche, von Mauern umgebene Terrasse mit Blick aufs Meer und Außenkamin. Direkt zu unserer Linken steht ein quadratischer Tisch für vier Personen, an dem Grayson sitzt. Er hat dunkles, welliges Haar und einen kurz geschnittenen, gepflegten Kinnbart.

Außerdem ist er groß – wie ich feststelle, als er bei unserer Ankunft aufsteht -‍, über eins achtzig, würde ich schätzen, und sein Outfit, eine schwarze Jeans und ein schlichtes schwarzes T-Shirt, ist genauso unaufdringlich wie bisher alles an dieser Begegnung.

»Reid«, grüßt er, und die beiden Männer schütteln sich freundlich die Hand, bevor Graysons intensiver, tiefgründiger Blick schwer auf mir landet, und seine grünen Augen mich abschätzend mustern. »Schön, Sie kennenzulernen, Carrie.«

»Freut mich ebenfalls«, entgegne ich, »und vielen Dank für die Einladung in ihr wunderschönes Haus.«

»Es freut mich, dass Sie hergekommen sind«, sagt er. »Ich finde immer, man lernt sich besser in einem privaten und nicht so förmlichen Umfeld kennen.« Er deutet auf den Stuhl neben seinem. »Machen Sie es sich bequem.«

Reid rückt mir den Stuhl zurecht, und ich setze mich, bevor die Männer es mir gleichtun, Reid links von mir, Grayson rechts.

»Es gibt Lasagne zum Abendessen«, verkündet Leslie, die nun zu uns an den Tisch kommt. »Aber ich kann jederzeit was anderes machen, wenn Sie besondere Wünsche haben oder irgendetwas nicht vertragen.«

»Lasagne ist ganz wundervoll«, sage ich schnell.

»Das ist mein erstes hausgemachtes Essen seit Jahren«, fügt Reid hinzu.

»Na, das ist ja viel zu lange her«, befindet Leslie mit leichtem Tadel. »Aber um dieses Problem zu beheben, gibt es nichts Besseres als Lasagne nach dem Rezept von Graysons Mutter. Ann weilt zwar nicht mehr unter uns, aber dank ihr haben wir trotzdem immer gutes Essen.« Sie wirft Grayson einen kurzen Blick zu, bevor sie schnell das Thema wechselt. »Was kann ich Ihnen denn zu trinken anbieten? Wir haben eigentlich alles da – Wein, Brandy, Scotch -‍, die Liste ist lang.«

Mein Blick fällt auf Graysons Glas Wein. »Ich würde ja sagen, ich nehme das, was Sie haben, aber ich habe Angst, ihre Gastfreundschaft auszunutzen und mich für einen unangemessen teuren Wein zu entscheiden.«

Er lacht. »Tatsächlich trinke ich hier einen exzellenten Pinot für hundert Euro die Flasche, den ich in Sonoma gefunden habe.« Er gießt mir ein. »Mit Weinen ist es wie mit allen Dingen im Leben: Die teuersten sind nicht unbedingt die besten, und ich habe nur deshalb so viel Geld, weil ich es nicht zum Fenster hinauswerfe.« Er sieht Reid an. »Diese Eigenschaft teilen wir, nehme ich an.«

»In der Tat«, stimmt Reid zu. »Das tun wir, und noch einige andere, über die wir vielleicht nicht so offen sprechen wollen.«

»Sind Sie auch ein Arschloch?«, frage ich Grayson.

Der lacht. »Ich kann eins sein, aber ich bin wählerischer als Reid, was den Ort und Zeitpunkt angeht.«

»Möchten Sie auch ein Glas Pinot, Reid?«, erkundigt sich Leslie, die immer noch am Tisch steht und auf seine Getränkewahl wartet.

»Für mich einen Scotch on the rocks, bitte«, bestellt Reid. »Den teuersten, den Sie haben. Er schuldet mir noch zehntausend.«

Nachdenklich sieht Grayson Leslie an. »Bring ihm die ganze Flasche, dann sind wir quitt.«

Am liebsten hätte ich nachgefragt, was es mit den Schulden zwischen den beiden auf sich hat, aber als Leslie im Haus verschwindet, richtet Grayson seine Aufmerksamkeit wieder auf uns – besonders auf Reid – und wechselt das Thema.

»Wie ich sehe, hat sie keine Angst, die Dinge beim Namen zu nennen, Reid.«

»Definitiv nicht«, pflichtet Reid ihm bei, »aber das hat sie mir schon bei unserer ersten Begegnung laut und deutlich klargemacht.«

»Wie ist denn Ihr Zusammentreffen überhaupt gelaufen?«, erkundigt sich Grayson an mich gewandt. »Er hat ja Ihren Vater gefeuert. Das war ziemlich grob, da haben Sie ihn doch sicher gehasst.«

»Ich war tatsächlich sehr sauer«, bestätige ich und folge damit meinem Gefühl, dass ich bei Grayson am besten mit Ehrlichkeit weiterkomme. »Und ich hatte einen großen Hass auf Reid.«

»Und trotzdem sitzen Sie jetzt hier neben ihm«, kommentiert Grayson und mustert mich eindringlich.

»Sie hat ihren Hass auf mich überwunden«, antwortet Reid an meiner Stelle.

»Und es bisher nicht bereut«, sage ich mit einem Blick in seine Richtung. »Du hattest es verdient.«

»Ach, tatsächlich?«, fragt Reid herausfordernd und verzieht die Lippen zu einem Grinsen. Die Funken, die zwischen uns sprühen, sind offensichtlich, lassen sich weder verstecken noch leugnen, und ich bin mir sicher, dass Grayson sie bemerkt. Zum Glück kommt Leslie in diesem Moment zurück, und ich hoffe, ihr Auftauchen lenkt Grayson von uns ab, auch wenn Reid der Meinung ist, es spiele keine Rolle. Mein Bauchgefühl sagt mir etwas anderes.

Leslie stellt eine Flasche Whiskey und ein Glas mit Eiswürfeln auf den Tisch. Aufmerksam beäugt Reid die Flasche.

»Die ist nur fünftausend wert. Du schuldest mir also immer noch fünf.«

Damit verschafft er mir eine weitere Gelegenheit, die beiden nach ihren Schulden zu fragen, und als Leslie weggeht, will ich genau dies tun, doch wieder grätscht mir Grayson dazwischen, und diesmal mit Karacho. Er beugt sich zu Reid vor.

»Du vögelst mit ihr. Soll ich sie deshalb unterstützen?«