Kapitel Vierzig

Carrie

Reid steigt ebenfalls in den Wagen ein, und als er die Tür hinter sich schließt, steigt mir sein herber, würziger Geruch in die Nase. Seine machtvolle Ausstrahlung überwältigt mich und nimmt den engen Raum vollkommen ein, doch er fasst mich nicht an. Tatsächlich unternimmt er nicht einmal den Versuch, näher zu rücken. Stattdessen bleibt er auf dem Platz direkt neben der Tür sitzen und tippt gegen den Fahrersitz, was den Fahrer sofort zum Handeln bewegt. Ohne den Austausch eines einzigen Wortes setzt sich der Wagen in Bewegung, und mit jedem Zentimeter, den wir zurücklegen, scheint die Distanz zwischen Reid und mir größer zu werden. Und trotzdem spüre ich diesen Mann in jeder Zelle meines Körpers. Noch nie zuvor habe ich irgendeinen Menschen so stark wahrgenommen. Ich will, dass er mich berührt. Ich will ihn ebenso berühren, doch die Geheimnisse, die zwischen uns bestehen, halten mich zurück – und ihn vermutlich auch.

Vielleicht habe ich ihn aber auch mit meiner Auflistung unserer Möglichkeiten verschreckt, kurz bevor wir ins Auto eingestiegen sind. Vielleicht will er einfach keine Beziehung, die über Sex hinausgeht, wenn das bedeutet, dass er mir alles erzählen muss. Aber ich will keine Beziehung, in der wir Geheimnisse voreinander haben, und ich weiß, dass es für mich so nicht weitergehen kann, auch wenn ich keine Ahnung habe, was das letztendlich bedeutet. Möglicherweise ist das mit uns vorbei. Vielleicht haben wir auch einfach nur weiter Sex, aber wie gesagt: Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann.

Als mein Blick Reids Hand streift, die auf seinem Knie liegt, fällt mir auf, wie fest er die Finger in sein Bein gekrallt hat, und in diesem Moment weiß ich, dass er genauso angespannt ist wie ich. Es gefällt mir überhaupt nicht, dass ich im selben Augenblick daran denken muss, wie sich diese Hand auf meinem Körper anfühlt, aber ich kann nichts dagegen tun. Es hat mich einfach völlig erwischt.

Ich habe keine Ahnung, ob ich Erleichterung oder Verzweiflung empfinde, als der Fahrer nur wenige Minuten später vor einem marineblauen Strandcottage anhält, das von außen beleuchtet ist. Reid würdigt mich keines Blickes. Er öffnet einfach nur schweigend seine Tür, und ich erspare uns die unangenehme Situation, mir von ihm beim Aussteigen helfen zu lassen, indem ich nicht auf seine Seite durchrutsche, sondern direkt meine Tür öffne und den Wagen verlasse. Erst am Kofferraum treffen wir aufeinander, wo der Fahrer gerade unser Gepäck auslädt. Reid gibt ihm ein Trinkgeld, und bevor ich noch meine Hilfe anbieten kann, schnappt er sich unsere Taschen.

»Ich hab den Schlüssel«, informiert er mich, und als unsere Blicke sich treffen, prallt seine Anspannung wie eine unsichtbare Wand auf mich. »Grayson hat ihn mir gegeben, bevor wir gefahren sind.«

Stumm nicke ich und will nach meiner Tasche greifen, doch Reid hält sie weiter fest.

»Ich mach das schon«, murmelt er, bevor er sich umdreht und vor mir den Weg zum Eingang hochmarschiert – mit so schnellen Schritten, dass er schon dabei ist, die Tür aufzuschließen, als ich bei der Veranda ankomme. Als er die Tür aufstößt, geht das Licht im Innern an – ob er es angemacht hat oder es einen Bewegungsmelder gibt, weiß ich nicht. So oder so betritt er das Cottage als Erster, und ich folge ihm in einen schmalen Flur, der mit schwarzen Dielenbrettern ausgelegt ist. Neben einem Holztisch stellt Reid unser Gepäck ab, während ich die Tür zumache und mich umwende, um sie abzuschließen – mein erster Versuch, die Kontrolle zu erlangen, die sich gerade verdammt weit außerhalb meiner Reichweite zu befinden scheint.

Als ich mich jedoch wieder in Richtung Raum drehe, hat Reid erneut die Führung übernommen. Überraschend steht er vor mir, zieht mich an sich und vergräbt die Finger in meinem Haar, während er mich aus seinen blauen Augen heraus ansieht. Die Tatsache, dass er mich berührt, ist eine wahnsinnige Erleichterung: Ich brauche diesen Mann, und dieses Bedürfnis ist gleichzeitig berauschend und erschreckend.

»Reid«, flüstere ich, als er nicht sofort etwas sagt. Ich will Antworten, ich will mehr.

Doch er antwortet mir nicht mit Worten. Stattdessen presst er den Mund auf meinen, lässt seine Zunge tief in meinen Mund gleiten, und mehr brauche ich nicht. Wieder einmal verliere ich mich in diesem Moment, in diesem Mann. Vergessen sind all die Fragen, Geheimnisse und der Drang, die Kontrolle zu übernehmen. Es gibt nur noch diesen Kuss, in den ich mich vollkommen hineinsinken lasse. Ich schlinge die Arme um Reid, unter seinem offenen Jackett, und schmiege mich an seinen harten Körper, an jeden Zentimeter davon, den ich erwische, und das fühlt sich so gut an, dass mir ein sanftes Stöhnen aus dem Mund schlüpft. Als er allerdings die Lippen von meinen löst und nur einen Atemhauch von mir entfernt verharrt, setzt mein Verstand erneut ein und treibt mich – gepaart mit meiner Verletzlichkeit – dazu, doch Antworten von ihm zu fordern, schon allein, um nicht wahnsinnig zu werden.

»War das ein ›Ich will nur Sex mit dir‹-Kuss oder ein ›Beziehungs‹kuss?«, will ich wissen. »Oder nur eine Ablenkung, damit ich das mit den Geheimnissen vergesse?«

»Wie hat es sich denn angefühlt, Carrie?«, erwidert er mit rauer Stimme.

»Genauso wie diese Antwort«, sage ich. »Unentschlossen.«

Ich spüre, wie Anspannung durch seinen Körper zieht, bevor er sich aus der Umarmung löst und sich mit den Fäusten links und rechts von mir gegen die Wand stemmt. »Ich hab mit Elijahs Frau gevögelt.«

Die Antwort kommt so unerwartet, dass ich aufkeuche. »Was?«

»Sie hatte keinen Ring am Finger, und ich wusste nicht, wer sie ist, aber zu der Zeit waren Elijah und ich gerade Konkurrenten bei einem Geschäft, und ich hab mich natürlich nie bei ihm entschuldigt.« Abrupt stößt er sich von der Wand ab und geht davon, doch kurz bevor er um die Ecke in den angrenzenden Raum abbiegt, dreht er sich halb um und fügt hinzu: »Ich habe zu ihm gesagt: Wenn er seine Frau richtig befriedigen würde, wäre sie nicht zu mir gekommen. Ich hab in meinem Leben eine Menge heftiger Sachen gemacht, Carrie, und die meisten davon tun mir nicht mal leid.« Mit dieser Feststellung wendet er sich endgültig ab und lässt mich im Flur stehen.

Tief atme ich durch und versuche zu verstehen, was er da gerade gesagt hat. Er wusste nicht Bescheid, aber es tat ihm auch nicht leid. Es tut ihm immer noch nicht leid. Diese Worte wiederhole ich ungefähr dreimal in meinem Kopf, und schließlich entscheiden sich meine Gefühle für Wut. Zornig stürme ich Reid hinterher, und als ich um die Ecke biege, breitet sich ein weitläufiger Wohnbereich mit cremefarbenen Möbeln vor mir aus. Reids Jackett und Krawatte liegen auf der Couch, gegenüber einer Wand aus Vorhängen, von denen einer im Wind flattert – offensichtlich, weil dahinter eine Tür offen steht. Ich schlüpfe aus meinen High Heels und trete auf eine Holzveranda hinaus, von der aus sich der Ausblick auf den tiefschwarzen Ozean eröffnet. Aus der Ferne dringt das Rauschen der sich brechenden Wellen zu mir herüber. Reid steht mit dem Rücken zu mir, die Hände auf ein breites Holzgeländer gelegt, und unter seinem Hemd zeichnen sich die Muskeln seiner breiten Schultern ab.

Schnell lege ich die kurze Distanz zwischen uns zurück, tauche unter seinem Arm hindurch und stelle mich zwischen ihn und die Brüstung. »Es tut dir also nicht leid?«, frage ich in herausforderndem Ton.

»Nein«, bekräftigt er. »Es tut mir überhaupt nicht leid.«

»Du hast gesagt, ich würde dich eines Tages hassen.«

»Das wirst du«, entgegnet er. »Vielleicht hast du ja sogar schon damit angefangen.«

»Vielleicht versuchst du aber auch, mich dazu zu drängen. Weil du dadurch eine Beziehung mit mir vermeiden kannst. Vielleicht willst du sogar, dass ich dich hasse. Ist das so? Willst du, dass ich dich hasse, damit du nur mit mir vögeln kannst? Um dir das ganze Gerede zu sparen und …«

Erneut streckt er die Hand aus und spielt mit meinem Haar. »Ich will nicht, dass du mich hasst«, stößt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Im Gegenteil: Mir graut es vor dem Tag, an dem du das tust, verdammt, aber ich kann mich auch nicht ändern – oder das, was ich getan habe. Es ist nun mal passiert.«

»Ich hab nie von dir verlangt, dass du dich änderst.«

»Weil du mich nicht richtig kennst. Deswegen sage ich mir auch die ganze Zeit, dass ich gehen sollte, bevor du mich kennst.«

»Also habe ich doch recht«, entgegne ich. »Du willst mich dazu bringen, dich zu hassen. Du brauchst einen Grund, um einen Rückzieher zu machen …«

»Ich will doch gar keinen Rückzieher machen«, sagt er, und sein Griff um mein Haar verstärkt sich. »Und das hier ist nicht nur Sex.« Wieder verschließt er meine Lippen mit seinen und leckt mit der Zunge durch meinen Mund, als wollte er mich verschlingen, mich ganz und gar in sich aufnehmen. »Wonach fühlt sich das jetzt an?«

»Nach Wut.«

»Ich bin auch wütend«, bestätigt er. »Das leugne ich gar nicht.«

»Wieso bist du wütend?«

»Weil du mich eines Tages hassen wirst und ich nichts dagegen machen kann. Weil ich mit dir zusammen sein will, Carrie. Was ist mit dir?«

»Ich will das auch«, flüstere ich. Mehr sage ich nicht. Ich kann es nicht. Er küsst mich bereits wieder, als wollte er nachprüfen, ob meine Behauptung, dass ich mit ihm zusammen sein will, wirklich stimmt; als wollte er das auf meiner Zunge und auf seinen Lippen schmecken. Dann dreht er mich um und drängt mich gegen die Holzumrandung, während er die Hand über meine Hüfte gleiten lässt und meine Pobacke umschließt.

»Du bist nie ganz mit mir zusammen«, sagt er. »Du hältst dich immer zurück, und das reicht mir nicht mehr. Selbst wenn das mit uns irgendwann vorbei ist, gehörst du so lange mir, bis es so weit ist. Jetzt, in diesem Moment, gehörst du mir.«

Ich wehre mich nicht gegen diesen Besitzanspruch. Ich freue mich sogar darüber, obwohl ich es nie für möglich gehalten hätte, dass ich mich je über solche Worte freuen könnte. Er presst die Lippen auf meine, und sein Kuss ist fordernd, besitzergreifend, doch gleichzeitig spüre ich Bedauern darüber, dass er unser Ende für unvermeidlich hält – dieses Ende, das ich nicht will. Ich will diesen Teil seiner Gefühle wegdrängen, und ich weiß nicht, ob ich je in meinem Leben so erregt war.

»Dieses Mal wird schnell und heftig, Kleines«, sagt Reid mir direkt ins Ohr, während er mit der Hand meine Brust durch die Seidenbluse hindurch streichelt. »Ich will jetzt in dir sein.«

»Ja«, wispere ich, und in der nächsten Sekunde hat er mich schon umgedreht, sodass ich mich mit den Händen am Geländer abfangen muss. Er zieht bereits den Reißverschluss meines Rocks nach unten und schiebt den Stoff über meine Hüften, zusammen mit meinem Slip, den er diesmal nicht zerreißt. Mir ist es egal, dass ich draußen bin, am Ufer des Meeres, von der Taille an nackt, bis auf meine halterlosen Strümpfe. Alles, was ich will, ist Reid, und als er die Arme um meine Taille schlingt und mich hochhebt, um meine Sachen mit dem Fuß zur Seite zu treten, drehe ich mich wie selbstverständlich in seinen Armen und kann es kaum abwarten, ihn zu spüren; seinen Mund auf meinem zu fühlen. Ich lechze nach mehr, viel mehr, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob es je reichen wird.

Wenn ich mit diesem Mann zusammen bin, kann ich nie genug bekommen, und gleichzeitig habe ich Angst vor dem Tag, an dem es mir vielleicht zu viel ist. Diese Gefühle treiben mich dazu, ihm das Hemd aus der Hose zu zerren – ein Versuch, alles außer dem Hier und Jetzt beiseite zu drängen.