Kapitel Fünfundvierzig

Reid

Carrie steht neben mir am zweiten Waschbecken, und ich fahre mir gerade ein letztes Mal mit dem Rasierer übers Gesicht, als unsere Blicke sich im Spiegel treffen. Ein schüchternes Lächeln erhellt ihre Gesichtszüge, obwohl sie normalerweise alles andere als schüchtern ist, doch es sind genau diese Widersprüchlichkeiten, diese kleinen Dinge, die sie ausmachen und die mich zu ihr hinziehen. Sie wendet den Blick ab und fährt sich mit den Fingern durch das nasse Haar. So langsam glaube ich, Besessenheit ist nicht die richtige Bezeichnung für das, was ich für diese Frau empfinde. Es ist mehr – viel mehr.

Während Carrie den Föhn anstellt, wische ich mir das Gesicht trocken – in der Vergangenheit hätte ich mir diese Form von Intimität mit einer Frau gar nicht vorstellen können, doch mit Carrie teile ich diesen Moment, ohne auch nur einen Hauch zu zögern. Ich will nicht eine Sekunde ohne sie verbringen. Sie verändert mich, und es macht mir nicht mal etwas aus. Ich habe aufgehört, mich zu fragen, warum mit Carrie alles so anders ist. Ich werde mich auch nicht mehr fragen, wie das passieren konnte. Es ist einfach so. Sie ist in mein Leben geplatzt, und ich versuche nicht mehr, sie vor mir zu beschützen. Dafür ist es zu spät. Niemand kann sie mehr vor mir retten. Das werde ich auch nicht zulassen.

Ich gehe zu ihr, um sie zu küssen, obwohl mir der Föhn dabei laut ins Ohr bläst, und anschließend streiche ich mit dem Daumen über ihre kussfeuchte Lippe, ohne ein Wort zu sagen. Es gefällt mir, dass ich bei Carrie nicht reden muss. Sie ist nicht auf das falsche Gefühl von Sicherheit angewiesen, das Worte einem geben können. Deshalb zwingt sie mich auch nicht dazu, ihr Dinge zu sagen, zu denen ich mich noch nicht bereit fühle. Wenn überhaupt, dann zwingt sie mich höchstens dazu, ein besserer Mensch zu sein, und genau das bin ich: In Gegenwart dieser Frau bin ich ein besserer Mensch. Das weiß ich, und ich denke, sie weiß das auch. Das Problem ist nur, dass sie nicht weiß, was für ein Mensch ich ohne sie bin. Doch eines Tages wird sie es erfahren, wenn sie die Wahrheit über die Vereinbarung mit ihrem Vater herausfindet.

Diese Gewissheit fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube, und so lasse ich sie allein und gehe ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. Ich entscheide mich für meine graue Diesel-Jeans mit passendem T-Shirt und halbhohen Schuhen, während ich versuche, nicht an die Vereinbarung zu denken. Ich hasse es, dass ich rechtlich zum Schweigen verpflichtet bin, aber wenn ich es trotzdem erzählen würde, würde sie sofort zu ihrem Vater rennen, und der würde sich meine Familie vornehmen. Ich an ihrer Stelle würde meinen Vater auf jeden Fall zur Rede stellen, wenn es um eine so persönliche Sache geht. In diesem Moment höre ich, wie der Föhn verstummt, und als ich zurück zur Badezimmertür gehe und Carrie in ihrem Morgenmantel dasteht – so wunderschön und so sie selbst -‍, verspüre ich einen heftigen Schmerz in der Bauchgegend, und das nur aus einem einzigen Grund: Ich will sie, aber ich werde sie verlieren und kann nichts dagegen tun.

»Hey, Kleines«, sage ich, als sie mich mit ihren perfekten smaragdgrünen Augen ansieht. »Ich rufe mal Royce an, um zu hören, ob es was Neues wegen Elijah gibt, und dabei schaue ich mir mal an, wie es hier so bei Tageslicht aussieht.«

»Okay«, entgegnet sie sanft, »ich bin auch bald fertig.«

In wenigen Schritten bin ich bei ihr und nehme sie in die Arme, sodass sich ihre weichen Kurven an alle möglichen Stellen meines Körpers schmiegen.

»Gut«, kommentiere ich und streichle ihre Wange. »Ich will, dass du an meiner Seite bist, Carrie, das weißt du, oder?«

»So langsam komme ich dahinter, ja.«

»Sag das, was ich hören will.«

»Ich will auch an deiner Seite sein, Reid, aber bitte sorg dafür, dass ich dich nicht hasse. Bitte. Hör auf, Hassgefühle in mir wecken zu wollen. Das löst etwas in mir aus, das ich nicht fühlen will, und ich will auch nicht, dass sich diese Gefühle irgendwann tatsächlich in Hass verwandeln.«

Am liebsten würde ich sie fragen, welche Gefühle ich in ihr auslöse, aber dann müsste ich ihr umgekehrt sagen, was ich für sie empfinde, und dazu bin ich noch nicht bereit. Sie auch nicht, denke ich. Plötzlich überkommt mich ein unbändiger Drang, ihr endlich reinen Wein einzuschenken.

»Beeil dich«, treibe ich sie an, bevor ich sie mit Nachdruck auf den Mund küsse und mich zum Gehen wende, während sich in meinem Kopf ein Plan formt, ihr heute Abend alles zu erzählen, was mir juristisch möglich ist. Aus irgendeinem Grund hat sie keine Ahnung, dass unsere Väter verfeindet sind. Sie verdient es, darüber Bescheid zu wissen, aber ich weiß, dass sie dann denken wird, ich hätte mir ihre Firma aus alter Feindschaft unter den Nagel gerissen, was einfach nicht stimmt. Ich kann nur hoffen, dass sie das erkennt, sobald sie Cat und Gabe kennengelernt hat. Auf jeden Fall werde ich nicht zulassen, dass mein Vater – oder irgendjemand sonst – ihr oder ihrer Firma schadet.

Dieses Thema bringt meine Gedanken zurück zu Elijah, und so steige ich die Treppe hinunter, hole mein Handy aus der Hosentasche und rufe Royce an, der gleich beim ersten Klingeln drangeht.

»Was hast du für mich?«, frage ich, während ich den Wohnbereich durchquere und auf die Veranda hinaustrete.

»Falls du das auf Elijah beziehst, da sind wir noch dran, aber er hat zumindest schon mal ein paar Konten im Ausland, die nicht ganz koscher zu sein scheinen. Mehr kriegst du demnächst, aber damit kannst du ihn sicher in Schach halten.«

»Super«, sage ich und lehne mich gegen die Brüstung. »Genau das, was ich brauche. Besorg mir so schnell wie möglich Beweise.«

»Bin dabei«, bestätigt er. »Aber eins noch, bevor wir auflegen: Ich versuche schon die ganze Zeit, mit dir über etwas zu reden. Carrie will, dass ich Nachforschungen über ihren Vater anstelle, und mittlerweile hätte ich mich längst wieder bei ihr melden müssen. Ich hab ihr gesagt, dass ich ihr helfe, aber erst mit dir sprechen muss, damit es keine Loyalitätskonflikte gibt.«

Ich denke einen Moment darüber nach und komme dann zu dem Schluss, dass Royce meine einzige Möglichkeit ist, Carrie mit den Informationen zu versorgen, die ich ihr nicht geben darf. Gleichzeitig festigt sich mein Entschluss, ihr heute Abend alles zu sagen, was ich kann.

»Ich würde ja vorschlagen, dass du mir die Rechnung schickst, aber aus rechtlichen Gründen dürfen einige der Infos, die du für sie herausfindest, nicht mit mir in Verbindung gebracht werden.«

»Du willst aber, dass sie Bescheid weiß«, mutmaßt er.

»Definitiv, aber ich darf ihr nichts sagen.«

»Aus rechtlichen Gründen«, meint er.

»Richtig.«

»Ich bin ziemlich gut darin, Dinge auszugraben, die sonst keiner findet.«

»Sie sind aber ziemlich tief vergraben«, entgegne ich. »Also, viel Glück dabei.«

Er lacht. »Ich sage einfach meinem Hackerbruder Blake, wie wenig Vertrauen du in seine Fähigkeiten hast, dann kriegt er die Wahrheit schon raus.«

»Aber warne mich vor, Kumpel. Das werde ich brauchen. Sie wird nämlich glauben, ich hätte sie verarscht.«

Einige Sekunden lang dringt Stille aus der Leitung. »Das ist echt scheiße, aber ich hab verstanden.«

Wir beenden die Verbindung, und direkt im Anschluss verkündet ein Summen den Eingang einer Textnachricht von Gabe: »Beweg deinen verdammten Arsch hoch und komm auf die Party.«

»Reid.«

Der Klang von Carries Stimme ist eine willkommene Ablenkung von meinem bescheuerten Bruder, und so stecke ich das Handy zurück in die Hosentasche, ohne ihm zu antworten. Als ich mich umdrehe, entdecke ich Carrie im Türrahmen, und in ihrer engen schwarzen Jeans und dem smaragdgrünen T-Shirt mit V-Ausschnitt sieht sie zum Anbeißen aus. Dieser Anblick törnt mich sofort an und macht mich hart, aber mittlerweile verwundert mich das nicht mehr. Bei Carrie bin ich einfach dauererregt und –hart.

»Wie gerne isst du Makkaroni mit Käse?«, frage ich.

»Das ist mein Lieblingsessen, das hab ich dir doch gesagt. Wieso?«

Ich gehe zu ihr hinüber und bleibe vor ihr stehen, berühre sie jedoch nicht. Noch nicht. »Dann hättest du nicht diese Jeans anziehen sollen, die muss ich dir nämlich direkt wieder ausziehen.« Ich packe sie bei den Hüften und presse sie an meine Lenden, sodass mein dicker, harter Schwanz sich gegen ihren Bauch drängt.

»O nein«, sagt sie und hält meine Hände fest. »Du hast mir Makkaroni mit Käse versprochen. Und dieses Versprechen solltest du besser halten.«

»Wir können uns beeilen und trotzdem noch essen gehen.«

»Ich bin am Verhungern, Reid. Ich werde einfach nur daliegen und dir die ganze Arbeit überlassen.«

Vielsagend hebe ich eine Augenbraue. »Und das ist weshalb ein Problem?«

»Weil ich wie gesagt am Verhungern bin.«

»Okay. Dann musst du dringend was essen. Alles klar. Wenn wir vor fünf wieder hier sind, haben wir noch Zeit zu vögeln, bevor wir zum Hubschrauber müssen.«

Carrie lacht. »Du bist total verrückt.«

Ich senke die Stimme, und als ich wieder spreche, klinge ich ganz rau. »Total verrückt nach dir, Kleines.«

»Ach, Reid«, flüstert sie sanft. Dann breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Aber nur, weil ich die Einzige bin, die keine Angst vor dir hat.«

»Vielleicht solltest du die lieber haben«, entgegne ich grimmig, und es gefällt mir gar nicht, was ich sage.

Carrie versetzt mir einen leichten Schlag gegen die Brust. »Hör mit deinen Abschreckungsversuchen auf, Reid. Ich kannte deinen Ruf schon, als ich dich an die Couch gekettet habe. Damals hatte ich keine Angst vor dir, und die werde ich jetzt ganz sicher nicht haben.«

»Du kennst meine Familie noch nicht«, witzle ich, doch damit meine ich nicht Gabe oder Cat, sondern meinen Vater. Ich denke darüber nach, dass Carrie gerade laut ausgesprochen hat, was mir eben noch durch den Kopf gegangen ist. Sie kannte meinen Ruf. Aber sie wusste nicht, wie ich tatsächlich war, bevor sie mir begegnet ist. Und sie hatte definitiv keine Ahnung, dass mein Vater ihren Vater genauso abgrundtief hasst wie der ihn. Und dieser Hass ist so stark und mit einem so gewaltigen Rachedurst gepaart, dass er uns eines Tages zusammen mit den beiden in den Abgrund reißen wird.