Kapitel Achtundvierzig

Reid

Während des kurzen Fluges ist es ziemlich laut, sodass ich die Gelegenheit habe nachzudenken, obwohl ich viel lieber Carries Gedanken kennen würde. Ich grüble über unsere Familien, meine und ihre, die uns über mehr Wege zusammengebracht haben, als Carrie ahnt, und ich hoffe inständig, dass ich recht habe und auf die Unterstützung meiner Geschwister zählen kann, wenn mein Vater versuchen sollte, uns auseinanderzubringen.

Cat und Carrie sind sich wirklich in vielerlei Hinsicht ähnlich, vor allem darin, wie wenig sie beide mit ihren Vätern gemeinsam haben. Carrie muss wissen, dass mein Vater zwar der Patriarch des Maxwell-Clans sein mag, aber Cat das Herz der Familie bildet und diejenige ist, die für Veränderungen sorgt. Ironischerweise – und sehr zu meinem Missfallen – würde Cat umgekehrt sagen, dass ich unserem Vater am ähnlichsten bin; eine Tatsache, die meiner Strategie für den heutigen Abend gefährlich werden könnte.

Als wir landen, helfe ich Carrie aus dem Helikopter, indem ich sie aus der Kabine hebe und sie behutsam auf dem Asphalt absetze, doch ich lasse sie nicht los. Ich will sie einfach nicht loslassen. Der Wind weht ihr das lange braune Haar ins Gesicht, und ich streiche es ihr mit einer Zärtlichkeit aus der Stirn, die ich bei mir gar nicht für möglich gehalten hätte. Aber genau wie Cat – nur auf andere Weise – verändert auch Carrie mich; ich bin mir nur nicht sicher, ob das so gut für sie ist. Meine Vergangenheit lässt sich nicht auslöschen. Was ich damals gelernt habe, habe ich nun einmal gelernt. Trotzdem kann ich mich nicht von Carrie trennen, und das bedeutet, ich muss sie beschützen. Ich werde sie beschützen.

»Rede mit mir«, sagt Carrie und berührt meine Wange mit den Fingerspitzen. »Was geht dir gerade durch den Kopf?«

»Dass du besser abhauen solltest und ich dich gleichzeitig, falls du es versuchen solltest, davon abhalten würde.«

Ausgerechnet in diesem Moment kommt ein Mitarbeiter des Flughafens zu uns. »Sir, Sie müssten noch einige Formulare ausfüllen. Bitte kommen Sie mit rein.«

Ich gebe Carrie einen Kuss und verschränke unsere Hände. »Wir reden später«, verspreche ich ihr, und der Moment, wenn ich endlich reinen Tisch mit ihr machen werde – zumindest, so gut es geht -‍, erfüllt mich gleichzeitig mit Vorfreude und Grauen.

Bei unserer Ankunft im Terminal lasse ich Carrie los, um die notwendigen Papiere zu unterschreiben, und gerade als ich wieder nach ihrer Hand greifen will, kommt sie mir zuvor. In dieser Geste liegt so viel Intimität, so ein starker Ausdruck innerer Geborgenheit, dass mich ein ungewohntes, aber nicht unwillkommenes Gefühl durchströmt. Ich will, dass sie sich bei mir geborgen fühlt. Ich will, dass sie das mit uns genauso will wie ich.

»Ist alles okay?«, fragt sie mich, und die Sorge in ihren Augen zeigt mir, dass sie nicht über die Papiere oder den Angestellten spricht.

»Alles bestens«, entgegne ich, »da du heute Abend bei mir im Bett liegen wirst.« Ich drücke ihr einen Kuss auf den Handrücken und will weitergehen, doch sie zieht an meinem Arm und schneidet mir den Weg ab.

»Gibt es irgendwas, das ich wissen sollte?«

»Alles ist bestens«, wiederhole ich, um eine direkte Antwort oder Lüge zu vermeiden. Dann lege ich den Arm um Carries Schultern und führe sie weiter in Richtung Ausgang. Es ist wirklich alles bestens, und solange sie den Krieg, der zwischen unseren Vätern entbrannt ist, nicht zu einem Krieg zwischen uns macht, bleibt das auch so. Ich spüre, dass sie gerne weiterbohren würde, aber mittlerweile kennt sie mich gut genug, um zu wissen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, um mich zu drängen. Noch nie habe ich eine Frau so nah an mich herangelassen, dass sie mich so gut versteht. Aber andererseits weiß sie auch noch nicht alles über mich. Sie weiß nicht, wie leicht es passieren könnte, dass sie mich tatsächlich hasst, und ich will auch gar nicht, dass sie das weiß.

Genau aus diesem Grund ziehe ich sie fest an mich, als wir im Wagen sitzen, den ich bestellt habe – die Hand auf ihr Knie gelegt, die Beine eng aneinandergepresst -‍, und ich habe vor, sie den ganzen Abend nicht mehr loszulassen. Während das Auto sich in Bewegung setzt, fallen Carrie und ich in behagliches Schweigen, jeder tief in seine Gedanken versunken; ihre drehen sich vermutlich um die Frage, was mit mir los ist, während ich darüber nachdenke, was sie weiß, wissen muss und nicht wissen darf, zumindest nicht, wenn sie es durch mich erfährt.

Wir sind schon fast bei meiner Schwester angekommen, als ein Magenknurren die Stille durchdringt.

»Aus irgendeinem Grund habe ich es heute Mittag nicht geschafft, mein Essen aufzuessen.« Sie lacht, ein leises, sexy und gleichzeitig irgendwie süßes Lachen, das mich aus meinen düsteren Gedanken reißt und in die Gegenwart zurückholt; zu ihr. »Ich bin am Verhungern«, verkündet sie. »Falls du das noch nicht gemerkt haben solltest.«

»Das ist mir durchaus aufgefallen«, entgegne ich und muss ebenfalls lachen, erstaunt, wie leicht sie mich dazu bringt. »Auf der Party gibt es was zu essen, aber wir können auch was zu mir bestellen, wo ich jetzt viel lieber mit dir wäre.« Ich drücke ihr Knie, und genau in diesem Moment hält der Fahrer an unserem Ziel. »Aber das muss anscheinend warten. Wir sind da.« Ich klopfe gegen den Fahrersitz. »Ich schicke Ihnen eine Nachricht, bevor wir runterkommen.«

»Ja, Sir«, erwidert der Fahrer, und ich öffne meine Tür, steige aus und helfe Carrie aus dem Wagen.

»Ich war schon mal hier. In der Bar«, erzählt sie, während sie das Gebäude betrachtet. »Die ist total angesagt unter Juristen. Kein Wunder, dass deine Schwester und ihr Mann hier wohnen. Die True-Crime-Autorin und der Anwalt.«

Ich halte ihr die Eingangstür auf. »Das liegt an Reese. Er hat zuerst hier gewohnt.«

»Dann ist Cat also bei ihm eingezogen?«, erkundigt sie sich, als wir die Lobby durchqueren.

Ihre Frage gibt mir die Gelegenheit, ihr zu zeigen, wie groß die Kluft zwischen meinem Vater und dem Rest der Familie ist, und ich erzähle ihr etwas, das ich sonst niemandem erzählen würde.

»Als Cat Reese kennengelernt hat, hat sie in dem Apartment gewohnt, das ihr unsere Mutter vermacht hat. Mittlerweile ist Reese′ Mutter dort eingezogen. Vor ein paar Jahren.«

Carrie wirft mir einen Seitenblick zu. »Und wie geht es dir damit?«

Wir kommen bei den Fahrstühlen an, und ich drücke auf die Ruftaste. »In ihrem Brief hat meine Mutter geschrieben, dass sie sich immer dorthin geflüchtet hat, um von meinem Vater wegzukommen«, sage ich. »Und ich will ganz sicher keine Wohnung haben, in der sie so gelitten hat. Was Reese′ Mutter angeht: Ich bin froh, dass Cat da raus ist und einen Mann hat, der ganz anders ist als mein Vater.«

»Ich liebe es, wenn sie über seine Verhandlungen schreibt. Gerade zum Beispiel: Ich hab ihre letzte Kolumne über seinen Mordfall gelesen. Ich schätze, ich bin da – genau wie alle anderen – etwas sensationslüstern.« Sie begegnet meinem Blick. »Liest du ihre Kolumne auch?«, fragt sie dann.

»Ja, aber wenn du ihr das erzählst, wird sie dir wahrscheinlich nicht glauben.«

Die Fahrstuhltüren gleiten zur Seite, und wir treten in die Kabine. Als ich den Knopf für unser Stockwerk drücke und die Türen sich wieder schließen, stellt Carrie sich vor mich und legt mir die Hand auf die Brust.

»Ich weiß zwar nicht, was zwischen dir und Cat vorgefallen ist, aber falls das der Grund ist, weshalb du gerade so nervös bist, kann ich das gut verstehen. Wenn ich mit meinem Bruder zu einer Party gehen müsste, wäre ich auch so angespannt.«

»Dann weißt du ja, wie es Cat geht. Dein Bruder und ich haben nämlich eines gemeinsam: Ich hab mich auch arschig gegenüber meiner Schwester verhalten.«

»Wieso?«

»Weil ich das damals für richtig gehalten habe.«

Verwirrt runzelt sie die Stirn. »Das verstehe ich nicht.«

Ich beiße die Zähne zusammen. »Diesen Teil meines Charakters musst du nicht verstehen. Du sollst ihn auch nie kennenlernen, weil ich nämlich nicht will, dass du mich hasst, falls du dich erinnerst.«

»Irgendwie scheinst du zu denken, ich würde dich durch die rosarote Brille betrachten. Ich weiß durchaus, wie hart du sein kannst. Aber ich weiß auch, dass du nicht nur hart bist.«

Sie hat recht. Ich bin nicht nur hart, aber das macht es trotzdem nicht besser oder richtig. Unvermittelt drehe ich sie in Richtung Tür um, ziehe sie an mich und bringe die Lippen dicht an ihr Ohr.

»Und du scheinst zu denken, ich hätte eine Frau wie dich verdient«, raune ich. »Das habe ich ganz sicher nicht, aber das ist auch egal. Ich lasse dich nämlich nicht mehr gehen. Weil ich ein Arschloch bin. Ein Arschloch, das dich mit Handschellen ans Bett ketten und dich das ganze Wochenende nicht losmachen wird, wenn du mit zu mir kommst.«

»Über die Handschellen müssen wir noch verhandeln«, sagt sie, während der Fahrstuhl anhält und die Türen sich öffnen.

»Ich verhandle mit meiner Zunge.«

»Ja, indem du sie zum Reden benutzt«, kontert sie sofort und versucht, sich von mir loszureißen und den Lift zu verlassen.

Doch ich halte sie fest, führe sie allerdings aus der Kabine hinaus und ziehe sie an mich, während ich mit ihr durch den langen Korridor gehe.

»Willst du gar nicht wissen, was ich statt der Handschellen will?«, fragt sie.

»Erst wenn du nackt bist und ich die Handschellen in der Hand habe.«

»Mit diesen Verhandlungsmethoden könnte ich mich durchaus anfreunden, sofern du dabei ebenfalls nackt bist.«

Und damit bohrt sie das Messer zielsicher in die Wunde. Genau das muss ich tun, wenn ich diese Frau halten will: mich komplett nackt ausziehen. Erst gestern Nacht hat sie mir gesagt, dass sie keine Geheimnisse und Lügen will, doch das Problem ist, dass es immer ein Geheimnis zwischen uns geben wird.

Wenn ich das nicht löse, wird es uns zerstören. Aber solange ich noch die Kontrolle habe, wird die Bombe nicht platzen. Das lasse ich nicht zu.