Reid
Wir bleiben vor Cats und Reese′ Wohnungstür stehen, und direkt, nachdem ich geklingelt habe, sagt Carrie: »Sie wird dir glauben, wenn du es ihr sagst.«
Ich weiß sofort, wovon sie spricht: davon, dass ich Cats Kolumne lese. Sie will mir zu verstehen geben, dass ich meiner Schwester gegenüber meinen Schutzpanzer ablegen soll, so wie ich es bei ihr getan habe. Sie drängt mich dazu, all die Gründe zu vergessen, warum ich bisher allein gelebt und alle Menschen – einschließlich Cat – auf Abstand gehalten habe.
»Das mit uns ist kompliziert, Carrie. Verdammt kompliziert.«
»Und etwas ein Leben lang zu bereuen ist noch viel schlimmer.«
Damit spielt sie auf meine Mutter an, darauf, dass ich nicht erkannt habe, wie schlecht es ihr in der Ehe mit meinem Vater ging, was ich bis heute bereue. Ich dagegen muss bei ihrem Kommentar an uns denken und die Dinge, die ich jetzt schon bedaure. In diesem Moment wird die Wohnungstür aufgerissen und Carrie wirbelt herum. Gabe steht vor uns, in einer schwarzen Jeans, die er – zu meinem Ärger – mit einem ebenfalls schwarzen T-Shirt kombiniert hat, auf dem Maxwell, Maxwell und Maxwell steht – ein Logo, das einem geradezu ins Gesicht schreit, welche Verbindung zwischen uns und unserem Vater besteht.
Ich ziehe Carrie noch enger an mich, halte mich an ihr fest und schiebe mein Bedauern beiseite. Als Gabe mich ansieht, kneift er die Augen zusammen, trotzdem kann ich darin Verständnis erkennen, auch wenn seine Begrüßung nicht gerade darauf schließen lässt.
»Nicht zu fassen«, sagt er, »du bist tatsächlich gekommen.« Sein Blick gleitet zu Carrie hinüber. »Und Sie auch.« Er zwinkert ihr zu, ganz der Aufreißer, als der er sich gerne darstellt – seine Art, jeden auf Distanz zu halten. In Wirklichkeit ist er genauso ein Einzelgänger wie ich, und niemand kennt seine wahre Persönlichkeit – noch eine Parallele zwischen uns, zumindest, bis ich Carrie begegnet bin.
Gabe tritt jetzt zur Seite und winkt uns hinein. »Hereinspaziert. Zur Party geht’s hier lang.«
Ich lege Carrie die Hand in den Rücken und schiebe sie vorwärts, während ich gegen den Drang ankämpfe, direkt wieder zu gehen, indem ich mir in Erinnerung rufe, warum wir hier sind: damit Carrie meine Familie kennenlernt – vor allem Cat – und sieht, dass wir anders sind als unser Vater. Die Tatsache, dass Cat mich hasst, hilft mir zwar nicht gerade, aber irgendwie wird es schon funktionieren.
Als wir in einen Flur einbiegen, dringt uns Stimmengewirr entgegen, das noch lauter wird, je weiter wir ins Innere der Wohnung vordringen. Kurz bevor wir den Bogengang erreichen, der in den Wohnbereich führt, lehne ich mich zu Carrie vor und flüstere ihr ins Ohr: »Essen, trinken, Nachtisch, mein Bett.«
Sie schenkt mir ihr wunderschönes Lächeln, und eine Sekunde später betreten wir einen Raum mit einer riesigen Fensterfront und hohen Decken, in dem sich gut zwanzig Leute aufhalten, während sich auf der Terrasse noch weitere Gäste befinden. Gabe widmet seine Aufmerksamkeit sofort irgendeiner Blondine, während ich den Blick über die Leute schweifen lasse und einige bekannte Gesichter entdecke, aber nicht Cat und Reese.
»Lass uns mal meine Schwester suchen«, sage ich zu Carrie, nehme ihre Hand und führe sie in den Raum hinein, wo wir direkt auf Lauren treffen, die Frau von Royce und eine von Cats besten Freundinnen.
»Reid«, begrüßt sie mich und kann ihre Überraschung nicht verbergen. »Du hier?«
»Ja, tatsächlich«, entgegne ich. »Und das hier ist Carrie.« Ich stelle die beiden Frauen einander vor und hoffe, später noch mit Royce sprechen zu können, doch da habe ich kein Glück.
»Royce hat momentan alle Hände voll zu tun«, informiert mich Lauren. »Ich bezweifle, dass er es noch schafft herzukommen.« Sie wirft mir einen leicht scheuen Blick zu. »Cat wird sich freuen, dass du da bist. Sie ist gerade mit Reese in die Küche gegangen, direkt da hinten, falls du sie suchst. Die beiden haben dich sicher nicht gesehen.«
»Dann gehen wir mal dahin«, sage ich, nicke Lauren kurz zu und führe Carrie in die angegebene Richtung.
Als wir die Küche betreten, treffen wir tatsächlich auf meine Schwester, die neben Reese hinter der Kücheninsel steht, wunderschön wie immer, während sie den Schokoladenkuchen vor sich auf der Granitfläche betrachtet.
»Ich würde sagen, wir schneiden ihn jetzt schon an«, überlegt sie. »Willst du keinen Kuchen?«
»Ich will lieber dich«, entgegnet Reese im selben Moment, als er aufblickt und uns entdeckt. Sofort räuspert er sich, um Cat auf uns aufmerksam zu machen. »Reid«, grüßt er.
»Reid?«, fragt Cat erstaunt und blinzelt, als könnte sie nicht glauben, dass ich wirklich vor ihr stehe.
Erneut schiebe ich Carrie vorwärts, die Hand in ihren Rücken gelegt, während wir auf die Kücheninsel zugehen. Als wir davor anhalten, stehe ich Cat gegenüber und Carrie Reese, dessen Blick ich jetzt erwidere.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
»Danke«, sagt er. »Freut mich, dass du da bist und auch noch ein Date mitgebracht hast.«
»Das ist …«, setze ich an, doch Cat unterbricht mich.
»Carrie West«, fügt sie ein.
»Ich hab den beiden schon von Carrie erzählt«, verkündet Gabe, der gerade in die Küche kommt und direkt den Kühlschrank ansteuert.
»Ich bin ein Riesenfan von Ihnen, Cat«, sagt Carrie. »Und von Reese auch. Ich habe Ihren Fall in Cats Kolumne verfolgt. Die heutige habe ich allerdings verpasst.«
Cat und Reese sehen sich an und fangen an zu lachen. »Heute war sie ziemlich … heftig. Ich mag den Bezirksstaatsanwalt genauso wenig wie Reid.«
»Was ist mit dem Bezirksstaatsanwalt?«
Cole betritt den Raum und stellt sich zu uns an die Kücheninsel. »Er ist ein Wichser«, antworte ich, bevor ich kurz Carrie vorstelle. »Cole, das ist Carrie West. Carrie, das ist Cole Brooks, Reese′ Partner in der Kanzlei. Lori, seine Frau, arbeitet auch dort. Cole war derjenige, der …«
»… den Bezirksstaatsanwalt verklagt hat und dann auf die Entschädigungszahlung verzichtet hat. Herzlichen Glückwunsch dazu.«
»Danke«, sage ich. »Am Montag gibt es eine Pressekonferenz.«
»Und ich kann es kaum abwarten, darüber zu schreiben«, sagt Cat, als die hübsche brünette Lori zu uns stößt.
»Reid«, begrüßt sie mich, während sie neben Cole tritt. »Danke, dass du den Bezirksstaatsanwalt in den Arsch getreten hast.«
Von da an entspinnt sich eine angeregte Unterhaltung, und während Cat und Carrie auf der anderen Seite der Kücheninsel ins Gespräch vertieft sind, spreche ich mit Reese, Cole und Lori über die Pressekonferenz. Irgendwann im Laufe des Abends hole ich mir einen Whiskey Sour von der Bar, und Carrie steht mit einem Glas Champagner in der Hand da, während wir uns beide einen der Tacos gönnen, die einer der Kellner auf einem Tablett herumreicht. Und obwohl wir uns auf gegenüberliegenden Seiten des Raumes mit anderen Gästen unterhalten, werfen wir uns dauernd Blicke zu. Noch nie zuvor war mir die Aufmerksamkeit einer Frau so wichtig wie an diesem Abend die von Carrie.
»Was ist denn jetzt mit dem Kuchen?«, fragt Cat irgendwann. »Den müssen wir endlich anschneiden.«
Schließlich wird Cole beauftragt, das Schmuckstück in den Wohnraum zu tragen und dort auf einem Extratisch abzustellen, um den sich alle Gäste versammeln.
»Du musst dir was wünschen!«, ruft die Menge Reese zu.
»Ich wünsche mir, dass Cat mir endlich die Geburtstagsüberraschung gibt, mit der sie mich seit Wochen quält«, sagt er.
»Nach der Party«, verkündet Cat und hakt sich bei ihm unter. »Wenn wir allein sind.«
»Alle raus!«, ruft Reese. »Die Party ist vorbei. Nein, nein, das war nur Spaß. Zum Teil. Leute, esst Kuchen. Ich will mein Überraschungsgeschenk sofort haben. Lauren!« Er packt sich Royce′ Frau, die neben ihm steht, und schiebt sie vor den Kuchen. »Versorg die Leute mit Kuchen.« Dann hebt er meine Schwester in seine Arme und verlässt mit ihr den Raum.
Ich höre Carrie lachen.
»Die scheinen aber sehr verliebt zu sein.«
Unsere Blicke treffen sich, wie so oft an diesem Abend, doch noch nie lag so viel Intensität darin wie in diesem Moment; eine Verbundenheit, die uns wie magisch zueinander hinzieht.
Liebe.
Heirat.
Die beiden Worte hängen zwischen uns in der Luft, ebenfalls eine neue Erfahrung für mich. Und in diesem Augenblick wird mir bewusst, dass ich mich – wenn ich dem nicht sofort etwas entgegensetze – rettungslos in Carrie verlieben werde. Und obwohl ich all die Gründe kenne, warum das falsch wäre und nicht gut gehen kann, will ich trotzdem nichts dagegen tun.
Ich ziehe sie an mich. »Carrie …«
»Kuchen?«
Überrascht blicken wir auf. Vor uns steht ein Kellner und streckt uns zwei Teller entgegen. Bedauernd streiche ich Carrie das Haar hinters Ohr.
»Nachher«, sage ich zu ihr.
»Nachher«, flüstert sie.
Wir nehmen dem Kellner die Teller ab und machen uns beide schamlos über den Kuchen her.
»Cat ist toll«, sagt Carrie zwischen zwei Bissen. »Lori auch, aber Cat und ich … wir sind total auf einer Wellenlänge.«
Ich hebe die Hand, um ihr die Schokolade von den Lippen zu wischen, und lecke mir anschließend die Finger ab, auf die gleiche Weise, wie ich Carrie heute Nacht lecken werde. Offensichtlich versteht sie meine Gedanken. Ihre Wangen verfärben sich rot, und wieder überkommt sie diese Scheu, die in krassem Gegensatz zu ihrer sonst so vorpreschenden Art steht. Sofort bin ich hart und möchte am liebsten direkt mit ihr verschwinden, doch in diesem Moment kommen Cat und Reese wieder, und Gabe gesellt sich zu uns.
»Was denkst du?«, fragt er. »Ist die Überraschung das, was wir denken?«
Reese hat sich mittlerweile hinter Cat gestellt und den Arm um ihre Taille gelegt, die Hand auf ihrem Bauch.
»Guck dir seine Hand an«, sage ich. »Ja. Definitiv.«
»Sie ist schwanger?«, vermutet Carrie.
Gabe und ich sehen sie an. »Wie bist du darauf gekommen?«, will Gabe wissen.
»Nur so ein Bauchgefühl«, entgegnet Carrie. »Seine Hand auf ihrem Bauch und die Tatsache, dass sie vorhin ein Glas Champagner abgelehnt hat, stützen meine These.«
Genau in diesem Augenblick versucht Cat, unsere Aufmerksamkeit zu erregen, und deutet in Richtung Küche.
»Wir werden es gleich erfahren«, merke ich an.
»Soll ich hierbleiben?«, fragt Carrie und hält meinen Arm fest, während Gabe sich schon in Bewegung gesetzt hat.
Ich wende mich zu ihr um. »Wenn sie uns unter vier Augen sprechen will, wird sie uns das sagen«, erwidere ich, »aber wahrscheinlich erzählt es Cat eh lieber dir als mir.«
Beruhigend legt sie mir die Hand auf die Brust. »Sie will, dass ihr euch wieder vertragt. Egal, was da zwischen euch schiefgelaufen ist: Du musst nur den ersten Schritt machen.«
»Das ist …«
»… kompliziert, ich weiß. Komm. Hören wir uns die Neuigkeiten an.« Sie hakt sich bei mir unter, und in derselben Sekunde klingelt mein Handy. Ich hole es aus der Hosentasche und stelle mit einem Blick aufs Display fest, dass es ein Mandant ist, der gerade bis zum Hals in der Scheiße steckt.
»Geh schon mal vor«, sage ich zu Carrie. »Das ist ein Mandant, da muss ich rangehen.«
»Ist das denn wirklich so wichtig?«, fragt sie. »Hier geht es nicht um irgendeine belanglose Party. Deine Schwester wartet da drinnen auf dich, und wenn du jetzt nicht mitkommst, nimmst du ihr wahrscheinlich die ganze Freude.«
Sie hat recht. Kurzentschlossen stecke ich das Handy zurück in meine Tasche. »Du hast recht. Ich rufe ihn später zurück.«
Wärme tritt in Carries Blick, und sie stellt sich auf die Zehenspitzen, um mir einen Kuss zu geben. »Vielleicht bist du doch nicht so ein Arschloch, wie ich dachte.«
Ich ziehe sie an mich, und während sich ihre perfekten Kurven an mich schmiegen, raune ich ihr ins Ohr: »Keine romantischen Fantasien, bitte, es sei denn, du stellst dir vor, wie der Prinz dir den Arsch versohlt, während du Prinzessin spielst, vorzugsweise in einem durchsichtigen Kleid. Und mit Handschellen ans Bett gekettet.«
»Es könnte sogar sein«, sagt sie, »dass diese Fantasie heute Nacht wahr wird. Der heutige Abend hat mir gezeigt, dass ich dir vertrauen kann, Reid Maxwell.«
Genau das wollte ich mit der Party erreichen: ihr Vertrauen gewinnen. Die Handschellen sind nur das i-Tüpfelchen.
»Das sagst du doch nur, damit ich dich jetzt sofort ins Bad schleife und dich vögle.«
»Das wäre aber sehr unhöflich«, entgegnet sie und schiebt ihre vollen, einladenden Lippen auf eine so verführerische Art vor, dass ich mich mühsam zusammenreißen muss.
»Na und?«
Sie lacht. »Vielleicht nach einem weiteren Stück Kuchen.« Damit dreht sie sich um und zieht mich hinter sich her, wodurch sie mir den perfekten Blick auf ihren knackigen Hintern in der engen Jeans gewährt. Ich hoffe, sie fängt wirklich an, mir ihr Vertrauen zu schenken – die Art von Vertrauen, das auch die schlimmsten Stürme übersteht.
Sie eilt vor mir her in die Küche, wo sie sich zwischen Cat und Lori an die Kücheninsel stellt. Ich will mich gerade zu ihr gesellen, als das Unerwartete, Unfassbare passiert: Mein Vater, der nie an Familienfeiern teilnimmt, betritt den Raum, vollkommen overdressed in einem dreiteiligen Zehntausend-Dollar-Anzug.
»Was macht die denn hier?«, will er wissen, während er direkt gegenüber von Carrie auf der anderen Seite der Kücheninsel stehen bleibt und sie finster anstarrt. »Was machen Sie hier?«