Kapitel Einundfünfzig

Carrie

Mein Taxi steckt im Stau fest, und ich muss mich stark zusammennehmen, um nicht auszurasten. Reid ruft dauernd auf meinem Handy an, aber ich kann jetzt nicht mit ihm reden. Ich will auch nicht mit ihm reden. Ich will mir nicht mal seine Nachrichten anhören, weil ich sonst in Tränen ausbreche. Eigentlich bin ich kein Typ, der schnell weint, und normalerweise lasse ich mich auch nicht zum Narren halten, aber Reid schafft es offensichtlich, dass sich das ändert. Ich habe ihm vertraut. Ich habe sogar angefangen, mich richtig in ihn zu verlieben, während ich für ihn nur ein »Geschäft« war. Ich komme mir so dumm vor, und es tut weh. Gott, es tut so wahnsinnig weh. Wie konnte es nur passieren, dass ich diesem Mann schon nach so kurzer Zeit die Macht gegeben habe, mich so zu verletzen? Und sein Vater – na ja, jetzt weiß ich, woher Reid seine Arschlochmentalität hat. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.

Zum gefühlt hundertsten Mal versuche ich, meinen Vater zu erreichen, und als diesmal wieder nur die Mailbox drangeht, lege ich nicht auf.

»Ruf mich zurück. Sofort. Und hör auf, meine Anrufe zu ignorieren. Es ist wichtig. Ich muss mit dir über Reid Maxwells Vater sprechen … Und wir müssen über dich sprechen.« Ich lege auf.

In den letzten fünf Minuten hat sich das Taxi nicht einen Zentimeter von der Stelle bewegt. Um uns herum ruht der gesamte Verkehr. Ich kann nicht weiter hier herumsitzen und gegen meine Emotionen ankämpfen. Das schaffe ich einfach nicht. Ich habe mir auch überhaupt nur ein Taxi genommen, um in Ruhe telefonieren zu können, aber das tut mir nicht wirklich gut. Ich werfe einen Blick aufs Taxameter und stecke dem Fahrer einen Zehner zu, bevor ich die Tür öffne und aussteige. Sofort schlägt mir ein Mix aus Abgasen und dem typischen Innenstadtgestank entgegen, für den Manhattan bekannt ist, und greift meine Nase und Lunge an. Deswegen beeile ich mich, zur nächsten U-Bahn-Station zu kommen, während mir Maxwell Seniors Worte »Sie sind hier nicht willkommen« – und die verschiedenen Varianten, mit denen er das zum Ausdruck gebracht hat – in einer Endlosschleife durch den Kopf schallen.

Als ich endlich in der U-Bahn sitze, springen meine Gedanken zu einem Vorfall zurück, den ich schon die ganze Zeit über zu verdrängen versuche, auch wenn ich weiß, dass ich mich irgendwann damit befassen muss: der Moment, als Reid mich als »Geschäft« bezeichnet hat. Als sein Vater vor dem Fahrstuhl aufgetaucht ist, hat Reid mich gehen lassen, obwohl er ganz leicht zu mir in die Kabine hätte einsteigen können. Die Möglichkeit dazu hatte er, aber er hat sie nicht genutzt. Genauso wenig wie in der Küche, als er hätte zu mir kommen müssen und stattdessen zu seinem Vater gegangen ist.

Er hat mich nur ausgenutzt, um mit meinem Namen höhere Profite zu erzielen. Er nutzt mich immer noch aus, und ich kann nichts dagegen tun. Ich will die Firma zurück, deshalb kann ich nicht weggehen, und das weiß er.

Er hat mich einfach nur benutzt.

Als die U-Bahn ankommt und ich auf die Straße hinaustrete, suche ich zuerst die Umgebung ab, um mich zu vergewissern, dass Reid nicht irgendwo auf mich wartet. Wenn ich ihm begegne, wird er sicher versuchen, mich wieder in seinen Bann zu ziehen. Aber damit wird er kein Glück haben. Diesmal nicht. Allerdings ist er nicht hier. Zumindest entdecke ich ihn nirgendwo, und ich weiß nicht, wieso mich das enttäuscht. Ich will ihn doch gar nicht sehen. Was immer er mir zu sagen hat – das, was gerade passiert ist, kann er damit nicht ungeschehen machen. Hastig lege ich den Weg zu meinem Wohnhaus zurück und wünschte, ich hätte meine Reisetasche dabei, die ich in unserem Wagen gelassen habe. Darin sind Dinge, die ich brauche, und jetzt muss ich sie mir alle neu kaufen.

Ich betrete meine Wohnung, schließe die Tür hinter mir und lehne mich dagegen. Das ist das Einzige, was mich gerade noch aufrecht hält. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich dabei, mich richtig in einen Mann zu verlieben; in einen Mann, der mich nur benutzt hat. Ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Tränen rinnen mir über die Wangen, und ärgerlich wische ich sie weg. Er hat meine Tränen nicht verdient. Und was ist mit meinem Vater? Wieso hat er mir nichts von einem Krieg zwischen ihm und Reids Vater erzählt? Das Wort Krieg hat er nie benutzt. Nur Reid hat diese Bezeichnung verwendet, aber nach dem, was gerade vorgefallen ist, glaube ich ihm zumindest in diesem Punkt. Das erneute Klingeln meines Handys reißt mich aus meinen Gedanken, doch als ich es aus meiner Handtasche hole, erscheint nicht die Nummer meines Vaters auf dem Display, sondern die von Reid. Ich drücke ihn weg. Kurze Zeit später kündigt ein Summen den Eingang einer Textnachricht von Reid an. Bitte rede mit mir. Ich kann dir alles erklären. Ich will das mit uns nicht aufgeben. Ich brauche dich.

Mein Herz zieht sich zusammen. Ich kann dir alles erklären. Gerade weiß ich nicht einmal mehr, was »das mit uns« ist – und was das »Ich brauche dich« angeht, das ist mir schon klar. Schließlich bin ich ja Teil seiner Geschäfte. Wieder klingelt mein Handy, und wieder ist er es. Ich würde mich so gerne davon trösten lassen, dass er wenigstens versucht, mich zu erreichen, aber ich weiß nicht mehr, was er ehrlich meint und was nur vorgetäuscht ist. Müde gehe ich zur Couch hinüber und setze mich hin. Allein hier zu Hause zu sein fühlt sich seltsam an. Wie kann das sein? Ich liebe diese Wohnung. Das hier ist mein Zuhause, aber offensichtlich hatte ich mich schon gedanklich darauf eingestellt, bei ihm zu übernachten, vielleicht mehr, als mir überhaupt bewusst war. Erneut geht eine Nachricht auf meinem Handy ein, und ich lege mich auf den Rücken und lese sie. Ich stehe vor deinem Haus. Komm runter. Lass mich zu dir raufkommen.

Meine Antwort besteht nur aus einem Wort: Nein.

In diesem Moment kommt mir der Gedanke, dass Reid genug Geld und andere Mittel hat, um am Sicherheitsdienst vorbeizukommen, und als mein Handy ein weiteres Mal klingelt, gehe ich dran.

»Verschwinde«, sage ich tonlos.

»Nein«, entgegnet er mit kratzender Stimme. »Ich werde nicht aus deinem Leben verschwinden. Lass mich raufkommen.«

»Nein.«

»Carrie, wir müssen reden.«

»Du hast doch schon alles gesagt, als du so nett mit deinem Vater übers Geschäft geplaudert hast. Mit deinem Vater, der offensichtlich was gegen mich hat, wovon ich keine Ahnung hatte.«

»Ich wollte es dir heute Abend erzählen.«

»Nachdem du mir deine Familie vorgestellt hast und du dir sicher sein konntest, dass ich nicht abhaue, weil das unprofessionell gewesen wäre?« Meine Gefühle drohen, aus mir herauszubrechen, und ich kneife die Augen zusammen.

»So war das nicht. Bitte. Ich muss dich sehen. Ich will, dass du mir in die Augen siehst, damit du weißt, dass ich nicht lüge.«

»Natürlich willst du, dass ich dir in die Augen sehe. Damit du mich wieder einlullen kannst und ich nach deiner Pfeife tanze. Andererseits ist das ja durchaus passend, schließlich bin ich eine Schlange. Genau wie mein Vater. Und wie wir ja beide wissen, gibt es da auch noch einige Dinge, die du mir über ihn erzählen könntest, aber ich schätze, das wäre eher hinderlich für dich.«

»Ich werde hier nicht weggehen. Ich bleibe so lange hier, bis du runterkommst.«

»Dann solltest du schon mal den Wachdienst bitten, dir Bettzeug zur Verfügung zu stellen.« Damit lege ich auf, doch er ruft sofort wieder an. Ich versuche noch einmal, meinen Vater zu erreichen.

Diesmal geht er tatsächlich dran. »Carrie«, meldet er sich. »Was ist denn los? Ich hab deine Nachricht eben erst gehört. Ich wollte dich gerade anrufen.«

Er lügt. Jetzt, da ich von der Sache mit Reids Vater weiß, fällt es mir so richtig auf. Wenn er lügt, wird seine Stimme höher, was ich bisher immer ignoriert habe.

»Du und Mike Maxwell, ihr seid verfeindet.«

»Das trifft es tatsächlich sehr genau.«

»Und du hältst es nicht für nötig, mir diese wichtige Info mitzuteilen?«, entgegne ich verärgert.

»Wir sind schon seit Jahren verfeindet, und das hat dich nie betroffen.«

»Aber jetzt arbeite ich mit seinem Sohn zusammen.«

»Und ich hab dir gesagt, dass das Probleme gibt. Ich hab dir gesagt, du sollst gehen.«

»Und du hast genau gewusst, dass ich das nicht tun würde. Vielleicht hättest du etwas konkreter sein sollen. Er hasst dich. Wieso?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

Ich muss an Elijah denken, daran, welche Auswirkungen persönlicher Hass aufs Geschäft haben kann.

»Du hast versucht, dir sein Unternehmen unter den Nagel zu reißen. Du wolltest ihm schaden.«

»Klar wollte ich das. Und ich hab jede sich bietende Chance dazu genutzt.«

»Schließt das auch seine Familie mit ein?«

»Carrie …«

»Also ja. Ich arbeite mit seinem Sohn zusammen, verdammt noch mal. Du hättest mir sagen müssen, dass du versucht hast, ihm zu schaden.«

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst hierherkommen. Setz dich in den nächsten Flieger und komm.«

»Nein. Noch habe ich die Chance, unsere Firma zu retten, und die werde ich auch nutzen.«

»Das wird er nicht zulassen.«

»Wir haben einen Vertrag abgeschlossen«, entgegne ich. »Er kann es nicht verhindern. Er ist juristisch gebunden.«

»Er hat garantiert irgendein Schlupfloch in den Vertrag eingebaut, irgendeine Möglichkeit, dich vom Platz zu fegen, sobald er das gekriegt hat, was immer er haben will. Darauf kannst du Gift nehmen.«

»Da unterschätzt du meine juristischen Kenntnisse. Und außerdem bin ich eine Kämpferin. Ich kann mich gegen jeden behaupten.«

»Darum geht es mir aber nicht, sondern um dein moralisches Gewissen. Du hast viel zu viele Skrupel, um dich gegen einen Maxwell durchzusetzen.«

»Und du nicht, oder wie verstehe ich das? Was für ein Mensch bist du denn?«

»Einer, der sich auch gegen die hinterhältigsten Gegner behaupten kann.«

Also ein Mensch, den ich nicht kenne, denke ich. »Was verschweigst du mir noch?«, will ich wissen.

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Es gibt einige Leute, die erst mit mir zusammenarbeiten wollen, seitdem du nicht mehr in der Firma bist.«

»Jeder macht sich doch im Laufe seines Lebens Feinde.«

»Jeder? Ich wüsste nicht, dass ich welche hätte.«

»Tja, ich hab welche.«

»Und ich damit auch, offensichtlich. Kann ich vielleicht eine Liste haben, oder ist die zu lang?«

»Jetzt gehst du zu weit.«

Mein Handy summt, weil jemand – vermutlich Reid – versucht, mich anzurufen, doch das ignoriere ich.

»Was genau machst du in Montana?«

»Geld verdienen. Das weißt du doch.«

»Ja, aber auf meine Kosten«, gebe ich zurück. »Ich habe so viel von meinem Geld in deine verdammten Investitionen gesteckt, und ich bin es leid, nicht zu wissen, was dabei rauskommt. Ich hab dir blind vertraut, aber damit ist jetzt Schluss. Ich hab dich wirklich lieb, Dad, aber anscheinend kenne ich dich gar nicht wirklich. Ist Mom wegen deiner Skrupellosigkeit abgehauen?«

»Das war unter der Gürtellinie. Sie ist abgehauen. Sie hat dich verlassen, Carrie.«

»Ach, stimmt, das war ja meine Schuld.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Ich will mehr über deine Fehde mit den Maxwells wissen.«

»Ich werde dir aber nicht mehr erzählen.«

»Die haben unsere Firma übernommen, verdammt.«

»Dann kündige, Carrie.«

»Die Firma ist mein Leben.«

»Ich werde für dich sorgen.«

»Ich kann allein für mich sorgen. Und ich muss jetzt Schluss machen.«

»Warte noch. Ich will mit dir reden.«

»Ach, jetzt auf einmal? Bist du dir sicher? Du gehst mir doch sonst immer aus dem Weg.«

»Was ist passiert? Denn irgendetwas ist ja offensichtlich passiert.«

»Ich habe Mike Maxwell kennengelernt. Und ich warte schon darauf, dich kennenzulernen. Dein wahres Ich, meine ich. Wenn das hier vorbei ist und ich die Firma zurückhabe, dann reden wir.«

»Du bauschst diese Sache unnötig auf.«

»Wir haben die Firma verloren, weil dein Feind sie sich unter den Nagel reißen wollte. Ich bausche hier überhaupt nichts auf. Und jetzt muss ich Schluss machen.«

»Carrie …«

»Ich hab schon zu viel gesagt, was ich sicher nachher bereuen werde, auch wenn du es verdient hast. Aber bring mich nicht dazu, noch mehr zu sagen. Ich bin gerade nicht in der Lage, mich zu beherrschen. Wir reden demnächst, falls du denn mal drangehst, wenn ich dich anrufe.« Mit diesen Worten beende ich unser Gespräch.

Sofort summt mein Handy, und ich lese die Nachricht, die Reid mir geschickt hat. Ich hab mit diesem Krieg nichts zu tun. Ich war auch nie hinter deiner Firma her, um sie in den Ruin zu treiben. Die Anteilseigner hätten deinen Vater so oder so fertiggemacht.

Ich antworte ihm nicht. Ich weiß jetzt, dass er sehr wohl ein Teil dieses Krieges ist. Mein Vater hat versucht, ihm und seiner Familie zu schaden. Meine Gedanken kehren zur Party zurück, zu den Vorfällen in der Küche, und ich kneife die Augen zu, um die Tränen zurückzuhalten.